18.04.2019 Michael Perry OFM

Die Jünger freuten sich, als sie den Herrn sahen

Brief von Generalminister Michael Perry zum Osterfest

Auferstehung Jesu. (1499 – 1502) Mittelbild einer Holzpredella, von Raffael Sanzio. Mueseo de Arte Sao Paulo.

Meine lieben Brüder, der Herr gebe euch Frieden!

In meinem diesjährigen Grußwort möchte ich euch einige Gedanken mitteilen, die in Zusammenhang stehen mit dem 800jährigen Jubiläum des Treffens zwischen dem Hl. Franz von Assisi und dem Sultan von Ägypten, al-Malik-al-Kamil. Dieses Gedenken hat der Kirche und dem Orden in besonderer Weise Reflexions- und Arbeitsmöglichkeiten im Bereich des offenen und respektvollen Dialogs mit dem Islam und den anderen Konfessionen eröffnet.

Ausgehend von dem, was ich in einem Brief an den ganzen Orden am 7. Januar in Bezug auf diesen wichtigen Jahrestag geschrieben habe, möchte ich euch deshalb dazu einladen, das Geheimnis vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung des Herrn im Licht dieses besonderen Ereignisses zu begehen. Es spornt uns an, unsere Angst zu überwinden und buchstäblich die Türen unseres Geistes zu öffnen. So ermöglichen wir Gott, ganz neu im Herzen von Männern und Frauen guten Willens zu wirken, die zum Wohl aller Menschen für soziale Gerechtigkeit, moralische Werte, Frieden und Freiheit kämpfen (vgl. Nostra Aetate Nr.3).

Erlaubt mir also, den Blick auf den Abschnitt des Evangeliums zu lenken, den wir am zweiten Ostersonntag hören werden. Er handelt davon, wie der Auferstandene Jesus „am Abend des gleichen Tags, dem ersten Tag nach dem Sabbat“ den Jüngern im Abendmahlssaal erscheint (Joh 20,19-31). Eigentlich erzählt dieser Text zwei getrennte Erscheinungen im Abstand von acht Tagen.

Ich glaube, dass diese beiden Episoden uns helfen, die Entwicklung und Reifung des Glaubens im zeitlichen Verlauf besser zu verstehen – nicht nur die Glaubensentwicklung von Thomas, sondern die aller Jünger, die das Privileg hatten, den auferstandenen Herrn mit eigenen Augen zu sehen.

Erste Erscheinung

Die Türen des Raumes, in dem sich die Jünger befanden, waren aus Angst vor den Juden geschlossen.

Der Ausdruck „am Abend des gleichen Tages“, mit dem der Abschnitt des Evangeliums beginnt, ist nicht zufällig gewählt. Er gehört zum Erzählstil des Evangelisten, der gerne kontrastreiche Szenen schildert. Wir können uns einen wenig beleuchteten Ort vorstellen, an dem es schwierig ist, die Gesichter der anderen zu erkennen, auch die der Nächsten. Es ist ein Ausdruck, der die Unsicherheit, die Enttäuschung und die Angst der versammelten Jünger verdeutlichen könnte. Eine Angst vor der Zukunft, vor den Neuerungen, vor dem Risiko, vor der Veränderung, vor der Möglichkeit, etwas zu verlieren. Es ist deshalb notwendig, „die Türen gut verschlossen“ zu halten. Insgesamt ist der Gemütszustand der Jünger etwas völlig Normales in Anbetracht dessen, was Jesus am Kreuz erlitten hat. Möglicherweise brauchen sie Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten. Vielleicht benötigen sie eine Erfahrung, die sie wieder aufleben lässt, und die in ihnen den Wunsch weckt, hinauszugehen, das Licht zu suchen, um diesen ersten Tag der Woche in eine Hoffnung zu verwandeln, auch wenn diese im Moment noch nicht erkennbar ist. Das Zeichen der verschlossenen Türen verdeutlicht die sehr menschliche Situation von jemandem, der versucht, sich selbst und die wenigen Sicherheiten, die er besitzt, zu schützen.

Jesus kam und hielt sich unter ihnen auf

Ich möchte nicht in eine theologisch exegetische Debatte eintreten bezüglich der neuen Gestalt des auferstandenen Jesus, der mit einem andersgearteten Körper in der Lage ist, Mauern zu durchschreiten. Versuchen wir stattdessen bei der Macht Jesu zu verweilen, in diesen Raum mit den verschlossenen Türen „einzutreten“. In diesem Abschnitt, wie in vielen anderen, begegnet uns die Erzählstrategie des Situationswechsels, bei dem sich die Umstände durch eine göttliche Initiative verwandeln. Nachdem Jesus die Worte „Friede sei mit euch“ ausgesprochen hat und seine Hände und seine Seite gezeigt hat – so hebt der Evangelist hervor – verwandeln sich beim Anblick des Herrn Traurigkeit und Angst in Freude (V. 20). Dies ist ein hervorragender Text, der demjenigen einen Weg aufzeigt, der das Abenteuer des Glaubens wagt. Jesus hätte einen anderen Moment und andere Umstände wählen können, um seinen Jüngern zu erscheinen. Aber er wählt einen Moment, der geprägt ist von der Angst der Apostel und von der Abwesenheit des Apostels Thomas, welcher eine Schlüsselfigur dieser Erzählung ist. Und genau bei diesem möchte ich einen Augenblick verweilen, wenn wir nun die zweite Erscheinung analysieren.

Zweite Erscheinung

Acht Tage sind vergangen. Man könnte sich fragen: warum ließ er acht Tage verstreichen? Warum hat er nicht sofort den Zweifel und die Unsicherheit des Thomas zerstreut, welcher gehört hatte: „Wir haben den Herrn gesehen.“? Der Name Thomas bedeutet Zwilling. Didymus ist der griechische Begriff, den der Evangelist benutzt um das aramäische Ta’oma‘ zu übersetzen. Hinter diesem Übersetzungsspiel, wie es häufig im vierten Evangelium vorkommt, versteckt sich eine theologische Absicht. Der Zwilling ist eine Kopie, also jemand, der einem anderen ähnelt. Die Rolle des Thomas ist in diesem Abschnitt durch zwei Bedeutungen charakterisiert: Er wird beherrscht vom Zweifel, der sich später auflöst, als er den Herrn trifft, und zur gleichen Zeit ist er unser Zwilling, weil er uns selbst in der Geschichte verkörpert. Er ist es, der sich in unserem Namen von Angesicht zu Angesicht mit dem Herrn befindet und dadurch von der Ungläubigkeit zum stärksten Glaubensbekenntnis kommt, das das Johannesevangelium berichtet: Mein Herr und mein Gott. Thomas hat die Wunden Jesu gesehen und berührt. Der Text spricht klar von den Malen der Nägel: Der Auferstandene hat einen Körper, der geprägt ist von einer Geschichte des Schmerzes und des Todes. Deshalb ist Thomas unser Zwilling: Er berührt mit seinen Händen die Wunden auf dem Körper und erkennt so, dass er sich nicht nur vor einem lebendigen Menschen befindet, sondern vor Gott persönlich.

Es ist eine Geschichte von Schmerz und Tod, die sich jedes Mal wiederholt, wenn wir nicht in der Lage sind, die Unterschiede und den Reichtum der Verschiedenheit anzuerkennen. Es ist eine Geschichte, die gekennzeichnet ist von einer Mentalität, die den Namen Gottes ausgenutzt hat, um sich selbst zu behaupten – einer Mentalität, die sich für den Verwalter der absoluten göttlichen Wahrheit hielt – einer Mentalität, die selbst vor dem Töten nicht Halt machte, nur um eine lehramtliche Position zu verteidigen. Dies ist die dramatische Szenerie, die sich im Mittelalter in der Auseinandersetzung mit der islamischen Religion gezeigt hat und die sich auch heute in einigen Ländern wiederholt, in denen Minderheiten nicht toleriert werden.

Hören wir den Heiligen Vater Franziskus

Wahrscheinlich werden viele denken, dass solche Überlegungen und die bedeutenden Schritte im interreligiösen Dialog, die die Kirche und besonders Papst Franziskus unternommen haben, nicht viel zu tun haben mit der grausamen Realität, die sich auch heute noch in Ländern findet, in denen Christen und Muslime zusammen leben. Manche denken, dass es ein Zeichen von Schwäche und Identitätsverlust ist, wenn man von Dialog spricht und Offenheit für ein mögliches Treffen zeigt. Papst Franziskus ist von bestimmten Kreisen der Kirche scharf kritisiert worden für seine Gesten der Öffnung gegenüber anderen Konfessionen. Diese wurden als Verhaltensweisen gesehen, die das Ansehen der Kirche und der Christen schmälern würden.

Obwohl ich solche Meinungen respektiere, möchte ich betonen, dass eine einfache Geste der Gemeinschaft und Öffnung mächtiger, vielsagender, wirkungsvoller und prophetischer ist als der Wunsch nach einer Selbstbestätigung, die oftmals im Kreisen um sich selbst gründet.

Kürzlich hat der Heilige Vater anlässlich seiner Reise nach Marokko erklärt, dass es keinen Grund gibt, vor den Unterschieden zwischen den verschiedenen Religionen zu erschrecken. Was uns ängstigen sollte, ist der Mangel an Geschwisterlichkeit zwischen den verschieden Konfessionen (Generalaudienz, 3. April, Petersplatz). Wie ihr wisst, wollte der Heilige Vater aktiv an der 800-Jahrfeier des Treffens zwischen Franziskus und dem Sultan al-Malik-al Kamil teilnehmen. Diese Reise, wie schon die in die Vereinigten Arabischen Emirate, bezeugt dies klar. Zentrale Themen seiner Botschaft waren: der eindringliche Aufruf zum Dialog und zum Aufbau einer offenen, pluralen und solidarischen Gesellschaft, sowie die Antwort, die von uns angesichts der schweren Flüchtlingskrise gefordert ist. Der Papst hat uns kraftvoll ermahnt, uns gemeinsam auf einen Weg zu begeben, der uns hilft, die Spannungen und Unverständnisse zu überwinden, indem wir uns für einen Geist der fruchtbaren und respektvollen Zusammenarbeit öffnen. (vgl. Rede des Hl. Vaters: Treffen mit dem marokkanischen Volk, den Autoritäten, der Zivilgesellschaft, dem diplomatischen Korps, 30. März 2019)

Ich möchte euch deshalb einladen, meine geliebten Brüder, dieses Osterfest im Licht dieses großen Ereignisses zu begehen. Es ist wahr, dass eine Entscheidung, wie sie der Papst vorschlägt, ein gewisses Risiko beinhaltet und in uns Angst und Unsicherheit hervorrufen kann – Gefühle, die denen der Apostel im verschlossenen Abendmahlsaal ähneln.

Dennoch ermutigt uns der Papst selbst in seiner apostolischen Ermahnung Evangelii gaudium: „Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.“ (EG 49). Ich wage es, diese Einladung an alle Brüder des Ordens auszusprechen, an meine geliebten Schwestern Klarissen und Konzeptionistinnen und an alle Männer und Frauen guten Willens, die sich der Spiritualität des Heiligen von Assisi verbunden fühlen: Gehen wir hinaus, gehen wir dem Anderen entgegen, öffnen wir die Türen, damit neue Luft hereinkommen kann – der Hauch des Geistes (vgl. Joh 20,22), der uns auffordert, die Augen für eine neue und faszinierende Realität zu öffnen. Lasst uns nicht glauben, dies sei ein Zeichen von Schwäche oder der Aufgabe unserer Überzeugungen. Seien wir gewiss, dass eine so plurale Welt wie die unsrige sprechende und prophetische Gesten braucht, die zu einem gesunden und zivilisierten Zusammenleben erziehen.

Der kleine Arme von Assisi war ein Zeichen für seine Epoche und ist es nach 800 Jahren immer noch. Wir können uns nicht zufrieden geben, uns an ein solches Ereignis nur zu erinnern, ohne unser Herz für die Erfahrung des Anderen zu öffnen. Das Osterfest in diesem Jahr zu begehen bedeutet, dem Weg des Johannes-Evangeliums zu folgen, ohne die Furcht und die Versuchung, die Türen zu schließen, zu ignorieren. Es zeigt uns, dass die Auferstehung Christ fähig ist, unsere Traurigkeit in Freude zu verwandeln (vgl. Joh 16,16) und unsere Angst in den Mut, mit dem Wort und dem Leben zu bezeugen, dass Jesus Christus auferstanden ist und dass er unser Herr und Gott ist. (vgl. Joh 20,28).

Ich wünsche euch allen gute und gesegnete Ostern

Rom, 14. April 2019


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