20.02.2025 Bruder Johannes-Baptist Freyer

Für eine nachhaltige Freiheit

800 Jahre franziskanische Geschichte: Freiheit und Verantwortlichkeit

Freiheit Petrus Johannis Olivi Stadt Mittelalter A8
„Stadtluft macht frei“ hieß es im Mittelalter. Doch was bedeutet eigentlich „Freiheit“? Die Überlegungen des Petrus Johannis Olivi dazu, einem Franziskaner aus dem 13. Jahrhundert, sind noch heute aktuell.

Nachhaltig investieren, verantwortlicher Umgang mit Ressourcen und die Klimakrise in den Griff bekommen sind heute wichtige politische Ziele. Viele diskutieren über diese Herausforderungen, aber gehandelt wird nur eingeschränkt und schleppend. Das Wissen um die kritische Situation, in der die Welt sich befindet, und die Bereitschaft entsprechend zu handeln, klaffen weit auseinander. Es gilt weiterhin: Die Wirtschaft muss wachsen und der konsumorientierte Lebensstandard erhalten bleiben.

Da mag es erstaunen, dass von einem so gut wie unbekannten Franziskaner des 13. Jahrhunderts Leitideen kommen, die auch in der heutigen Situation bedenkenswert sind. Es handelt sich um den aus der Provence stammenden Petrus Johannis Olivi (ca. 1248–1298) – zu seiner Zeit ein unbequemer Philosoph und Theologe, der immer wieder zum Schweigen gebracht werden sollte. Dennoch wurden seine Lehre und Schriften immer wieder zitiert, so auch von dem wichtigen Franziskanertheologen Johannes Duns Skotus und einem der berühmtesten Prediger auf den Marktplätzen des Mittelalters, Bernhardin von Siena. Rehabilitiert wurde er allerdings erst in unserer Zeit, u. a. von dem kanadischen Franziskaner David Flood, dessen Forschung Ausgangspunkt für diese Jahresserie über die franziskanische Geschichte ist.

Zu den großen Herausforderungen Olivis gehört das Thema der menschlichen Freiheit. Wer sich mit Olivis Freiheitsbegriff beschäftigt, wird feststellen, dass dieser sich im Widerspruch zu einem heute weitverbreiteten Freiheitsverständnis befindet. Heute sprechen viele von „Freisein von – um zu tun, was ich will, oder was mir Spaß macht“. Für Olivi ist Freiheit ein zentraler Begriff seines Menschenbildes. Ausgangspunkt der menschlichen Freiheit ist für ihn die Innerlichkeit eines jeden Menschen. Die Innerlichkeit, also die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis und ‑beurteilung, begründet die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung wiederum erlaubt dem Menschen, frei über sich selbst und sein Tun zu bestimmen.

Johannes Baptist Freyer lehrte als Professor für Theologiegeschichte und Franziskanische Theologie an der Päpstlichen Universität Antonianum in Rom. Von 2005 bis 2011 war er Rektor dieser Universität. Heute ist er Referent für franziskanische Grundsatzfragen an der Missionszentrale der Franziskaner in Bonn, „Franziskaner Helfen“.

Freiheit ist eine Dimension der Beziehung

Diese Freiheit ermöglicht es auch, als eigenständige Person anderen Menschen und der Welt so oder so zu begegnen. Sich anderen und der Welt gegenüber zu öffnen und sich darauf einzulassen, wird somit zur Bewährungsprobe für die eigene Freiheit. Freiheit ist für Olivi daher eine Dimension der Beziehung, die sich in der freien Zuwendung zeigt.

Der schönste Ausdruck von Freiheit in Beziehungen ist für ihn die Liebe. Erst die Liebe vollendet die Freiheit des Menschen. „Freiheit von“ wäre für Olivi ein Widerspruch zur „Freiheit für“. „Freiheit von“ beendet Beziehungen und bringt einen isolierten Individualismus hervor, der im Gegenüber einen Konkurrenten sieht und die Beherrschung von Welt und Natur erfordert. „Freiheit für“ dagegen wertschätzt Beziehungen, fördert und pflegt sie und fordert einen sorgsamen Umgang mit der Schöpfung.

Die Fähigkeit, die eigene Freiheit im Sinne Olivis zu verwirklichen, fällt nicht vom Himmel. Sie muss eingeübt werden. Dazu benennt er einige menschliche Qualitäten wie Selbstbestimmung, Selbstbeherrschung, Selbstreflexion, Autonomie, Selbstbewusstsein und Selbstüberschreitung. Diese Begriffe kennen wir auch aus der Moderne. Um sie aber nicht misszuverstehen, muss man Olivis Interpretation kennen:

Selbstbestimmung ist für ihn die Bereitschaft, für die eigenen Entscheidungen und Handlungen die Verantwortung zu übernehmen. Selbstbeherrschung meint die Fähigkeit, die eigenen Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche zu beherrschen, um nicht von ihnen abhängig zu sein. Also die Bereitschaft, das eigene Wollen zu hinterfragen und wenn nötig zu zügeln. Dies braucht Selbstreflexion, also das bewusste Bedenken und Bewerten von dem, was gedacht, geplant, angestrebt und getan wird.

Freiheit ist die Fähigkeit, nachhaltig für das Gute einzubringen

Die Autonomie macht laut Olivi das aus, was den Einzelnen unverwechselbar kennzeichnet. Für ihn ist dies eine von Gott jedem Menschen alleinig gegebene Begabung, die aus ihm, wie aus jedem Geschöpf, etwas Einmaliges macht. Aus dieser so verstandenen Autonomie folgt das Selbstbewusstsein oder die Selbstannahme – also die Bereitschaft, mich so anzunehmen, wie ich bin, und die mir geschenkten Begabungen zu entwickeln. Diese geförderten Begabungen sind es schließlich, die eine Selbstüberschreitung ermöglichen – also eine Erweiterung des eigenen Egos auf die anderen Menschen, die Welt und die Schöpfung hin.

Diese Qualitäten müssen geweckt und gefördert werden. Sie sollen den Menschen formen und ihm zur Freiheit verhelfen, die im Alltag entfaltet wird. Freiheit ist für Olivi die Fähigkeit, sich in dieser Welt nachhaltig für das Gute einzubringen.

Selbstbestimmung geht Hand in Hand mit Verantwortlichkeit

Diese Definition von Freiheit wird von Olivi auch als Seelsorger der Kaufleute, der Frauenbewegung der Beginen und vor allem in der Sorge für die Armen seiner Zeit konkret gelebt. In seinen Schriften über die Ethik des Handels, des Kaufens und Verkaufens, entwickelt er Leitlinien für eine funktionierende freie Marktwirtschaft. Händlerinnen, Kundinnen, Hersteller, Finanzgeber, Transporteure und die Arbeitskräfte haben ein Recht auf eine gerechte proportionale Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg des Marktes. Der Sinn der freien Marktwirtschaft ist es, dem allgemeinen Wohl zu dienen und Armut zu überwinden.

Einen besonderen Blick wirft Olivi auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen, vor allem auf die in der Schöpfung zur Verfügung stehenden Naturressourcen. Inspiriert durch die franziskanische Lebensform der Armut entwickelt er die Lehre vom „usus pauper“, dem genügsamen Verbrauch der Dinge. Anstelle von Verschwendung und Ausbeutung der Ressourcen soll eine Genügsamkeit praktiziert werden, die dem menschlichen Wohlbefinden zugutekommt. Der Mensch kann das nutzen, was dem Wohl und den Bedürfnissen eines menschenwürdigen Lebens dient, aber bewusst auf unnötigen Luxus und opulente Verschwendung von Mitteln und Gütern verzichten. Eine solche Genügsamkeit dient nicht nur dem gesundheitlichen und spirituellen Wohl des Menschen, es fördert zugleich ein friedvolles Zusammenleben und sichert den Erhalt und das Wachstum der natürlichen Ressourcen. Dabei geht es weniger um asketischen Verzicht auf die materiellen Freuden des Lebens, sondern vielmehr um einen genügsamen Umgang mit Ressourcen, der der menschlichen Zufriedenheit und den zukünftigen Lebensmöglichkeiten dient.

Freiheit meint die Bereitschaft, das Recht auf Leben für alle sicherzustellen

Zudem gibt es lebensnotwendige Güter, die keinen Preis haben dürfen, zum Beispiel das Wasser. Kein Mensch, kein Tier und keine Pflanze kann ohne Wasser leben. Daher gibt es ein Lebensrecht auf den freien Zugang zu Wasser für Menschen, Tiere und Pflanzen. Alle besitzen die Freiheit, sich das zum Leben notwendige Wasser zu nehmen. Daher ist Wasser weder käuflich noch verkäuflich und darf niemals zum Privatbesitz erklärt werden. Es ist Allgemeingut aller Geschöpfe. Die Gewinnung von Wasser durch menschliche Arbeit und der Transport des Wassers zum Ort des Verbrauches kann einen Preis haben. Diese Kosten, verbunden mit einer angemessenen Gewinnspanne, sind legitim. Aber für das Wasser selbst, ein allen zustehendes Grundlebensmittel, einen Preis zu verlangen oder den Besitz des Wassers zu privatisieren, ist unmoralisch.

Olivis Freiheitsbegriff schließt das Recht auf die lebensnotwendige Grundversorgung mit ein. Freiheit meint die Bereitschaft, einander und der Schöpfung das Recht auf Leben sicherzustellen. Eine solche Haltung der Freiheit bringt eine neue Lebensqualität mit sich: eine dem Allgemeinwohl dienende Freundschaftlichkeit und eine dem Schöpfungswohl dienende Verantwortlichkeit. Nachhaltig ist Freiheit dann, wenn sie durch das menschliche Verhalten gepflegt und gesichert wird. Daher ist es nach Olivi die wichtigste Aufgabe der Politik, der Kultur, der Lehre, der Familie und der Religion, eine solche Freiheitshaltung auszubilden und zu gewährleisten. Die erste Pflicht des Staates und der Kirche ist es, zu dieser nachhaltigen Freiheit zu erziehen.

Dies sind franziskanische Gedanken aus dem Mittelalter, die den Freiheitsbegriff und seine Konsequenzen im alltäglichen Handeln unserer angeblich so aufgeklärten Welt infrage stellen und angesichts der Umweltkatastrophen und Kriege zum Umdenken anregen wollen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift der Franziskaner – Winter 2024.


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