Bruder Franz Richard

Gerechtigkeit

Unzeitgemäße Tugenden

Yad Vashem, Denkmal für die Kinder. Bild: Kristin Scharnowski / pixelio.de
Yad Vashem, Denkmal für die Kinder. Bild: Kristin Scharnowski / pixelio.de

Kaum eine andere Empfindung erleben wir so intensiv wie das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Das geht an den Kern unserer Person. „Das ist nicht gerecht“, sagt ein Kind, wenn es nicht genauso viel bekommt wie das andere oder wenn beim Spiel die Spielregeln nicht eingehalten werden, wenn betrogen wird. »Das ist nicht gerecht«, sagen Erwachsene, wenn Arbeiter eines Betriebes entlassen werden und die Manager Boni in Millionenhöhe einstecken.

Die Tugend der Gerechtigkeit hat mit Recht und Gleichbehandlung zu tun. Geschriebene und ungeschriebene Regeln sollen eingehalten werden. Was dem anderen zukommt, soll auch mir zukommen. Wobei wir genau wissen: So gleich aufgeteilt ist die Welt leider nicht. Es gibt Unterschiede. Diese Erfahrung ist schmerzlich, aber oft arbeiten wir uns dazu durch, diese Realität zu akzeptieren. Wer viel Verantwortung trägt, darf auch entsprechend entlohnt werden. Sonst wird die Gleichheit wieder zur Ungerechtigkeit. Aber es gibt Verhaltensweisen und Situationen, die verletzen das Augenmaß, sind Unrecht und werden richtigerweise auch als Ungerechtigkeit empfunden. Man kann fragen: Was ist das –ein Gerechter? Ein Mensch, der sich ans Recht hält, der sucht, alle gleich zu behandeln? Ja – aber das wäre zu wenig.

Ein Gerechter geht über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus. Er hat das Ganze und die einzelnen Menschen im Blick. Diese Rücksicht bewahrt ihn davor, seine individuellen Interessen absolut zu setzen. Sie bewahrt ihn vor Egoismus und führt zu einer Haltung, die die Tugend der Gerechtigkeit heißt; also zu einer Liebe, die dem anderen zukommen lässt, was ihm guttut, ohne die weiteren Menschen im Umkreis aus dem Blick zu verlieren. Deswegen ist die Tugend der Gerechtigkeit mehr als ein Zustand, sie bezeichnet eine Haltung, dass man sich immer neu um gerechte Verhältnisse im nahen und fernen Lebenskreis bemüht.

Jesus preist solche Menschen selig: „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit“. (Mt 5,10) Vor der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erinnert eine Allee von Bäumen an Menschen, die im Unrechtssystem des Dritten Reiches unter Einsatz ihres Lebens das Leben anderer Menschen gerettet haben. Diese Allee heißt „Allee der Gerechten“. Die Kraft zu diesem Einsatz kann für einen gläubigen Menschen aus dem Glauben an Gott hervorgehen. Gott hat seine Gerechtigkeit darin erwiesen, dass er den Menschen aus Gnade gerecht macht. Einfach deshalb, weil er gut sein will, und nicht, weil wir Menschen ein Anrecht auf seine Gnade hätten. Seine Gerechtigkeit ist ein Ausdruck seiner Huld und Treue. Gott – so sagen wir – hätte sich nicht so verhalten müssen, aber er hat seine berechtigte Enttäuschung über uns Menschen beiseitegeschoben, weil er die Erde und alles, was auf ihr lebt, liebt. Das ist seine Art von Gerechtigkeit.

Tugend kommt von „taugen“ im Sinne einer allgemeinen Tauglichkeit. Darunter versteht man eine Fähigkeit und eine innere Haltung, das Gute leicht und mit Freude zu tun.

Erstveröffentlichung Zeitschrift „Franziskaner“ Frühjahr 2010


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