Was macht einen Ort spirituell?
Den Frauenberg als spirituellen Ort erhalten und gestalten, das ist seit nunmehr sechs Jahren das gemeinsame Ziel von uns Franziskanern und antonius. Was aber heißt das konkret? Und was macht eigentlich einen Ort „spirituell“? Um sich darüber Gedanken zu machen und in einen Austausch zu kommen, hatte der Vorstand der „Freunde des Frauenbergs“ Mitglieder und Interessierte am 2. März zu einem ersten „Frauenberger Klostergespräch“ eingeladen. Gut 40 Personen waren der Einladung ins große Klosterrefektor gefolgt und kamen nach einem einleitenden Impulsreferat von P. Cornelius Bohl, dem Guardian des Frauenbergs, in eine lebhafte Diskussion, die sich auch nach dem offiziellen Teil des Abends in kleinen Gruppen fortsetzte. Solch anregende Gespräche, dies war ein Fazit am Ende des Abends, sollten nach Möglichkeit fortgesetzt werden.
„… den Frauenberg als spirituellen Ort erhalten und gestalten“
Was macht einen Ort „spirituell“?
Impuls von P. Cornelius Bohl ofm beim 1. Frauenberger Klostergespräch am 2. März 2023,
organisiert von den „Freunden des Frauenbergs“
„Wir wollen den Frauenberg als spirituellen Ort erhalten und gestalten!“ Dies war die entscheidende Motivation von uns Franziskanern und von antonius, als wir vor nunmehr sechs Jahren unser Kooperationsprojekt hier oben gestartet haben, und das ist weiterhin unser Ziel. Wichtige Unterstützung erhalten wir dabei von Ihnen, den Freunden des Frauenbergs, dafür schon jetzt am Beginn ganz herzlichen Dank.
„Den Frauenberg als spirituellen Ort erhalten und gestalten.“ Das hört sich gut an. Aber letztlich ist es zunächst nur eine Chiffre. Für was steht sie? Wie wird diese Container-Formulierung konkret gefüllt und umgesetzt? Und was macht eigentlich einen Ort „spirituell“? Darüber wollen wir an diesem Abend gemeinsam nachdenken und ins Gespräch kommen. Aber lassen Sie uns zunächst einmal etwas allgemeiner beginnen.
I.
Haben Sie einen Lieblingsort? Das kann ein außergewöhnlicher Ort sein – ein grandioser Berggipfel vielleicht, ein pulsierender Platz in einer bekannten Großstadt oder eine beeindruckende Kathedrale. Lieblingsorte müssen aber, von außen gesehen, gar nichts Besonderes an sich haben. Manchmal können es ganz gewöhnliche und völlig unspektakuläre Orte sein, die aber für mich trotzdem wichtig und wertvoll sind, weil ich sie mit besonderen Erfahrungen und Erinnerungen verknüpfe: Räume der Kindheit etwa; eine Stadt, in der ich mich für einige Jahre meines Lebens besonders wohl und lebendig gefühlt habe; oder auch eine Landschaft, die irgendwie meine Seele zum Schwingen bringt und mir guttut.
Lieblingsorte sind „Kraftorte“. Kraftorte sind ja schon seit einiger Zeit in Mode. Dabei verstehe ich diesen Begriff hier nicht in einem esoterischen Sinn, sondern sehr pragmatisch: Orte, die mir helfen, abzuschalten und zur Ruhe zu kommen, an denen ich Atem schöpfen kann, auftanke und neue Energie gewinne. Das kann ein immer wieder gegangener Spazierweg sein, ein lauschiger Biergarten, eine stille Kirche oder einfach ein bequemer Sessel in meiner Wohnung. Manche Orte, so Erhart Kästner in einem seiner Griechenland-Reisebücher, „besitzen die Macht, uns neu zu gebären.“
Es gibt Orte, die haben die Kraft, uns neu zu gebären. Ein Mitbruder hat mir das einmal erzählt: Wenn Schwierigkeiten scheinbar übermächtig werden und Fragen sich so verheddern, dass er den Durchblick verliert, dann setzt er sich in sein Auto und fährt – nein, nicht zu einem Freund und auch nicht zu einer Wallfahrtskirche, sondern zu einer geschätzt 500-jährigen Eiche, irgendwo am Waldrand bei den Mauerresten einer Ruine. Dann setzt er sich auf die Bank unter diesen uralten Baum, betrachtet den knorrigen Stamm, schaut nach oben in die weit ausladende Krone oder hört auf das Ächzen der vom Wind gebeugten Äste. Dabei könne er gut zur Ruhe kommen, er bekäme den Kopf wieder frei und oft würden sich Dinge wie von selbst sortieren.
Ich bin überzeugt, wir alle brauchen gute Orte in unserem Leben, Kraftorte, Andersorte, die sich abheben vom Alltag. „Ich muss einfach einmal ein paar Tage raus“, sagen wir manchmal. Ortswechsel können heilsam sein. Wir kehren oft verwandelt in den Alltag zurück, eben „wie neu geboren“.
II.
Der Frauenberg ist ein besonderer Ort. Das sagen mir immer wieder Menschen, und das erlebe ich auch selbst. Woran liegt das? Die andere Frage: Ist ein „besonderer Ort“ schon ein spiritueller Ort? Was eigentlich meint der wabernde Modebegriff „Spiritualität“?
In einem ersten Angang möchte ich sagen: Spiritualität ist das, woraus ein Mensch lebt. Irgendwovon lebt jeder Mensch. Irgendwoher bezieht jeder Mensch die entscheidenden Impulse für sein Tun. Meine bewussten oder unbewussten Motivationen und Ziele, die Ängste und Hoffnungen, die mein Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, verweisen auf den Geist, aus dem ich lebe. Meine Spiritualität zeigt sich darin, wie ich mich selbst und die Welt wahrnehme und mit mir und den Menschen und der Welt umgehe. Spiritualität ist also niemals ein Überbau. Etwas, was von außen dazu kommt und darum auch fehlen könnte. Wir leben zwar alle in derselben Wirklichkeit. Aber wir können sie ganz unterschiedlich deuten und unterschiedlich damit umgehen. Spiritualität öffnet die Augen und entdeckt mehr. Sie eröffnet mir einen kreativen Freiraum gegenüber den scheinbar alles dominierenden facts: Ich bin ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Ich kann gestalten.
Warum erleben viele Menschen den Frauenberg als einen besonderen und darum in diesem weiten Sinn auch als einen spirituellen Ort? Interessanterweise reden wir ja vom „spiritus loci“, vom „Geist“ eines Ortes. Welcher „spiritus“ also eröffnet sich auf dem Frauenberg? Welch spirituellen Erfahrungen verbinden Menschen vielleicht mit diesem Ort?
Der Berg
Um das Jahr 1800 beschreibt der preußische Rechtsgelehrte Friedrich Karl von Savigny, von Frankfurt her kommend, einen Besuch in Fulda: „Ich kam zuerst durch das einfach schöne Kinzigthal, dann durch abwechslungsreiche unbedeutende Gegenden bis vor Fuld. Ich war begierig, die einförmig steife Gegend und das enge finstere Mönchstädtchen zu sehen, das mir meine Phantasie vorgebildet hatte, und erstaunte nicht wenig, als ich in das anmutige Thal einzog, in dessen Mitte das Franciskanerkloster – auf einem steilen Weinberg über der Stadt, an dem eine Reihe alter Linden herunter zieht – eine sehr romantische Würkung that. … Das Franciskanerkloster hatte mir so gefallen, dass ich hinaufgehen musste, aber – ich mag das nicht allein geniesen, kommt mit ihr Lieben! Wir gehen den gepflasterten Fußsteig hinauf, freuen uns über die ehrwürdigen Linden, die ihn bald auf einer, bald auf beiden Seiten begleiten, und langen unvermerkt auf der Höhe an, auf dem die Leidensgeschichte in mancherley grosen und kleinen Gruppen prangt – und vor uns das freundliche Grün einer flachen Wiese, von der Fulda in krummen Linien durchschnitten … und das Ganze menschlich belebt durch das schöne Fuld zu unseren Füsen und durch die zierlichen Häuser und Dörfer und Propsteyen rechts und links!“
Der Berg übt Faszination aus. Alle Religionen kennen heilige Berge. Der Frauenberg ist kein hoher Gipfel, aber doch eine deutliche Erhebung. Und das heißt zweierlei. Zunächst einmal: Man sieht ihn schon von weitem. Egal ob ich von München oder Kassel mit dem ICE komme, auf der Autobahn von Frankfurt, aus der Rhön oder aus dem Vogelsberg – immer begrüßt schon von weitem der Frauenberg. Ein Berg erhebt sich über der Ebene. Man schaut hinauf. Er gibt Orientierung. Das aber sind in sich schon spirituelle Erfahrungen: Orientierung gewinnen. Von unten nach oben schauen. Der Zug in die Höhe. Und dann das Umgekehrte: Oben vom Berg schaue ich nach unten. Da sieht meine gewohnte Welt plötzlich anders und neu aus. Das ist nicht nur schön oder romantisch. Das ist eine spirituelle Erfahrung: Mein Alltag ist plötzlich weiter weg. Ich gewinne Abstand zu dem, was mich tagtäglich wie selbstverständlich gefangen hält. Distanz aber befreit. Ich habe auf einmal einen Überblick, erfahre Weite statt Enge, ein Stück Freiheit, kann wieder atmen. Da ordnen sich Dinge und Wichtigkeiten neu. Seit sechs Jahren laden wir Brüder und antonius regelmäßig ein zu einem „Hoch-Oben-Gottesdienst“. Solch ein Blick von oben tut der Seele gut. In diesem Sinn kann die Tasse Kaffee auf der Terrasse vor dem Klostercafé Flora tatsächlich eine spirituelle Erfahrung sein.
Der Weg
Zum einem Berg gehört notwendig der Weg. Um nach oben zu kommen, muss ich einen Weg zurücklegen. In gut 10 Minuten kann ich vom Dom oder von Horas aus zu Fuß auf den Frauenberg kommen. Aber diese 10 Minuten sind etwas Anderes als 10 Minuten auf der Autobahn oder im Zug. Sie sind mehr als eine leider notwendige Zeit, die ich aufwenden muss, um ein Ziel zu erreichen, und wenn irgend möglich verkürze. Der Weg ist eine tiefe, letztlich spirituelle Erfahrung: Der gute Ort ist nicht einfach da, ich muss mich zu ihm hin auf den Weg machen und dann diesen Weg gehen. Schritt für Schritt komme ich weiter. Schritt für Schritt komme ich nach oben. Im Gehen eigne ich mir einen Ort an. Dabei macht der Weg etwas mit mir. Er lässt mich schneller atmen, vielleicht komme ich ins Schwitzen. Dabei bekomme ich den Kopf frei. Wer sich bewegt, in dem bewegt sich etwas. Wandern wandelt.
Die Natur
Fulda ist gottlob keine Betonwüste, sondern lieblich eingebettet zwischen Rhön und Vogelsberg, mit viel Grün und demnächst der hessischen Landesgartenschau. Und doch: In den Frauenberganlagen, und dazu gehört ja das gesamte Areal bis zum Kalvarienberg, wird Natur noch einmal unmittelbarer erfahrbar. Wie tut es der Seele gut, wenn im Frühjahr das erste zarte Grün aus den Bäumen sprießt. In der Hitze des Sommers spenden die alten Bäume wohltuenden Schatten. Rotgolden brennt im Herbst die Kastanienallee. Es kann aber auch sein, dass man vom Armeseelenhäuschen aus rein gar nichts sieht von der Stadt, die in einem undurchdringlichen Nebelmeer verschwunden ist. Und dann der Winter, wenn Sturm und Regen um den Dachreiter der Klosterkirche pfeifen oder die mit Reif und Schnee bedeckten kahlen Äste starr in den Himmel ragen. Ist das ein spirituelles Erlebnis? Ich glaube schon. Denn die Natur lässt mich erfahren, dass ich eingebunden bin in einen großen Kreislauf, Teil von etwas Größerem, gemeinsam mit vielen anderen. Naturerfahrung ist Erfahrung tiefer Verbundenheit. Da begegne ich einer Wirklichkeit, die wir zwar weitgehend domestiziert haben, aber doch nicht ganz beherrschen. Natur bringt zum Staunen und lehrt Demut.
Der Garten
Seit der Kooperation mit antonius ist unser Klostergarten der Öffentlichkeit zugänglich. Früher war es ein Nutzgarten, in dem Kohl- und Salatköpfe fast militärisch in Reih und Glied für die Küche der Brüder und Blumen zum Schmücken der Klosterkirche wuchsen. Ein barocker Schaugarten ist er nicht. Aber eben ein Garten. Und jeder Garten erzählt vom Leben – vom Säen und Wachsen, vom Ernten und Vergehen. Er ist nützlich, aber nicht nur rein funktional verzweckt. Ein Garten ist immer auch einfach nur schön und erinnert so ein wenig an das Paradies. Ein Andersort – spürbar anders als eine Industrieanlage, ein Wohnsilo oder eine belebte Straßenkreuzung. Ein Garten kann noch so klein sein, er lädt ein zum Bleiben und Verweilen, zum Stillwerden und Schauen und Nachdenken. Und direkt neben diesem Garten liegt auf dem Frauenberg ein anderer Garten, der Friedhof. Auch dort: Gras und Blumen. Dazu dankbare Erinnerung an gelungenes Leben. Aber auch die Bitte um Versöhnung, um Heilung von Wunden und vielleicht Trauer über das, was unerfüllt blieb. Also wieder Wachsen und Vergehen. Ein Garten der Toten, der aber vom Leben erzählt, sogar von einem ewigen Leben für den, der glauben darf. Auch dieser Garten regt an zum Stillwerden und Nachdenken.
Die Geschichte
Ich bin jetzt erst wenige Monate auf dem Frauenberg, habe das aber schon oft gehört: Wir möchten gerne hier heiraten, weil wir schon als Kinder hier die Krippe angeschaut haben. Mein Vater kam immer hierher zum Beichten. Schon unsere Großeltern sind mit uns hier spazieren gegangen. Können Sie meine Mutter beerdigen, sie war dem Frauenberg sehr verbunden.
Und das heißt doch: Einzelne Menschen oder ganze Familien haben eine Geschichte mit diesem Ort. Der Ort spricht also nicht nur aus sich, sondern ist individuell angefüllt mit Erinnerungen, Gefühlen und Erfahrungen. Damit wird ein Besuch dieses Ortes so etwas wie das Eintauchen in Geschichte, Vergewisserung der eigenen Biographie, Beheimatung in einem größeren Zusammenhang. Sich selbst begegnen und sich dabei aufgehoben wissen, in allem Wechsel ein Stück verlässliche Kontinuität erfahren, zurückkehren können zu dem, was sich durch alle Veränderungen durchträgt und darum auch trägt, auch das sind letztlich spirituelle Erfahrungen.
III.
Bisher haben wir Spiritualität in einem sehr weiten Sinn als das betrachtet, woraus ich lebe. Für einen Christen bezeichnet „Spiritualität“ vor allem ein Leben aus der Kraft des „Spiritus Sanctus“, aus dem Geist Gottes, dem Geist Jesu Christi.
Das wäre für mich eine schöne Umschreibung unserer Berufung als Christen: Wir versuchen, gute und heilsame Orte zu schaffen, an denen Menschen zur Ruhe kommen und zu sich selbst finden können. Andersorte, an denen sie erfahren, dass Leben mehr ist als das Gehetze und Getriebenwerden, das oft unser Leben bestimmt, und an denen andere Spielregeln gelten. Heilige Orte, an denen sie an das Geheimnis Gottes rühren. Kraftorte, die ihnen helfen, sich dann wieder neu den Herausforderungen des oft harten Alltags zu stellen. Dass die Kirche selbst nicht immer solch ein Andersort ist und Menschen nicht nur heilsame Räume eröffnet, erfahren wir leider immer wieder.
Und es kann auch nicht darum gehen, sich bequem in Wohlfühl-Ghettos einrichten zu wollen. Wir können und dürfen nicht fliehen aus unserer Welt. Aber das alles ändert nichts an unserer Sendung, an Räumen mitzubauen, in denen ein klein wenig etwas vom Reich Gottes erfahrbar wird.
Fragen wir darum jetzt in einem zweiten Schritt genauer: Warum ist der Frauenberg ein besonderer geistlicher Ort gerade auch in diesem christlichen Sinn?
Kirche und Kloster: getragen vom Gebet vieler
Eine Kirche als solche ist in sich ein hoch spiritueller Ort. Sie ist „Haus Gottes“. Hier
„wohnt“ Gott, sagen wir. Hier kommt die christliche Gemeinde zusammen, um vor allem in der Feier der Eucharistie Christus zu begegnen. Gerade auf dem Frauenberg erfahren Menschen seit Jahrhunderten im Sakrament der Versöhnung, Vergebung und Heilung. Ehepaare geben sich hier ihr Jawort nicht nur vor Gott, sondern glauben, dass im Sakrament Christus selbst in ihrer Beziehung eintritt und gegenwärtig bleibt. Immer wieder kommen einzelne stille Beter, setzen sich in die Bank, lassen sich von den Bildern und Statuen Geschichten erzählen, entzünden eine Kerze. Gott ist zwar überall, und doch braucht es Orte, an denen seine Gegenwart ausdrücklich erfahrbar ist.
Dazu kommt das Kloster. Das Kloster ist keine heile Welt. Die Brüder sind den Schwierigkeiten des Lebens nicht weniger ausgesetzt als alle anderen Menschen auch. Dennoch ist es eine Lebensform, die von sich aus auf Gott verweist. Spirituelle Orte leben nicht nur von Natur und Architektur. Sie leben vor allem von Menschen. Dabei steht das Franziskanerkloster mit Kirche in einem noch viel weiteren Kontext. 400 Jahre sind die Brüder des hl. Franziskus jetzt auf dem Berg. Vorher waren es die Benediktiner. Wenn es stimmt, dass bereits Bonifatius auf der damals Bischofsberg genannten Erhebung gebetet hat, dann ist es ein seit fast 1300 Jahren durchbeteter Ort.
Klostermauern: Auszeit im Andersort
Der Begriff Kloster kommt vom lateinischen claustrum und meint den abgeschlossenen Ort. Klöster hatten durch Jahrhunderte hindurch eine Klostermauer. Der Frauenberg auch. Die Mauer trennt das Innen vom Außen, hebt einen abgegrenzten Bereich als Andersort aus dem üblichen Alltagkontext heraus. Nun sind Klostermauer und Klausur wie überhaupt der Begriff Kloster eigentlich völlig unfranziskanisch. Franziskus wollte eben gerade keine abgeschlossenen Klöster. Er hat seine Brüder nicht hinter Mauern abgeschlossen, sondern zu den Menschen gesandt. „Unser Kloster ist die Welt“, sagen die Brüder in einer der frühen franziskanischen Quellenschriften. Und doch gibt es auch schon bei Franziskus den Andersort und die Anderszeit: Immer wieder zieht er sich in die Einsamkeit zurück, in die Einsiedeleien im Rietital und eben auch auf den Berg, auf die Carceri hoch über Assisi oder auf den La Verna in der Toskana, wo er zwei Jahre vor seinem Tod die Wundmale empfängt. Mauern sind nicht dazu da, um sich dahinter zu verkriechen oder zu verstecken. Sie haben Tore, und die laden ein zu einem zeitweiligen Ausstieg in einen Andersort, um dort bewusst Zeit zu haben für Gott. Das geschieht auf dem Frauenberg seit Jahrhunderten in unterschiedlicher Form: Hier haben sich junge Männer im Noviziat für ein Leben in der Brudergemeinschaft geprüft. Für die Mitglieder der Dreifachen Männerbruderschaft war der Frauenberg über Jahrhunderte ein geistlicher Orientierungspunkt. Bis heute kommen Frauen und Männer, um für einen Wüstentag, ein stilles Wochenende oder Exerzitien aus ihrem Alltag aus – und dann gestärkt wieder in ihren Alltag einzusteigen.
Inklusion und Gemeinschaft: ein Ort erzählt vom Reich Gottes
Seit sechs Jahren ist der Frauenberg ein inklusiver Ort. Im Gästehaus, im Klostercafé, in der Küche, im Garten und in der Schneiderei arbeiten Menschen mit und ohne Handicap. Der inzwischen selbstverständliche Alltag erzählt ebenso anschaulich wie einfach vom Reich Gottes: Jede ist anders. Jeder darf anders sein. Jeder hat seine Fähigkeiten und seine Begrenzungen. Jeder ist wertvoll. Jede ist wichtig. Gemeinschaft, Miteinander und Füreinander, Solidarität ermöglichen gelingendes und erfüllendes Leben. Für alle. In einem solchen Netzwerk bekommt das Evangelium Hand und Fuß, wird erfahrbare Wirklichkeit, gerade auch dort, wo es nicht explizit angestrebt und formuliert wird. Hier ist spürbar der Geist Gottes am Werk, der Menschen über alle Unterschiede und Grenzen hinaus verbindet und Begegnung ermöglicht. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“, sagt Martin Buber. Alle wirkliche Spiritualität auch. Christliche Spiritualität zeigt sich darum auf dem Frauenberg ebenso im Beichtstuhl wie im Klostercafé, bei der Feier der Eucharistie wie bei der gemeinsamen Arbeit im Garten.
IV.
Der Frauenberg ist ein besonderer, ein spiritueller Ort. Wir wollen ihn erhalten und gestalten. Ist das, was wir bedacht haben, nicht alles ein bisschen viel? Dabei steht manches ja auch in deutlicher Spannung zueinander: Der Frauenberg kann nicht ein Andersort sein, der zu Ruhe und stiller Auszeit einlädt, und zugleich ein faszinierendes Ausflugsziel, das Menschen in Scharen anlockt. Eine für alle offene Gastlichkeit darf den tatsächlich auch sakralen Charakter dieses Ortes nicht verwischen. Ein Garten, der zur Eventlocation mutieren würde, lädt nicht mehr ein zum ruhigen Verweilen. Darin liegt eine echte Herausforderung: Wie können diese verschiedenen Aspekte so kultiviert werden, dass sie sich gegenseitig nicht behindern, sondern ergänzen? Diesen Ort spirituell gestalten heißt darum sicherlich auch: Alles geht nicht. Spiritualität hat immer auch wesentlich mit der Unterscheidung von Wichtigem und weniger Wichtigem zu tun, mit Priorisierung und Positionierung, letztlich mit Beschränkung und Verzicht. Spiritualität meint nicht Wellness. Sie ist nie beliebig. Sie lebt von Entscheidungen.