Bruder Johannes-Baptist Freyer

Die Franziskaner: Eine aktive sozialkritische Bewegung

"Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt"

Sein Testament, mit dem er das Wesentliche der Lebensform der Minderbrüder zusammenfasste, damit es auch nach seinem Tode gewahrt wird, beginnt Franziskus mit der Schilderung seiner Begegnung mit Aussätzigen. Es war das entscheidende Ereignis seiner Bekehrung zu einem Leben der Buße. Diese kurze Darstellung endet mit den Worten: »Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt.« Mit dieser Erzählung gab Franziskus den Rahmen für die zukünftige Lebensform der Brüder vor: Ein Leben der Buße, des barmherzigen Umgangs mit den Aussätzigen und der Ausstieg aus der politisch, gesellschaftlich und kirchlich vorgegebenen Welt Assisis sollten den Ausgangspunkt für das Leben der Brüder und Schwestern bilden. Die meisten biografischen Erzählungen des Franziskuslebens, und auch moderne Interpretationen der Aussätzigenbegegnung, deuten dies theologisch und spirituell. Darauf, dass dieses Ereignis auch eine soziale Dimension enthält und Konsequenzen für das soziale und gesellschaftspolitische Verhalten der frühen franziskanischen Bewegung mitbrachte, hat der kürzlich verstorbenen kanadische Historiker und Franziskanologe Bruder David E. Flood (1929–2024) aufmerksam gemacht. Er hat die theologische und spirituelle Interpretation durch den Blick auf die soziale Dimension bereichert. Um diese zu erforschen, hat er die sozialen Konsequenzen der früh-franziskanischen Lebensform herausgearbeitet, die sich aus dem Selbstverständnis der ersten Brüder als Arbeiter und Friedensboten und ihrer alternativen Verortung in der damaligen Welt ergaben. Die Wirkungsgeschichte dieser ursprünglichen Lebensform hat er exemplarisch durch die Erforschung der Schriften des Franziskaners Pater Petrus Johannis Olivi (ca. 1247–1298) aufgezeigt.

Johannes Baptist Freyer lehrte als Professor für Theologiegeschichte und Franziskanische Theologie an der Päpstlichen Universität Antonianum in Rom. Von 2005 bis 2011 war er Rektor dieser Universität. Heute ist er Referent für franziskanische Grundsatzfragen an der Missionszentrale der Franziskaner in Bonn, „Franziskaner Helfen“.

 

Ein Bußleben in den Fußspuren Jesu Christi

Wenn Franziskus im Zusammenhang mit seiner Bekehrung davon spricht, er habe die Welt verlassen, so ist damit die politische, soziale und kirchliche Welt seiner Familie, die dem aufstrebenden Bürger- und Händlertum angehörte, sowie seine zum Handelszentrum aufstrebende Heimatstadt Assisi gemeint. Er verließ die Welt der innerstädtischen Auseinandersetzung zwischen Stadtadel und neureichen Bürgern. Ebenso verließ er die Welt der politischen Gruppierungen, der Parteigänger des Kaisers und der Vertreter der Besitzansprüche des Papsttums. Noch als junger Mann war Franziskus in diese Auseinandersetzungen involviert. Der Bekehrungsprozess, den er nach seiner Gefangenschaft in Perugia durchmachte und der in der Aussätzigenbegegnung gipfelte, führte schließlich in ein Bußleben in den Fußspuren Jesu Christi. Doch er war nicht einfach nur ein Aussteiger. Auf das Evangelium hörend entdeckte er Schritt für Schritt seine alternative Lebensform, die Brüder und Schwestern anzog, die wie er ihre bisherige Welt verlassen wollten.

In der kleinen Welt von Assisi und im größeren Umbrien ging es vor allem um das »bonum«, das Hab und Gut, die Vermehrung von Reichtum und Besitz, die Durchsetzung von Vormachtstellungen und die Festigung von Herrschaft. Wer bei der einen oder anderen der herrschenden Gruppen dazugehören wollte, musste sich an der Durchsetzung dieser Interessen beteiligen. Wer selbst nichts besaß, musste sich verdingen, um so wenigstens das Überlebensnotwendige zu erhalten. Aber selbst die Knechte, Tagelöhner und Dienstleute förderten zwangsläufig durch ihre minimal bezahlte Arbeit das vorherrschende System. Andere, wie Aussätzige und Bettler, die durch ihre Lebenssituation dem »bonum« Assisis nicht dienen konnten oder sogar eine Gefahr dafür darstellten, wurden ausgegrenzt. Zwar war es eine religiöse Verpflichtung, diese Armen und Leprösen durch Almosen zu versorgen, aber diese Almosen stellten nur eine Abmilderung der durch das wirtschaftliche und politische System verursachten Schäden dar. Das etablierte System selbst war die Ursache der Verarmung, der Versklavung durch Verschuldung und der Ausgrenzung.

 

Ein gesellschaftspolitisches Kontrastprogramm

Diesem politischen, wirtschaftlichen und kirchlich abgesegneten Sozialgefüge wollten Franziskus und seine Brüder und Schwestern, die selber größtenteils aus dem begüterten Bürgertum oder dem Adel stammten, nicht mehr dienen. Das Evangelium, das sie und viele andere dieser Zeit entdeckten, sprach von anderen Werten des Guten (bonum), denen es zu folgen galt. Die von Franziskus initiierte Lebensform entwickelte sich daher zu einem Kontrastprogramm zur Lebens- und Gesellschaftsordnung der Kommune Assisi. Um einen alternativen Lebensstil zu verwirklichen, zogen sich Franziskus und seine Brüder und Schwestern allerdings nicht aus der Welt zurück, um ein abgelegenes Kloster zu gründen. Im Gegenteil, sie verstanden die Welt als ihr Kloster, in dem sie dem »bonum«, dem Guten, durch ihr Leben dienen wollten. Dies setzte eine Bewusstseinsänderung voraus, die zu einem gewandelten Verständnis der Bedeutung des »bonum« führte. Das »bonum«, wurde nicht mehr im materiellen Besitz, in der gesellschaftliche Dominanz und im finanzwirtschaftlichen Gewinn gesehen. Das »bonum« wurde in den zwischenmenschlichen und empathischen Beziehungen wahrgenommen. Es sollte das Leben fördern, niemanden ausgrenzen, den Hunger stillen, Heilung, Versöhnung und Frieden ermöglichen. Statt dem frühkapitalistischen Kampf zwischen den Ständen und Städten zu dienen, bemühte man sich um gelebte Geschwisterlichkeit, die nicht davor zurückschreckt, auch das Leben der an den Rand gedrängten zu teilen. Von der Aneignung des »bonum «, wechselten die Brüder und Schwestern zur Rückerstattung alles Guten an die Bedürftigen. Ausgiebig berichten die Quellen zum Franziskusleben über die Entstehung der Bruderschaft: Die Brüder und Schwestern verteilten ihr Hab und Gut unter den Armen, waren mit dem Lebensnotwendigen zufrieden und teilten selbst dies mit Bedürftigen. Diesen Gesinnungs- und Standortwechsel allein auf ein soziales Gewissen zurückzuführen, wäre zu oberflächlich. Wie aus den Schriften des Franziskus deutlich wird, ist gerade eine religiöse Umkehr und ein sich immer wieder am Evangelium orientierender Glaube der Auslöser des Standortwechsels. So fordert er seine Brüder, »ob sie nun predigen, beten oder arbeiten, sowohl die Kleriker wie die Laien«, auf: alles Gute »dem Herrn, dem erhabensten und höchsten Gott« zurückzuerstatten »und alles Gute als sein Eigentum« anzuerkennen »und für alles Dank« zu sagen, »ihm, von dem alles Gute herkommt« (NbR 17,5.17). Es wurde zwar verstanden, dass Hab und Gut durch menschliche Arbeit gefördert wird, aber im Letzten wurde es als Gabe Gottes angesehen und sollten diesem zurückerstattet werden. Vor allem der erwirtschaftete Überfluss sollte als Lebensgüter für alle dienen. Diese, auf dem Evangelium fußende, alternative Lebensform der Buße wurde nicht nur von dem inneren Kreis der Brüder und Schwestern um Franziskus und Klara von Assisi gepflegt. Vielmehr entwickelte sie sich zu einer größeren Bewegung und zu einer alternativen Weise des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Zusammenlebens. Die Brüder und Schwestern traten aktiv für eine alternative Lebensgestaltung ein. So berichtet zum Beispiel Johannes von Perugia: »Wenn reiche Weltleute bei ihnen vorbeikamen, nahmen die Brüder sie freundlich und wohlwollend auf und luden sie ein, um sie vom Bösen zurückrufen und zum Buße tun ermuntern zu können« (LP 29,1).

 

Das von Gott erhaltene Gut den Ausgegrenzten zurückerstatten

Unter dem Leben der Buße, das Franziskus nach der Begegnung mit den Aussätzigen begann, wurden nicht einfach sogenannte Bußwerke, wie zum Beispiel das Fasten, verstanden. Ein Leben der Buße zielte auf die bewusste Veränderung der Lebensweise ab und beinhaltete die Weigerung, das sich etablierende System des einseitigen monitären Gewinnstrebens zu unterstützen, welches mit Waffen verteidigt und durch hohe Mauern geschützt wurde. Franziskus und seine Brüder und Schwestern unterstützen jene, die durch ein Leben der Buße das Gesellschaftssystem verlassen wollten. Ihnen widmet Franziskus, zum Beispiel zwei Briefe, die heute unter dem Namen »Brief an die Gläubigen« bekannt sind. Mit diesen gibt er der damaligen Bewegung, die durch den Glauben zu einem alternativen Lebensstil animiert wurde, eine erste schlichte spirituelle Regel. An sie richtete Franziskus die Einladung zu einem Leben der Geschwisterlichkeit, »die Werke Gottes zu tun (…) durch ein heiliges Wirken, das anderen als Vorbild leuchten soll.« (1 Gl 4-10). Diese Geschwisterlichkeit schließt »Gebrechliche ein« (Erm 17). Ihnen zu helfen bedeutet, das von Gott erhaltene Gut zurückzuerstatten »und nicht für sich zurückzubehalten«. Also eine Umverteilung des Hab und Gut, um für die Armen und eine gerechtere Gesellschaft zu sorgen.

Während ein Großteil der Gesellschaft auf der Anhäufung von Kapital in einigen Handelsfamilien, der kriegerischen Expansion und dem Dienst vieler abhängiger Knechte und Tagelöhner beruht, gründen Franziskus, seine Brüder und Schwestern eine andere Lebensform. Diese gründet auf der sozialen Wirklichkeit einer fürsorgenden Geschwisterlichkeit, der gerechten Verteilung von Hab und Gut durch Teilhabe, auf der Integration der Ausgegrenzten und auf dem Verzicht auf Gewalt. Diese von Franziskus initiierte Lebensform hat im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Menschen inspiriert, alternative Lebensformen zu beginnen und neue gesellschaftliche und religiöse Aufbrüche zu gestalten. Im Leben von Franziskus verbinden sich eine religiöse Grundeinstellung mit der existentiellen Erfahrung der Ungerechtigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung. Die Ungerechtigkeiten waren Folgen des systematischen, mit Gewalt durchsetzten Früh-Kapitalismus, der Anhäufung von Reichtum in Händen weniger Privilegierter bei gleichzeitiger Verschuldung und Verarmung einer Mehrheit der Bevölkerung. Das Zusammenwirken der religiösen Erfahrung mit dem Erleben der existentiellen Not vieler bewirkte mehr als das übliche Geben von Almosen und Spenden. Es löste durch den aktiven Standortwechsel eine geschwisterliche, alternative Lebensform aus. Damit stellt sich die franziskanische Bewegung auf dem Boden des gelebten Glaubens in der Nachfolge des Evangeliums auch als aktive sozialkritische Bewegung auf, die alternative Weisen des Umganges mit Hab und Gut wagt.

 

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Franziskaner, Frühling 2024


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