Mit dem Sonnengesang dichtete Franziskus im Winter 1224/1225 eine Hymne auf die von Gott ins Leben gerufene Schöpfung. In ihr lobt er Gott und pflegt zugleich einen geschwisterlichen Umgang mit der Natur. So spricht er die Gestirne, Wasser, Feuer, den Wind und die Erde, ja sogar den Tod mit Schwester oder Bruder an. Eine besondere Rolle erhält zudem „Bruder Sonne“, in dem Franziskus „ein Sinnbild“ des Schöpfers sieht, „strahlend mit großem Glanz“.
Neben der spirituellen Bedeutung für die franziskanischen Orden und darüber hinaus nimmt der Sonnengesang zudem eine Schlüsselrolle in der italienischen Geschichte ein. Denn das Gebet – verfasst in einem hochmittelalterlichen umbrischen Dialekt als „Cantico delle Creature“ – gilt als wichtigstes Zeugnis für die Volkssprache des 13. Jahrhunderts in Italien und als ältestes Zeugnis italienischer Literatur. Mit diesem Ursprung erklären sich übrigens auch die in manchen deutschen Übersetzungen eher befremdlich wirkenden Anreden „Bruder Sonne“, „Schwester Mond“ oder „Schwester Tod“.
Drei Zugänge zum Sonnengesang
In diesem Jahr feiert der Sonnengesang nun sein 800-jähriges Jubiläum. Zum Auftakt der Feierlichkeiten ließ es sich Generalminister Massimo Fusarelli nicht nehmen, Franziskaner aus der ganzen Welt auf das Jubiläum einzustimmen. In einem Online-Seminar, bei dem mehr als 500 leitende Franziskaner und Laien teilnahmen, führt er hierfür drei verschiedene Ansätze zur Interpretation des Sonnengesangs aus:
- Vision der universellen Geschwisterlichkeit: Der Sonnengesang beschreibt durch seine Ansprache von Sonne, Mond, Wind, Feuer und Erde als Brüder und Schwestern eine universelle Geschwisterlichkeit des Menschen mit der Schöpfung. Dies erinnere die Menschen daran, nicht nur untereinander für Frieden und soziale Gerechtigkeit zu sorgen, sondern auch im Verhältnis zur Natur auf einen gewissenhaften Umgang zu achten.
- Die Fähigkeit, die göttliche Gegenwart auch im Leiden zu sehen: Als Franziskus den Sonnengesang verfasste, litt er an einer Augenkrankheit, die ihn beinahe erblinden ließ. Doch durch eine göttliche Offenbarung erhielt er die Gewissheit, dass er durch das Ertragen der Krankheit zur ewigen Freude des Himmelreichs gelangen werde. Dies inspirierte ihn zum Sonnengesang und solle die Menschen dazu ermutigen, auch in Krisen niemals die Hoffnung zu verlieren.
- Verbindung zwischen Kontemplation und Aktion: Die 8. Strophe des Sonnengesangs spricht von jenen, „die verzeihen um deiner Liebe willen“ und widmet sich so explizit der Versöhnung. Dies solle die Menschen daran erinnern, dass die Kontemplation zu einem Engagement für Gerechtigkeit und Versöhnung führt.
Universelle Geschwisterlichkeit und Hoffnung als Leitsätze
Mit Blick auf die multiplen Krisen unserer Zeit betonte Bruder Massimo, dass der Sonnengesang einen anderen Weg aufzeigt, das Erdreich zu besitzen; nicht Aggression, sondern universelle Geschwisterlichkeit sollte die Menschen anleiten. Das Jubiläum des Sonnengesangs sei daher auch als Gelegenheit zu begreifen, das Engagement für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung zu erneuern. Hierfür sei es auch wichtig, enger mit zivilen Akteuren zusammenzuarbeiten. Zudem solle man mit spirituellen Strömungen in Austausch treten, die dem Prinzip der universellen Geschwisterlichkeit ebenfalls folgen, wie etwa dem Buddhismus und Hinduismus.
Abschließend widmete sich Bruder Massimo noch der Hoffnung, die ja auch Leitthema des diesjährigen Heiligen Jahres ist: Hoffnung sei nicht fiktiv, sondern aktiv. Hoffnung sei eine Harmonie, die unsere Unterstützung und unseren Beitrag erfordert. Und der Sonnengesang erinnert alle daran, dass sie Brüder und Schwestern sind, die sich um den jeweils anderen und das gemeinsame Haus kümmern müssen.
Link zum Online-Seminar mit Bruder Massimo Fusarelli, Generalminister des Franziskanerordens, vom 15. Januar 2025. (YouTube)