
Da ist sie wieder, die sanfte, beruhigend wirkende Stimme von Jan Frerichs. Carola Baden (Name geändert) sitzt entspannt auf dem Boden und hört der geführten Meditation zu. Diese ist ein Baustein im Online-Kurs „Raunächte“, die der ehemalige Franziskaner Jan Frerichs seit einigen Jahren „zwischen den Jahren“ in seiner Franziskanischen Lebensschule anbietet. Nachdem die letzten Klänge der musikalischen Untermalung verklungen sind, steht die 57-Jährige auf und entzündet eine Kerze. „Ich verbinde mich dadurch gedanklich mit all den anderen, die jetzt ebenfalls zu Hause diese Zeit für sich gestalten. Es ist in gewisser Weise das Lagerfeuer, um das wir sitzen“, erklärt sie lachend.
Die bereits zuvor aufgebrühte Tasse Tee auf dem Schreibtisch sorgt zusätzlich für Gemütlichkeit. Carola rückt das Journal zurecht, das sie als Teilnehmerin der Raunächte zugesandt bekam, und beginnt mit der Schreibübung. Salböl und etwas zum Räuchern enthielt ihr Päckchen von „barfuß & wild“ ebenfalls. Die Rheinländerin ist nicht zum ersten Mal bei den Raunächten dabei und hat auch schon andere Kursangebote der Online-Plattform von Bruder Jan wahrgenommen. Der Teilnehmerkreis wächst stetig, bei der Live-Online-Session zum Abschluss der Raunächte waren beim letzten Mal weit mehr als 400 Menschen dabei.
„Das ist nichts Esoterisches, sondern etwas Althergebrachtes“
„Das ist nichts Esoterisches, sondern etwas Althergebrachtes“, erklärt sie. „Die zwölf Nächte zwischen Heiligabend und Dreikönig waren schon für unsere Vorfahren eine besondere Zeit. Mit dem Online-Kurs gestalte ich sie als kleine Auszeit für mich. Ich genieße es jedes Mal wieder, wenn ich mir bewusst die Zeit am Morgen nehme und beim Laufen im Wald den Tagesimpuls anhöre oder am Abend das Ritual mit der Schreibübung mache.“ Der privat und beruflich sehr eingespannten Frau fällt die Teilnahme leichter, weil sie von zu Hause aus dabei sein kann. „Ich bin frei, den Ablauf so zu gestalten, wie er zu mir passt. Überhaupt empfinde ich das ganze Setting als sehr frei, erwachsen und wenig bevormundend.“
Alleine fühlt sie sich dennoch nicht, sondern verbunden mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die Plattform barfuss-und-wild.de. Sie nutzt die internen Chatgruppen zum Austausch und überlegt sogar, sich mit einigen der Teilnehmenden, die nicht zu weit entfernt leben, in einer Regionalgruppe zutreffen.
„Wilde Kirche“ – ein Raum für spirituelles Wachstum
Die Franziskanische Lebensschule „barfuß & wild“, die die Raunächte anbietet, wurde von Jan Frerichs gegründet. Im kommenden Jahr feiert das sehr professionell auf einer Internetplattform organisierte Angebot sein zehnjähriges Bestehen. Heute gehören neben Bruder Jan sieben weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Team. Der Theologe begleitet schon lange Menschen in geistlichen Auszeiten und Übergangsriten. Früher war er Franziskaner, trat aber nach fünf Jahren aus. Dem Franziskanischen jedoch blieb er treu und gehört heute als Familienvater dem Dritten Orden der franziskanischen Familie (OFS) an. In dieser schon zu Franziskus‘ Zeiten entstandenen Gemeinschaft haben sich „Weltleute“ zu einem christlichen Leben in Orientierung an Franziskus und Klara verpflichtet. Nach seiner Zeit im ersten Orden arbeitete Jan Frerichs u. a. beim Kölner Domradio und beim Deutschlandfunk, bevor er eine Festanstellung beim ZDF annahm.
Aber trotz dieser erfolgreichen zweiten Karriere war er nicht glücklich, wusste, dass etwas fehlte, aber nicht was. Noch während seiner Zeit im Orden – so erzählt er in seinem Buch „Wilde Kirche“ – hatte er die Schöpfung als Ort der Gottesbegegnung kennengelernt. Eine geplante Pilgertour ins Heilige Land, die er als junger Ordensmann allein und ohne Geld unternehmen will, endet durch widrige Umstände in Italien. Während einer lange dauernden Regenphase macht er Halt in einem Franziskanerkloster. Dort lehrt ihn ein Mitbruder beten, aber ganz anders, als er es gewohnt ist. Auf die Klage, sich in einer geistlichen Leere zu befinden, stellt ihm der Bruder die ernüchternde Frage: „Bist du bereit, etwas zu riskieren und die Leere zu erkunden, oder suchst du Sicherheit und versinkst lieber in Selbstmitleid?“ In jenen Tagen entdeckte er die „wilde Kirche“, die außerhalb der Kloster- und Kirchenräume im Freien ist.
Auf den Spuren des Vaters
An diese Erfahrung konnte er anknüpfen, als ihn als erfolgreichen ZDF-Journalisten 16 Jahre später eine Krise trifft. Für ihn schafft in jener Zeit eine Initiation bei dem amerikanischen Franziskaner Richard Rohr den richtigen Raum. Anders als oftmals gemutmaßt wird, sind Initiationsrituale keine Mutproben oder ein asketisches Training. Sie müssen nicht absolviert werden, um dazuzugehören, sondern schaffen Raum für Übergänge, in dem eine Antwort auf eigene Fragen entstehen kann.
Bei seiner damaligen Suche nach Orientierung wurde dem in Bonn geborenen und nahe Hamburg aufgewachsenen Mann bewusst, dass er mehr über seinen früh verstorbenen Vater erfahren musste. Jan Frerichs reiste nach Brasilien in die Heimat seines Vaters und fand heraus, dass dieser nicht immer der Diplomat gewesen war, als den ihn seine Mutter geheiratet hatte. Auch sein Vater war Priester gewesen, bevor er Journalist und Familienvater wurde. „Plötzlich verstand ich, warum ich das alles gemacht hatte“, sagt der heute 51-Jährige. Auf seinem spirituellen Weg erlebte der ehemalige Franziskaner die „Vision Quest“ als etwas, was ihm die franziskanische Schöpfungsspiritualität nicht bloß allein theoretisch nahebrachte. In dieser Visionssuche, die im Kern ein viertägiges Fasten in der Wildnis auf der Suche nach Gott ist, erfuhr er sich als Teil des Lebendigen.
Diese Erfahrung wollte er weitergeben und machte vertiefende Ausbildungen in diesem Bereich. Daraus entstand die Franziskanische Lebensschule. Wahrscheinlich würde der Theologe heute noch als Journalist arbeiten, aber irgendwann ließ sich die Initiative „barfuß & wild“ mit den unterschiedlichen Kursangeboten nicht mehr neben der Festanstellung bewältigen. So leitet er heute sein Unternehmen von Bingen am Rhein aus, wo er mit seiner Frau und zwei Söhnen lebt.
„barfuß & wild“ und die franziskanische Spiritualität
Die meisten Angebote der Lebensschule sind ganz auf Jan Frerichs zugeschnitten und profitieren von seiner theologischen und seelsorglichen Qualifikation. Deutlich ist bei allem stets seine tiefe Verwurzelung in der franziskanischen Spiritualität. Wegen dieser franziskanischen Ausrichtung wurde Carola Baden ursprünglich auf die Plattform aufmerksam: „Ich hatte nach einem franziskanisch inspirierten Angebot gesucht und das bei ‚barfuß & wild‘ gefunden. Später merkte ich dann in den Chatgruppen, dass viele der Teilnehmenden keinen christlichen Background haben, aber spirituell Suchende sind. Andere haben sich von der Kirche abgewandt, wieder andere sind durchaus stark in ihrer Gemeinde engagiert. Für mich ist das eine gute Mischung. Ich treffe dort auch Menschen, die wie ich in franziskanischen Zusammenhängen aktiv sind. Bruder Jan bringt immer wieder die franziskanische Tradition mit ein. Und wenn er von einer herrschaftsfreien, schöpfungsnahen ‚wilden‘ Kirche spricht, scheint für mich viel von dem Kirchen- und Gottesbild des Poverellos aus Assisi durch.“
Das Leben spüren
Jan Frerichs geht es bei seinen Angeboten nicht um „Selbstoptimierung“ oder um das Erlernen irgendwelcher Techniken. Es ist mehr ein Ort, den er bietet, auch mit den Online-Angeboten, die es neben den Präsenzkursen gibt. Er meint, dass es die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seiner Angebote bei aller Unterschiedlichkeit eint, dass sie froh darüber sind, einen Ort gefunden zu haben, an dem sie als Erwachsene in ihrer persönlichen und spirituellen Entwicklung wirklich ernst genommen werden.
Kürzlich gab er in einem Interview zu bedenken, dass es wenige spirituelle Angebote für Erwachsene gäbe, in denen sie in ihrer Autonomie angesprochen werden. „Die Antworten auf Lebensfragen, die sie sich stellen, kommen ja nicht von außen, indem ich noch diese oder jene Technik erlerne oder bloß irgendein Wissen aufsammle, sondern sie kommen aus einem tiefen inneren Wissen, das wir besser bezeichnen können mit dem Begriff ‚Weisheit‘. Erwachsene brauchen keine Ratschläge, aber durchaus ‚Räume‘, in denen sie zu dieser Weisheit gelangen können.“
„barfuß & wild“ schafft neue Räume
Für Carola Baden ist durch die Franziskanische Lebensschule „barfuß & wild“ genau so ein Raum entstanden. Die auch außerhalb der Kurse täglich am Morgen zugesandten Mini-Impulse empfindet sie als willkommenen Anstoß und die wöchentlichen Podcasts von Bruder Jan als Bereicherung. „Eine meiner Freundinnen, der ich die Website empfohlen hatte, meinte, es sei für sie zu ‚amerikanisch‘ und als franziskanisches Angebot käme es für sie zu perfekt und geschäftsmäßig daher. Das sehe ich nicht so. Ich finde, dass bei ‚barfuß & wild‘ eine gute Arbeit geleistet wird, die auch was kosten darf.“
Sie hofft, demnächst einen Waldtag bei Jans Kollegin Dorothee Bergler in einem Naturschutzgebiet nahe Bremen buchen zu können. „Wir sind in unserer westlichen Kultur vor allem zweck-, lösungs- und ergebnisorientiert. Wir fragen uns meist, wie wir die Zeit am effektivsten nutzen können. Davon bin ich keineswegs frei. Manchmal versuchen wir, mit dieser Haltung auch zu spirituellem Wachstum zu gelangen. Aber ich habe den Eindruck, dass die sinnliche Erfahrung des Draußenseins, das heilige Nichtstun, dieses ‚bloße Dasein‘ etwas ist, was mich Gott näherbringt. Wenn ich morgens meine Raunachtrunde durch den Wald mache, habe ich hier bei uns sicher keine Wildnis, aber ich fühle mich dort trotzdem sehr lebendig und als Teil dieses großen Ganzen. Es gibt mir eine Ahnung davon, wie es sein würde, mich wirklich auf die Wildnis einzulassen und nicht mehr außenstehende Zuschauerin zu sein, die alles bewertet. Aber auch durch die Auseinandersetzung mit mir im Rahmen der Raunächte entsteht – so hoffe ich – eine Haltung, die zu einem anderen Umgang mit mir und meinen Mitgeschöpfen führt. Mit dieser Hoffnung und mit der Zuversicht, die ich in diesen Tagen nähre, will ich ins neue Jahr gehen.“
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift der Franziskaner – Winter 2024.