Zwei junge Männer beginnen am 15. August 1989 auf dem Kerbschen Berg im Eichsfeld das Noviziat, ein Berliner und ein Randberliner. Es war ein Ort fernab jeglicher Zivilisation außerhalb des kleinen Städtchens Dingelstädt. Pralles Leben sieht anders aus, muss es im Noviziat ja auch nicht. Was alles geschehen würde, war ganz und gar nicht abzusehen.
Im Herbst 1989 rumorte es im ganzen Land. Die Menschen wurden immer unruhiger und unzufriedener. Die Kunde drang auch in das Franziskanerkloster auf dem Kerbschen Berg. Eine junge Krankenschwester aus Leipzig, die bei uns zu Besuch im Kloster war, erzählte, dass sie geschult wurden, auch Schussverletzungen zu versorgen. Aus der Franziskanischen Gemeinschaft verschwanden Menschen, die sich im „Neuen Forum“ engagierten. Niemand wusste wohin. „Wir müssen was tun!“, war die einhellige Meinung. „Wir müssen das öffentlich machen!“
Am Fest des hl. Franziskus, 4. Oktober 89, beschlossen wir mit den Montagsgottesdiensten zu beginnen. Plakate wurden abgezogen, Kopierer gab es nicht, und ins gesamte Eichsfeld verschickt. Es war eine heikle Sache. Wir bekamen Besuch vom „Sekretariat für Kirchenfragen“. „Was soll das heute Abend hier werden?“ P. Rudolph erklärte dem Herrn, dass wir die Hl. Messe feiern werden wie seit 10 Jahren. „Was passiert, wenn die öffentliche Ordnung gestört wird?“ Ob er uns drohen wolle, war die Antwort. „Es ist nur ein Zeichen des guten Willens. Es könnte auch jemand von den Sicherheitskräften hier sitzen.“
Egal, am 9. Oktober zum ersten „Sühne- und Bußgottesdienst“ auf dem Kerbschen Berg war die Klosterkirche so voll wie an einem Sonntag. Beim zweiten Montag gab es keinen Stehplatz mehr und in der dritten Woche übertrugen wir den Gottesdienst auf den Vorplatz. Alles war auf den Beinen. Die Menschen bekamen eine Kerze in die Hand. Rudolph ermunterte die Gläubigen, das Licht in die Stadt und in ihre Häuser zu tragen. Das taten sie dann auch auf dem Weg vom Kerbschen Berg in die Stadt. Es wurde aber keine Demonstration, sondern eine Prozession, damit kannten sich die Eichsfelder besser aus. Sie zogen also los mit „Großer Gott wir loben dich“. Bald aber schon kamen die bekannten Rufe: „Wir sind das Volk!“ und „Reisefreiheit für alle!“ Angekommen vor der Stadtkirche mitten in der Stadt, das Rathaus nur daneben, gab es die wöchentliche Kundgebung. Augenzeugen berichteten, dass hinter dem Kloster sogar ein Wasserwerfer bereitstand.
Unsere Aufgabe als Novizen war dann dienstags die Kirche von Wachsflecken zu befreien. Wir taten es gern. Hier ist ja doch was los. Im Klostergarten erfuhr ich dann: Erich ist zurückgetreten. Jetzt macht es Egon Krenz. Oh je, meine Mutter hatte immer gesagt: „Wenn Egon übernimmt, dann Gnade uns Gott!“ Sie starb zwei Wochen vor meiner Einkleidung. Die Zeitung zu lesen war Zeitverschwendung. Was drin stand war schon überholt. Bei einer vom Bürgermeister einberufenen Gemeindeversammlung, sie wollten hören, wo der Schuh drückt, kam es zu Tumulten. „Wir haben das Eichsfeld erst zu einem blühenden Garten gemacht!“ rief der Parteisekretär in die Menge. „Du Eierkopp, der einzige blühende Garten, den es hier gibt, ist der Kerbsche Berg, wo die Franziskanern sind!“, na ja.
Fast wurde es einem schwindelig, so rasant entwickelte sich alles. Am Abend des 9. November dann bei den Nachrichten hörten wir von der Maueröffnung und sahen die Bilder aus Berlin, wahnsinnig. Br. Winfried, mein Mitnovize wortwörtlich: „So ´ne Scheiße! In Berlin ist die Hölle los und wir sitzen hier in so einem Nest!“ Gerne wären wir mitten drin gewesen. Zwei Tage später, unser Novizenmeister konnte uns nicht mehr halten, durften wir uns mit dem Fahrrad auf den Weg machen zur Grenze, die nur 30 Kilometer entfernt war. Ein Schild hätte uns stoppen sollen „Sperrgebiet – Weiterfahren verboten“ rief ich Winfried zu: „Tritt in die Pedalen, es geht bergab!“ Wir mussten in Teistungen in den Bus einsteigen – Grenzübergang nur für Autos. In Duderstadt besuchten wir den Probst, der uns spontan zum Mittag einlud und eine Kirchenführung gab. Wir gingen zu den Ursulinen und holten uns das Begrüßungsgeld, 100 Westmark ab. Die gaben wir aber nicht aus, sondern lieferten sie brav im Kloster ab.
An viel des täglichen Noviziatsunterrichtes kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nichts von der wöchentlichen Lateinstunde. Doch, wir haben viel gesungen. Aber die Ereignisse der Friedlichen Revolution von 1989 sind mir noch sehr lebhaft in Erinnerung.
Zu Weihnachten kündigten sich viele Besucher aus dem Westen an. Die täglichen 25 DM „Eintrittsgeld“ musste nun niemand mehr bezahlen. So organisierten wir einen großen Empfang nach der Christmette für alle. Das stundenlange Geschirrspühlen war wieder Aufgabe der jungen Brüder. Gerne doch.
In der Pappelallee in Berlin fand traditionell ein Franziskanertreffen um den 6. Januar statt. Auch wir Novizen durften mit. „Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!“ Natürlich wollten wir die Gelegenheit nutzen, nach Westberlin zu gehen. Am Brandenburger Tor standen wir in der langen Reihe. Als wir dran waren, fehlte uns der Stempel im Personalausweis. „Ohne den komm´se hier nicht durch!“ Der war auf die Schnelle auch nirgendwo zu bekommen. Darauf riss Winfried aus Wut sein Dokument auseinander, warf es auf die Straße und sagte: Sch.. DDR!“ Der Traum von Westberlin für zwei Ostberliner geplatzt.
Wir bekamen eine Einladung zur Novizenwerkwoche nach Hofheim/ Taunus. Was freute ich mich, andere junge Ordensbrüder kennenzulernen. Als es soweit war, musste Winfried zuhause bleiben, er hatte kein gültiges Reisedokument. Ich traf junge Franziskaner, Kapuziner, Minoriten, Karmeliten und Dominikaner. Eine ganz neue Welt, bunt und vielfältig, eine großartige Erfahrung. Kirche wurde größer. Im Laufe unseres Jahres gab es dann noch viele Ausflüge. Wir besuchen die Kapuziner in Bebra und die Gemeinschaft in Imshausen, eine zweite Novizenwerkwoche in Schwarzenberg bei den Minoriten, wo ich viele Bekannte wieder traf, wo wir dann vollständig auftraten.
Wenn das Noviziat das Fundament für ein ganzes Ordensleben ist, dann hat sich mir auf dem Kerbschen Berg im Jahr 1989/90 eine ganz neue und spannende Welt geöffnet. „Willst du die Welt sehen, dann musst du ins Kloster gehen!“ Das Ganze ist jetzt 30 Jahre her. Daran erinnere ich mich besonders heute am 9 Oktober 2010 in Halle an der Saale.