21.01.2021 Martina Kreidler-Kos

Der Traum von einer geschwisterlichen Welt

Die Neue Enzyklika von Papst Franziskus

 

Stell dir vor, jemand liegt im Straßengraben und du fährst einfach vorbei. Weil du sowieso zu spät für deinen nächsten Termin bist, weil du keine Ahnung hast, was du tun sollst, weil schon jemand anders kommen und sich kümmern wird. Papst Franziskus verdeutlicht am Gleichnis vom barmherzigen Samariter das Programm seiner neuen Enzyklika „Fratelli tutti“: Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft. Er wird zum Vorbild für Menschen, die sich berühren lassen von der Not, aber auch der Schönheit und der Würde der anderen. Doch es geht Franziskus nicht nur um die kleine, sondern auch um die große Perspektive: eine neue Weltordnung, die sich nicht an Einzelinteressen, sondern am Gemeinwohl ausrichtet. „Das scheint eine naive Utopie“, schreibt er hellsichtig, „aber wir können auf dieses höchste Ziel nicht verzichten“.

Vision einer Menschheitsfamilie

Mit dieser Enzyklika, die symbolträchtig am 3. Oktober 2020 in Assisi am Grab und Sterbeabend des heiligen Franz unterzeichnet wurde, widmet sich dieser Papst wieder leidenschaftlich dem großen Ganzen: der Idee einer besseren Weltgesellschaft, „in der es Platz für alle gibt …, und in der die verschiedenen Kulturen respektiert werden“. (155) Grundlage dafür ist die vorbehaltlose Anerkennung der Würde jedes einzelnen Menschen – jedes Mannes, jeder Frau, jedes Kindes. Vor allem an zwei Vorlagen knüpft Franziskus an: an seine vielbeachtete Enzyklika „Laudato si’“ und an die nicht ganz so viel beachtete, aber ebenfalls bahnbrechende Erklärung von Abu Dhabi, die er gemeinsam mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb am 4. Februar 2019 unterzeichnet hatte.

In acht Kapiteln entfaltet Franziskus seinen Traum von einer neuen, geschwisterlichen Welt und erhebt damit die Vision einer Menschheitsfamilie zur offiziellen Lehre der Kirche. Wieder wählt er den heiligen Franziskus als Patron für diesen Traum, und wieder legt er eine Gegenwartsanalyse vor, diesmal mit dem Fokus auf der sozialen Welt. Sie fällt düster aus: Die Gewalt in der Welt „hat Züge dessen angenommen, was man einen dritten Weltkrieg in Abschnitten nennen könnte«. (25)

Eine andere Logik

Aber er wäre nicht Papst Franziskus, wenn er in Hoffnungslosigkeit versinken würde. Seine Hoffnung ist biblisch fundiert und mit der Forderung einer „anderen Logik“ versehen: „Wenn man sich nicht bemüht, in diese Logik einzusteigen, werden sich meine Worte nach Fantasien anhören. Aber wenn man als grundlegendes Rechtsprinzip akzeptiert, dass diese Rechte aus der bloßen Tatsache des Besitzes einer unveräußerlichen Menschenwürde hervorgehen, kann man die Herausforderung annehmen, von einer anderen Menschheit zu träumen.“ (127) Grundaussagen von „Laudato si’“ werden wiederholt: die Überzeugung von der „gemeinsamen Bestimmung der Güter“ (124) und die Sensibilität für den Zusammenhang aller Dinge. Es geht um Teilen, Rücksichtnahme, Weitsicht – und an vielen Stellen auch um Verzicht um eines höheren Gutes oder der Gerechtigkeit willen.

Zauberwort Dialog

Für die Ermöglichung der neuen Weltgesellschaft gibt es ein Zauberwort: Dialog – „aufeinander zugehen, … einander zuhören, sich anschauen, sich kennenlernen, versuchen, einander zu verstehen, nach Berührungspunkten suchen“. (198) Franziskus drängt auf Verständigung. Einer der Schlüsselsätze der Enzyklika: „Der soziale Friede ist Handarbeit“. (217) Will heißen, Friede ist zu bewerkstelligen, und jede und jeder hat etwas beizutragen. (203) Der Papst verweist aber auch darauf, dass ein „Sozialpakt“ ergänzt werden muss durch einen „Kulturpakt“, der auch „die unterschiedlichen Weltanschauungen, Kulturen oder Lebensstile, … respektiert und berücksichtigt“ (219). Er nennt zwei »falsche Antworten“, die sich gerne als Lösungen für Konflikte präsentieren: den Krieg und die Todesstrafe. (255) Dabei scheut er die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nicht und verleiht seinem entschiedenen Akt, die Todesstrafe aus dem Katechismus der katholischen Kirche gestrichen zu haben, unmissverständlich Gehör. Weitere innerkirchliche Themen benennt er nicht, nur an wenigen Stellen blitzt Selbstkritik auf: „An Gott zu glauben und ihn anzubeten ist keine Garantie dafür, dass man lebt, wie es Gott gefällt … Paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden.“ (74)

Das Thema des interreligiösen Dialogs ist ihm ein Herzensanliegen. Für die Erklärung von Abu Dhabi wird er aus den eigenen Reihen scharf angegriffen. Man wirft ihm vor, den Wahrheitsanspruch des Christlichen aufzugeben und einen „Weltreligioneneinheitsbrei“ zu fördern. Mit dem souveränen Verweis auf die Erklärung des Zweiten Vatikanums über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen („Nostra aetate“) unterstreicht er am Ende der Enzyklika die Überzeugung, dass die Kirche „das Handeln Gottes in anderen Religionen schätzt“. (277) „Andere nähren sich aus anderen Quellen“, schreibt er, „für uns liegt die Quelle der Menschenwürde und Geschwisterlichkeit im Evangelium Jesu Christi.“ (277) Deshalb findet auch sein herzerfrischendes Zitat aus dem Film von Wim Wenders Platz: »Gott schaut nicht mit den Augen. Gott schaut mit dem Herzen. Und Gottes Liebe ist für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion. Und wenn er Atheist ist, ist es die gleiche Liebe. Wenn der Jüngste Tag kommt und es genug Licht auf der Erde gibt, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind, werden wir viele Überraschungen erleben.“ (281)

Schwestern und Brüder

Der Papst hat seiner Enzyklika mit Großimam Ahmad Al-Tayyeb einen muslimischen Paten gegeben. Das allein ist ein mutiger Schritt. Am Ende nennt er weitere und ausdrücklich nichtkatholische Inspiratoren: Martin Luther King, Desmond Tutu, Mahatma Gandhi und Charles de Foucauld. Was man vermisst, sind Inspiratorinnen. Es sind großartige Worte, und die Welt kann dankbar sein, dass sie jemand laut sagt. Aber dieser Jemand ist eben nicht nur Papst und ein Argentinier mit großem Herzen, sondern auch ein Kirchenmann, in dessen Welt es unproblematisch ist, wenn ausschließlich Gewährsmänner für seinen Traum herangezogen werden und Frauen vor allem als schutzbedürftige Wesen auftauchen.

Es hatte schon im Vorfeld Wirbel um den Titel der neuen Enzyklika gegeben: „Fratelli tutti“. „Wir Brüder alle“. Das klingt im Italienischen inklusiver als im Deutschen und ist ein Zitat aus einem Weisheitsspruch des heiligen Franziskus. Weder dem heiligen Franz noch Franziskus von Rom kann man vorwerfen, Frauen nicht im Blick zu haben. Franz von Assisi hat eine Schwesterngemeinschaft neben seinen Brüdern groß und eigenständig werden lassen, und auch Franziskus von Rom zeigt sich Frauenthemen gegenüber sensibel. Aber beide könnten von Franziskus‘ Weggefährtin Klara etwas lernen. Um 1250 schreibt sie als alte Frau einen Segen, in dem niemand sich nur mitgemeint fühlen muss: Der himmlische Vater segne euch und verleihe diesem seinem heiligsten Segen Kraft im Himmel und auf Erden. Auf Erden schenke er euch Wachstum in der Gnade und den Tugenden inmitten seiner Knechte und Mägde in seiner streitenden Kirche; im Himmel erhöhe und verherrliche er euch in der triumphierenden Kirche inmitten seiner heiligen Männer und Frauen. Ich segne euch in meinem Leben und nach meinem Tod, so sehr ich es vermag und mehr, als ich es vermag, mit allen Segnungen, mit denen der Vater der Erbarmungen seine Söhne und Töchter gesegnet hat und segnen wird im Himmel und auf Erden und mit denen je ein geistlicher Vater oder eine geistliche Mutter ihre geistlichen Söhne und Töchter gesegnet haben und segnen werden.“ (Klara-Quellen, Kevelaer 2012, 85–86.).

Nähe zu den Menschen

Dieser Papst ist weder für seine Stringenz noch für seine brillante Rhetorik bekannt. Sein Stil sind die großen Linien, der heilige Zorn, die packenden Bilder. Er schreibt in einfacher Sprache, damit er von allen verstanden werden kann, und er stellt seine Nähe zu den ganz normalen Menschen in seinen Themen und Formulierungen unverdrossen unter Beweis: Stellen wir uns also vor, wir lassen uns berühren von diesem Rundschreiben und halten das nächste Mal alle an, wenn einer oder eine im Straßengraben liegt. Wir wissen doch, was zu tun ist. Friede ist schließlich Handarbeit.

Erstveröffentlichung Zeitschrift Franziskaner Winter 2020


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