Im Gegensatz zum Namen „Wächter der Mauern“, den die israelische Seite ihrer gegenwärtigen Militäroperation gab, wiederholt der Lateinische Patriarch von Jerusalem Erzbischof Pierbattista Pizzaballa ofm, dass die Kirche weiterhin alle Parteien aufruft, „Brücken bauen“! In diesem Interview äußert er sich zur aktuellen Situation.
Denken Sie, dass die jetzige Eskalation der Gewalt andauern wird?
Wir leben in einem Land, in dem mehr Unvorhersehbares geschieht als Vorhersehbares. Alles wird davon abhängen, welche Überlegungen beide Parteien anstellen und welche Entscheidungen sie treffen werden. In Anbetracht der jetzigen Entwicklung denke ich, dass es viel mehr Gewalt als sonst gibt und dass sie Wunden verursachen wird, die meines Erachtens längere Zeit brauchen werden, um zu heilen. Die Situation, die wir seit ein paar Tagen erleben, insbesondere in gemischten arabisch-jüdischen Städten, ist das Ergebnis einer menschenverachtenden Politik, die von rechten Bewegungen befeuert wird und seit Jahren andauert. Wenn die Verantwortlichen in Politik und Religion nicht bald ihre Haltung ändern, wird die Situation noch schlimmer werden. Verachtung kann nur zu Gewalt führen.
Was trifft Sie als Lateinischer Patriarch von Jerusalem am meisten an der israelischen Operation „Wächter der Mauern“?
Was mir am meisten Unbehagen bereitet, selbstverständlich abgesehen vom Krieg selbst, ist der offensichtliche Wille, „die Mauern zu bewachen“ (in Anspielung auf den Namen der israelischen Operation „Wächter der Mauern“, die am 10. Mai begann, Anm. d. Red.). Wir hingegen werden nicht müde, an alle Beteiligten zu appellieren, „Brücken (zu) bauen“! Leider bedeutet das, dass wir von einem dauerhaften Frieden noch weit entfernt sind, denn nur ein Waffenstillstand oder ein politischer Schwebezustand reicht nicht. Aber wir geben nicht auf. In der israelischen und in der arabischen Gesellschaft gibt es viele, mit denen wir Brücken bauen können. Und wir werden es schaffen!
Vorgestern haben wir die Pfarrgemeinde in Gaza gefragt. Wie reagieren die anderen Christen in Israel und Palästina auf diesen Gewaltausbruch? Was sagen sie Ihnen, was können Sie tun?
Sie haben ununterbrochen Angst, sie fühlen sich unsicher, sie fürchten sich vor einer Zukunft, die sie sich immer weniger vorstellen können: einer Zukunft ohne Sicherheit! Braucht es noch mehr, um den Auswanderungswunsch vieler unserer Gläubigen zu verstehen? Die Kirche hat immer Hilfe geleistet und möchte es weiterhin tun, aber der Bedarf übersteigt bei weitem unsere Möglichkeiten. Das Ausbleiben der Touristen und der Pilger (wegen der Pandemie, Anm. d. Red.) hat die allgemeine wirtschaftliche Notlage noch verstärkt und auch die Schwierigkeiten der Familien. Diese haben Mühe, die finanzielle Sicherheit zu finden, die sie für ein stabiles Leben benötigen. Der Frust ist groß, das möchte ich nicht leugnen.
Bedauern Sie, dass die internationale Gemeinschaft nicht klar genug Stellung zu den Zwangsräumungen in Sheikh Jarrah genommen hat?
Ich denke, dass die internationale Gemeinschaft zurzeit andere Prioritäten hat als diese israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen. Die Coronapandemie, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen, die überall auf der Welt zunehmen, all das lässt der internationalen Gemeinschaft wenig Zeit und Lust, sich in den Nahostkonflikt einzumischen.
Ich möchte aber hinzufügen, dass ich nie verstanden habe, worin die internationale Gemeinschaft überhaupt besteht. Sicher ist, dass ausländische Staaten auf jeden Fall zu Lösungen beitragen könnten, aber sie können nicht die Akteure vor Ort ersetzen. Solange die Palästinenser und Israelis nicht miteinander sprechen, ist niemand imstande, irgend etwas zu tun, damit sich die Lage verbessert.
Gibt es im Viertel Sheikh Jarrah, einem der Ausgangspunkte der gegenwärtigen Krise, Häuser, die von Christen bewohnt und von der Zwangsräumung bedroht sind?
Nein, ich wüsste nicht, dass das der Fall ist.
Gab es in letzter Zeit Häuser von Christen, die von den israelischen Behörden beschlagnahmt wurden?
Bei den Zwangsräumungen geht es hauptsächlich um den Besitzanspruch auf Grundstücke, vor allem in den sogenannten C-Gebieten (unter voller israelischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung, Anm. d. Red.). Aber es gibt auch Fälle, in denen christliche Familien, die auf ihren eigenen Grundstücken in solchen Gebieten Häuser bauten, nach Ansicht des israelischen Staates gesetzeswidrig gehandelt haben. Es kann passieren, dass diese Häuser von den israelischen Behörden abgerissen werden.