Cornelius Bohl

Die Inkarnation

Menschwerdung Gottes

In seiner Menschwerdung wurde Gott einer von uns. Gott sagt Ja zu mir, so wie ich bin. Bild von Matthias Hübner / pixelio.de
In seiner Menschwerdung wurde Gott einer von uns. Gott sagt Ja zu mir, so wie ich bin. Bild von Matthias Hübner / pixelio.de

Anrührend, diese beiden Alten, Philemon und Baucis aus der antiken Mythologie: Als Einzige gewähren sie den unerkannten Göttern in Menschengestalt Gastfreundschaft und werden dafür göttlich belohnt. Oder Eichendorffs romantisches Gefühl, als hätt‘ der Himmel die Erde still geküsst, wobei seiner Seele Flügel wachsen, die ihn nach Hause tragen. Auch die „demütige Bewunderung“ Einsteins, eines „religiös Ungläubigen“, für eine sich in der Welt offenbarende überlegene Vernunft können viele Menschen nachempfinden.

Diese Beispiele sind Chiffren für etwas, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Menschen zieht, halb Erfahrung und halb Sehnsucht: Die erfahrbare Realität übersteigt sich selbst. Unten und Oben fallen in eins, tief in Welt und Mensch steckt Göttliches. Die christliche Rede von der Menschwerdung Gottes fügt sich da ein und ist doch etwas anderes: Gott blitzt nicht nur auf in menschlichen Erfahrungen. Er verbirgt sich nicht nur als tragendes Geheimnis in allen Dingen. Er wird vielmehr selbst Mensch – nicht zum Schein, sondern geschichtlich konkret in Jesus von Nazareth. Diese Überzeugung unterscheidet das Christentum von allen anderen Religionen. Der Begriff der Inkarnation (vgl. Joh 1,14) sorgt dafür, dass die Provokation ihre Anstößigkeit nicht verliert: Gott hat „das wirkliche Fleisch unserer Menschlichkeit und Gebrechlichkeit angenommen“, so Franz von Assisi (2 Gl 4). Er wird schwach, begrenzt, vergänglich. Krippe und Kreuz gehören zusammen: Der menschgewordene Gott friert, hat Hunger, leidet Schmerzen, stirbt.

Nirgendwo fallen Mystik und Politik so zusammen wie im Glauben an die Menschwerdung Gottes. Frühe Kirchenväter sprechen von einem heiligen Tausch: Gott wurde Mensch, damit der Mensch göttlich werde. Oder sie verwenden das dynamische Bild von Abstieg und Aufstieg: Gott kommt herunter auf die Erde, wird Mensch und nimmt den Menschen mit sich hinauf in den „Himmel“. Das ist Mystik. Und das ist Politik. Denn nicht der Mensch an sich“ ist von Gott angenommen und darum unendlich wertvoll, sondern jeder Einzelne. Deshalb wird der Glaube an die Menschwerdung Gottes unseren Umgang mit Flüchtlingen und gesellschaftlichen Minderheiten bestimmen, er drängt zum Schutz des Lebens und zur Bewahrung der Schöpfung für kommende Generationen. Der Glaube an die Inkarnation als ein leidenschaftliches Ja zum Leib und zur Materie, zu Welt und Geschichte verbietet jede Form einer rein innerlichen, weltlosen, leibfeindlichen oder menschenfernen Spiritualität.

„Was nicht angenommen wurde, wird auch nicht erlöst“, wissen frühe Theologen im Blick auf die Inkarnation. Damit wird Weihnachten auch zum Anspruch an jeden ganz persönlich: Gott sagt Ja zu mir, so wie ich bin. Das zu glauben, ist oft unendlich schwer. Aber nur, wenn ich mich selbst annehme, kann ich Gott erfahren.
In seiner Menschwerdung wurde Gott einer von uns. Zugleich aber zeigt er damit auch, was der Mensch eigentlich sein kann: Ort Gottes, Raum seiner Gegenwart. Die einmalige Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist geschehen. Unsere Menschwerdung dagegen bleibt eine nie abgeschlossene Aufgabe.

Erstveröffentlichung Zeitschrift, „Franziskaner“ Winter 2015


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