Die Einsiedelei Fonte Colombo nimmt eine besondere Stellung im Leben des Franziskus ein. An diesem Ort erarbeitet Franziskus auf Drängen der römischen Kurie eine endgültige Regel. Die stetig anwachsende Bruderschaft braucht eine gewisse Strukturierung in ihrer Lebensweise. Einige Minister protestieren gegen dieses Vorhaben, denn sie befürchten, dass die Regel zu streng ausfallen könnte. Eine herbe Enttäuschung für Franziskus. Dennoch wird diese Regel als die Bullierte Regel vom Papst bestätigt.
An diesem Ort macht Franziskus auch seine ganz eigene Erfahrung mit „Bruder Feuer“. Von einem schweren Augenleiden geplagt, muss sich der Heilige einer schmerzlichen Therapie mit einem glühenden Eisen unterziehen. So wird Franziskus in Fonto Colombo in gewisser Weise an Grenzerfahrungen geführt. Beide Poole werden von dem Tau, dem Heilszeichen das Franziskus besonders verehrte, zusammengeklammert. Es findet seinen sichtbaren Ausdruck in dem gemalten Tau in der Magdalenenkapelle.
Fonte Colombo – der „franziskanische Sinai“
„Es ist gar nicht einfach, einfach zu leben.“ Die Wahrheit dieses Wortspiels erfährt auch Franziskus. Allein mag es ja noch einigermaßen gehen, aber bei einem Leben in Gemeinschaft oder mit Weggefährten treten die Probleme rasch zutage.
Einfach nach dem Evangelium leben – das ist der große Wunsch von Franziskus, nachdem es ihm nach einigen Um- und Irrwegen gelungen ist, seinen Lebensfaden zu finden. Nicht großartig theoretisch verkünden, wie man das Evangelium leben sollte, sondern es selber klar und schnörkellos leben. Als er damit beginnt, fühlt sich bald der eine oder andere – fasziniert von Franziskus’ Persönlichkeit und Authentizität – von dieser Lebensweise angezogen. Es bildet sich ein „Kreis“ um Franziskus, der einfach nach dem Evangelium leben möchte. Als sie ein Kreis von zwölf sind, machen sie sich auf den Weg nach Rom, um sich ihre Lebensform als kirchlich bestätigen zu lassen. Als „Regel“ haben sie sich vermutlich ein paar Sätze aus den Evangelien zusammengeschrieben. Und sie haben „Glück“: Papst Innozenz III. bestätigt ihre Regel – wenn auch wohl nur mündlich. Der Text dieser „Ur-Regel“ ist verloren gegangen. Aber wozu braucht man Schriftliches, wenn sowieso alles im Evangelium steht? Doch in dem Maße, wie die Gemeinschaft wächst, wird immer deutlicher, dass sie eine „geregelte Lebensform“ braucht, kirchlich anerkannt und für gut befunden. So verfasst Franziskus im Jahr 1221 eine Regel, die jedoch in Rom keine Zustimmung findet.
Die Stimme Christi aus der Luft
Im Jahr 1223 zieht sich Franziskus mit zwei Gefährten nach Fonte Colombo ins Rieti-Tal zurück. Der heilige Bonaventura schreibt dazu in seiner Franziskusbiografie: „Die (erste) Ordensregel war tatsächlich eine Zusammenstellung von Worten aus dem Evangelium und sehr umfangreich. Als er sie daher zur Bestätigung in eine knappere Form bringen wollte, begab er sich mit zwei Gefährten (…) auf einen Berg, wo er (…) sie so niederschreiben ließ, wie der Heilige Geist es ihm während des Gebetes eingab.“ Unter etwas mysteriösen Umständen geht diese Regel „verloren“. Bevor Franziskus sie neu schreiben kann, so berichtet Bruder Leo im „Spiegel der Vollkommenheit“, kommen leitende Brüder unter Führung des Bruders Elias zu Franziskus: „‚Diese Minister haben erfahren, dass du eine neue Regel schreibst, und sie befürchten, sie könne zu streng werden. Darum protestieren sie dagegen und erklären, sie wollen sich nicht darauf verpflichten lassen. Darum möchtest du die Regel für dich schreiben, nicht aber für sie.‘ Da schaute Franziskus zum Himmel auf und sprach zu Christus: ‚Habe ich dir, Herr, nicht gesagt, dass sie mir nicht glauben würden?‘ Da hörten sie alle aus der Luft die Stimme Christi, die antwortete: ‚Franziskus, in der Regel ist nichts von dir, denn alles, was in ihr steht, stammt von mir. Und ich will, dass sie nach dem Buchstaben,nach dem Buchstaben, nach dem Buchstaben beobachtet wird, ohne Glosse, ohne Glosse!‘ (…) Da wandte sich Franziskus an diese Brüder und sagte: ‚Habt ihr es gehört? Habt ihr es gehört? Soll ich es wiederholen lassen?‘ Die Minister erkannten ihre Schuld und gingen erschrocken und verwirrt von dannen.“
Aus dieser Begebenheit erwächst der Ausdruck vom „franziskanischen Sinai“. Fonte Colombo, der Ort, wo Franziskus die Regel, seine Lebensweise, von Gott selber erhält – so wie Mose auf dem Berg Sinai die Gesetzestafeln mit den Zehn Geboten.
Fonte Colombo: im Zeichen des Tau
Wer die Magdalenakapelle besucht, dem fällt sicher an der Wand das einfache, gerötete „T“ auf. Dieses „Tau“, mittlerweile gut gesichert hinter Glas, das möglicherweise auf Franziskus selbst zurückgeht, ist seit einigen Jahren zu einem Erkennungs- und Markenzeichen der franziskanischen Bewegung geworden.
Das Tau ist ein Symbol der Bibel. Sowohl der Prophet Ezechiel als auch die Offenbarung des Johannes erwähnen es als ein Zeichen der Erwählung, das jenen Menschen auf die Stirn gezeichnet wird, die beim letzten Gericht gerettet werden. „Das Tau“, so schreibt Leonard Lehmann in seinem Buch „Franziskus – Meister des Gebetes“, „ist sein (Franziskus) Lieblingszeichen, schon bevor er es auf dem Pergament (Brief) für Bruder Leo verwendet.“ Thomas von Celano schreibt (3 Cel 3): „Vertraut war ihm (Franziskus) vor allen anderen Buchstaben das Zeichen Tau. Mit ihm allein pflegte er seine Sendschreiben zu beglaubigen; mit ihm bemalte er überall die Wände und Zellen.“
Franziskus hat ein ganz eigenartiges Verhältnis zum Feuer. Obwohl er um seine zerstörerische Kraft weiß, ist es für ihn nichts Bedrohliches. Im „Spiegel der Vollkommenheit“ heißt es: „Unter allen niedrigen und gefühllosen Geschöpfen liebte er am meisten das Feuer wegen seiner Schönheit und Nützlichkeit. Daher wollte er nicht, dass man es schlecht behandle“.
Franziskus’ „Feuerprobe“
Franziskus hatte sich auf seiner Fahrt ins Heilige Land eine entzündliche Augenkrankheit zugezogen, die ihn fast erblinden ließ. In Fonte Colombo kommt es zu einem letzten Versuch, sich von dieser schmerzhaften Krankheit zu befreien. Mit einem glühenden Eisen versuchen Ärzte, die Nervenstränge zwischen Ohren und Augen zu verätzen, um so den Druck auf seine Augen zu mindern – ohne Narkose und ohne Erfolg. Franziskus soll diesen Versuch so kommentiert haben: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich keinen Schmerz gespürt und die Glut des Feuers nicht gefühlt habe. Und wenn es noch nicht genug war, dann soll der Arzt mich noch einmal brennen!“ Franziskus hat diese „Feuerprobe“ im wahrsten Sinn des Wortes bestanden.
Die Zahl der Sehenswürdigkeiten hält sich in Fonte Colombo sehr in Grenzen. Da ist die Kirche aus dem 15. Jahrhundert mit einem Holzrelief an der rechten Seitenwand, das den Widerstand der Minister gegen Franziskus‹ Regel darstellt. Wenn man Glück hat, steht hinter der Kirche die Tür zu Teilen der alten Einsiedelei offen. Ein kleines Museum ist dort eingerichtet, einige Räumlichkeiten zu besichtigen, darunter der Raum, in dem Franziskus sich der Augenoperation unterzogen haben soll. Ein wenig abseits liegt die Magdalenakapelle mit dem Tau und einigen Fresken. Schließlich führen ein schmaler Pfad und eine Treppe zum Sacro Speco, dem Ort, wo Franziskus die Regel geschrieben haben soll. Darüber steht eine kleine Kapelle, die dem heiligen Michael geweiht ist. Der Weg zur Taubenquelle, die dem Ort den Namen gibt, ist leicht zu finden.
Die Einsiedelei Fonte Colombo steht im Zeichen der Einfachheit. Einfach nach dem Evangelium leben – der Preis dafür kann unter Umständen hoch sein.