09.07.2024 Pirmin Spiegel

Aufruf zu größerer Gerechtigkeit

Plädoyer für eine dienende Kirche

»… er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.« (Phil 2,7) Gott selbst ist in Jesus mit den Menschen in ihren Leiden solidarisch geworden. Diese Botschaft bestimmt das Leben und die Verkündigung Jesu. Sie betrifft und unterstreicht die allen Menschen gemeinsame, unverrückbare Würde. Kirche kann gar nicht anders, als dienende Kirche zu sein.

»Wenn einer das Evangelium liest, findet er eine ganz klare Ausrichtung: nicht so sehr die reichen Freunde und Nachbarn, sondern vor allem die Armen und die Kranken, diejenigen, die häufig verachtet und vergessen werden, die es dir nicht vergelten können« (Lk 14,14).

[…] Heute und immer gilt: ›Die Armen sind die ersten Adressaten des Evangeliums‹. […] Ohne Umschweife ist zu sagen, dass […] ein untrennbares Band zwischen unserem Glauben und den Armen besteht. Lassen wir die Armen nie allein!« (EG 48)

Das Kernthema Barmherzigkeit, das im Leben von Papst Franziskus eine wichtige Rolle spielt, ist die umfassende Antwort Gottes an die Menschheit und Synonym für die Treue seiner Liebe.

Jesus hat die Armen und Geringsten nicht seliggepriesen, weil sie in besonderer Weise »heilig« oder »unschuldig« waren, sondern weil der Anspruch auf Wahrheit damit verbunden ist, dem Leiden, der Ungleichheit, der Ausbeutung und der Not eine prophetische Stimme zu geben. Die prophetische Stimme, die Ungleichheit wahrnimmt und denunziert, ist immer auch ein Aufruf, die Ordnung der Welt und das eigene Leben in Ordnung zu bringen. Was wir alle gemeinsam lernen können und müssen, ist eine »glückliche Genügsamkeit« (vgl. LS 224).

Mit zwei Erinnerungen will ich diese Spur aufnehmen. Sie sind Wurzeln, die noch heute Hoffnung auf eine andere so notwendige Zukunft eröffnen.

 

Lernerfahrungen

Kazike Kawore Parakaná, Volk der Parakanã im indigenen Schutzgebiet TI APYTEREWA, Pará, Brasilien. Bild von Florian Kopp/Misereor

Bei der ersten Erinnerung geht es um die Gründung des Indigenenmissionsrats Brasiliens CIMI« (»Conselho Indigenista Missionário) 1972, im Nachgang des Zweiten Vatikanischen Konzils und Medellíns, wo die II. Generalversammlung des lateinamerikanischen Bischofsrates 1968 stattfand. In diesem historischen Kontext der Entkolonialisierung, des Dialogs und der Befreiung stellten sich eine Reihe von Fragen zur damaligen Missionspraxis gegenüber indigenen Völkern: Wären nicht auch die indigenen Völker dieses Kontinents privilegierte Partner in einem interreligiösen Dialog? Sind sie nicht auch an Religionsfreiheit, an der Befreiung von allen Formen des Kolonialismus, an der Achtung ihrer Kultur und letztlich an ihrer Selbstbestimmung interessiert?

Im selben Jahr – 1972 – wurden die ersten 1.250 Kilometer der Transamazonischen Schnellstraße (BR-230) eingeweiht, deren Verlauf 29 indigene Gebiete tödlich verletzte. Im brasilianischen Fernsehen wurde das Ereignis zum ersten Mal in Farbe und mit düsteren, zensierten Bildern übertragen und als einer der Eckpfeiler des brasilianischen Wunders gefeiert.

Als Papst Johannes XXIII. nach der Bedeutung des Konzils gefragt wurde, öffnete er in einer symbolischen Geste die Fenster seiner Wohnung. Die Entkolonialisierung sollte eine neue Ära einleiten. CIMI öffnete die Fenster und Türen einer postkolonial missionarisch-pastoralen Organisation und sandte dadurch neue Fragen an die (Welt)-Kirche: Wie sollte man mit den kulturell Andersartigen und geografisch Entfernten arbeiten und kommunizieren? Soll die Indigenen-Pastoral indigene Völker auf ihre Integration in die westliche Zivilisation und die nationale Gesellschaft vorbereiten? Würden damit nicht ihre Aktivitäten und Lebensweisen auf den Markt, die Rentabilität und den Gewinn ausgerichtet? Dann würde die Mission die Selbstbestimmung verweigern und ihre kolonialen Praktiken der kulturellen Zerstörung und politischen Beherrschung fortsetzen.

Dienende Kirche, wach und aufmerksam, zuhörend und offen, lernend mit Menschen vor Ort, in ihren Kontexten und ihrer Geschichte – eine wichtige Lernerfahrung für mich.

 

Lebensnähe

Treffen mit Bewohnern des Stadtteils Bairro Pequiá und Aktivisten von Justiça nos Trilhos (im Bild: Antonia Flavia Silva, 29, comunicadora Justiça nos Trilhos), Açailândia, Maranhão, Brasilien. Bild von Florian Kopp/Misereor

Von einer zweiten Erfahrung will ich erzählen, die bis heute in mir nachhallt. Das Echo kommt von den 1990er-Jahren aus der Durchführung und Vorbereitung des 9. Interekklesialen Treffens der Basisgemeinden, 1997. Fast 30 Jahre ist es her, dass sich in São Luís in Nordostbrasilien etwa 3.000 Personen versammelten, um sich gemeinsam über Aufgabe und Wirken der Kirche inmitten der Gesellschaft Gedanken zu machen. Kirchliche Basisgemeinden sahen wir (damals) nicht als eine neue Art, Kirche zu sein, sondern als einen neuen Weg für die ganze Kirche.

Zu Beginn fehlten uns die Mittel, um ein Treffen dieser Größenordnung zu organisieren. Doch dies wurde mit viel Kreativität und kollektivem Engagement überwunden. Die Vorbereitungen wurden Teil des Prozesses. Während der vierjährigen Vorlaufzeit haben Gemeinden aus allen zwölf Diözesen des Bundesstaats Maranhão initiativ etwas beigetragen: Gärten angelegt, Events für Spendeneinnahmen organisiert, Hühner, Schweine, Ziegen und andere Tiere großgezogen und im Hinblick auf das Treffen verkauft.

Der Vorbereitungsprozess war nicht nur von Harmonie geprägt. Dank Dialogs kam es zu Änderungen von Haltungen und zu einer integralen Umstellung auf Synodalität: die Erfahrung einer kreisförmigen, gemeinschaftlichen Kirche, in der alle in gleicher Würde und mit allen Unterschieden respektiert werden.

Was ich damals – durch die Teilnahme – verstanden und erlebt habe, ist in den Papieren und Berichten wie folgt zusammengefasst: Die Methodik ist auch der Inhalt.

Genau in diesem Satz ist ein großer Teil des Auftrags und der pastoralen Dimension unserer Kirche zu lesen. Seelsorge zu leben, an der Seite der Menschen präsent zu sein, in ihre Perspektiven und Lebenswelten einzutauchen, ist Seelsorge selbst. Die Methodik ist auch der Inhalt – dabei geht es nicht darum, sich in mögliche methodische Optionen zu vertiefen oder theoretische Diskussionen dazu zu führen, sondern es ging und geht darum, die faktische Lebensnähe des Inhalts so zu vermitteln, dass sie Teil der Logistik, Teil der gemeinsamen Lebensrealität wird.

 

Die Armen zuerst

Sich in die Welt der Menschen hineinzuversetzen, die physisch, materiell oder ideell an den Rand gedrängt werden, kann uns auf dem Weg zu einer gerechteren Welt für Alle leiten. Niemanden zurücklassen, der Anspruch der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, meint genau das. Daraus ergeben sich Fragen: Wen übersehen wir? Wie kann es sein, dass sich Regierungen trotz eines globalisierten Wirtschaftsgeflechts und weltumspannender Lieferketten verstärkt nationalstaatlicher Parolen bedienen? Wie kann es sein, dass die spürbaren Folgen der Klimakrise keine angemessene Reaktion und Bereitschaft für eine gesamtgesellschaftliche sozialökologische Transformation bringen?

»Es ist an der Zeit, die Richtung zu ändern. Wir müssen unseren Fokus von Profit auf Wohlstand, von Wirtschaftswachstum auf Nachhaltigkeit und von Materialität auf Menschenwürde verlagern«, sagte Kardinal Michael Czerny, als ihm im Januar 2024 in Aachen der Klaus-Hemmerle-Preis verliehen wurde. Integrale Entwicklung und Inklusion heißen die Ansätze, die auf den Fahnen einer zukunftsfähigen Entwicklungszusammenarbeit stehen. Und betont füge ich hinzu: Und die Armen zuerst.


Der Autor Pirmin Spiegel war von April 2012 bis Juni 2024 Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor in Aachen. Der Text entstand im Austausch mit Prof. Paulo Suess, heute theologischer Berater des brasilianischen Indigenenmissionsrats CIMI, und Lucineth C. Machado, Koordinatorin und Inspiratorin des 9. Interekklesialen Treffens der Kirchlichen Basisgemeinden in São Luís, Nordostbrasilien.

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Franziskaner Mission 2/2024


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