Bruder Jürgen Neitzert

Fraternitäten: ein einfaches Leben unter den Armen

800 Jahre franziskanische Geschichte in Deutschland - Vergegenwärtigung Teil 8

Das Wohnhaus der Franziskaner in der Burgstraße in Vingst. Bild Archiv Deutsche Franziskanerprovinz

In den Jahren nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurden eine Reihe kleine Fraternitäten gegründet, einige mit dem Schwerpunkt der Seelsorge, andere für die Ordensstudenten; alles aber Versuche, franziskanischen Lebensstil in neuer Weise und näher bei den Menschen zu leben. Ab den siebziger Jahren gründete die Sächsische Franziskanerprovinz die Gemeinschaften Holthausen mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung, Dortmund-Scharnhorst zum Aufbau einer neuen Großstadtgemeinde, Repelen in einer Arbeiterpfarrei und Recklinghausen-Stuckenbusch in einer ehemaligen Franziskanerpfarrei, Hamburg-Altona im Pfarrhaus, die Gemeinschaft in Bochum in der Grottenstrasse als Studentenfraternität und später Almerfeld als kontemplative Gemeinschaft. Die Kölnischen Franziskanerprovinz unterhielt in Münster Sternbusch und in Bad Godesberg ebenfalls Studentenfraternitäten. In der Bayerischen Franziskanerprovinz gab es eine kleine Studentengemeinschaft in der Mannhardtstraße, eine kleine Gemeinschaft in Nürnberg und schließlich in München das Omnibusprojekt für die Eltern schwerkranker Kinder mit einer kleinen Gemeinschaft in den letzten Jahren.

Einigen Brüdern, die in die kleinen Gemeinschaften drängten, ging es ausdrücklich um ein Leben unter den Armen. Kajetan Esser OFM (1913-1978), Franziskusforscher und Dozent für Soziologie an der Ordenshochschule in Mönchengladbach, trug erheblich dazu bei die Schriften des Franziskus und seine Gestalt neu zu entdecken. Sich für den Frieden einsetzen, nahe bei den Armen und Aussätzigen leben und erstmal durch das Mitleben predigen: das galt es umzusetzen in die heutige Zeit. Damit regte er die Ordensstudenten an, sich für ein Leben unter den einfachen Leuten und den Aussätzigen unserer Tage einzusetzen. Ein weiterer Einfluss erfolgte durch „Mitten in der Welt“, ein Buch des Begründers der Kleinen Brüder und Schwestern Jesu und des Evangeliums, René Voillaume.

Davon begeistert, besuchten einige junge Franziskaner der Kölnischen Provinz im Jahr 1968 den Kleinen Bruder Michael Delobeau, der seit 1961 in der Obdachlosensiedlung im Duisburger Gleisdreieck lebte. Mit dem Segen von Provinzialminister Michael Nordhausen fing am 6. Januar 1969 Joachim Stobbe in der Bottroper Strasse in den Übergangshäusern für Obdachlose in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Essener Viertel Brauk an: Toiletten auf dem gemeinsamen Flur, kein Badezimmer, eine kalte Wohnung. Joachims Arbeit für die nächsten fünf Jahre: in einem Presswerk Toilettenbrillen schleifen. Drei Monate später stieß Ulrich Gellert dazu: Er arbeitete zunächst als ungelernter Krankenpflegehelfer im Philippusstift, später lernte er in der Uniklinik die Krankenpflege. Peter Amendt war der Dritte und studierte in Bochum Soziologie. Sie kümmerten sich um Kinder und Jugendliche, gaben zusammen mit Helfern aus der Pfarrei in der Wohnung Hausaufgabenhilfe und unterstützten bei Alltagsproblemen. Ab 1971 wurden sie von den Germeter Schwestern Anastasia Bartsch und Doris und anderen Schwestern unterstützt, die in die Nähe der Pfarrkirche zogen.

1973 begann der Abriss der Siedlung, sodass Joachim die nächsten 2 Jahre in den Snatgang in Essen-Vogelheim zog. Auch die Schwestern zogen nach Vogelheim, bauten einen Vorkindergarten auf und gaben bis 2004 Hausaufgabenhilfe für die älteren Kinder und Jugendlichen. Ulrich ging 1974 mit zwei Brüdern in die Obdachlosensiedlung in der Würzburger Straße in Köln-Vingst. Er selbst blieb dort bis 1985.

Joachim zog nach der Zeit im Snatgang gemeinsam mit Karl Möhring 1976 in eine Obdachlosensiedlung auf die Hilgershöhe in Wuppertal und arbeitete 13 Jahre lang bei der Firma Neiman. Einige Jahre war er dort auch im Betriebsrat. Anschließend arbeitete er bis zur Rente für 8 Jahre bei Kugel Fischer. Zur „Hilgershöhe“ gehörte täglich Hausaufgabenhilfe durch Joachim und andere Brüder, die zeitweise mitlebten. Karl hatte zuvor bei den Kleinen Brüdern in Nürnberg mitgelebt und dann 1975 bei der Firma Opel in Bochum am Fließband angefangen, wo er bis zur Rente blieb. Als die Hilgershöhe 2004 abgerissen wurde, zog „Stobbe“ in die Heinrich-Böllstrasse und später in ein Evangelisches Gemeindehaus, ganz in der Nähe. Bis heute bietet er in katholischen Kindergartenräumen Hausaufgabenhilfe für die Nachbarkinder an.

 

Bruder Jürgen mit Jungs aus der Nachbarschaft. Neben einem einfachen Lebensstil in einer Mietwohnung gehört der direkte Kontakt zu den Menschen am Rand der Gesellschaft zum Modell einer Fraternität. Archivbild von 2010.

Karl begann ab 1985 neu für die Saxonia in der Obdachlosensiedlung Rottbruchstrasse in Herne. Dort lebte zweitweise Rudolf Dingenotto mit, der als Hafenarbeiter tätig war, und später auch Horst Langer, der in Castrop-Rauxel als Berufsschullehrer arbeitete. Horst lebt heute noch dort. Sie bauten eine Schulaufgabenhilfe auf und halfen den Bewohnern bei deren Alltagssorgen.

Die Thüringische Provinz startete 1991 mit drei Brüdern in einem Hochhaus in Frankfurt-Eckenheim eine Gemeinschaft. Markus Heinze bot dort Hausaufgabenhilfe für Migrantenjugendliche an. Bruder Benedikt Haag arbeitete 15 Jahre im Krankenhaus als Helfer. 2010 wurde die Gemeinschaft geschlossen.
Von 1990 bis 1993 zogen in der Colonia wir mit drei Brüdern in eine Sozialwohnung nach Köln-Bickendorf. Lukas Jünemann arbeitete in einem Lager und ich bei einer Fabrik, die Salate herstellte. Daraus erwuchs im Jahr 1994 ein Neuanfang mit fünf Brüdern in einer Wohnung, in der Burgstraße in Köln-Vingst, nun aber mehr mit dem Schwerpunkt der Seelsorge. Ich setzte die Jugendarbeit der kleinen Gemeinschaft in der Würzburger Straße für jugendliche Migranten fort. Die Gemeinschaft bestand dort bis 2019, die Arbeit mit den Jugendlichen ist mittlerweile an einen von mir begründeten Verein übergeben worden.

„Die Armen sind unsere Lehrer“, so hat ein Mitbruder einmal gesagt. Und das Leben mit den Armen hat unsere Mitbrüder die unter den Armen lebten, viel vom Evangelium gelehrt.


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