Pater Laurentius Englisch OFM, Jahrgang 1939, lebt im Franziskanerkloster Vossenack (Eifel). Er ist katholischer Priester, Kunsterzieher und bildender Künstler (Grafik, Relief und Skulptur). Von 1970 bis 1975 studierte er an der Kunstakademie in Düsseldorf, u. a. als Meisterschüler bei Joseph Beuys und Beate Schiff.
Laurentius, du bist bildender Künstler, als Bildhauer und Maler weit über die Grenzen der Region tätig und bekannt. Du versuchst, Menschen mit deiner Kunst zu konfrontieren und gewohnte Sichtweisen infrage zu stellen. Ich möchte mit dir über das Thema »Wunde« in deinen Kunstwerken sprechen. Es nimmt einen bedeutsamen Platz in deinen Werken ein. Doch vorab erst einmal die grundsätzliche Frage an dich: Welches Bild hast du vom Menschen?
Pater Laurentius Englisch: Der Mensch ist ein verletzlicher. Die größte Wunde im Leben des Menschen ist seine Erkenntnis der Kontingenz, der Endlichkeit, der Sterblichkeit. An dieser unverrückbaren Tatsache hat er zu knabbern – sein Leben lang. Auch wenn er versucht, die Gewissheit des Limits auszublenden. Hinzu kommen die Erfahrungen des Lebens in der eigenen kleinen und der großen Welt: Unser Leben ist unsicher. Jede und jeder hofft, durch viele Absicherungen dieser Unsicherheit zu begegnen. Doch was für das eigene persönliche Leben noch in gewisser Weise funktioniert, wird in den großen Weltzusammenhängen nicht mehr möglich.
Du denkst an die großen Unsicherheiten, die durch Kriege, Aufrüstung, Klimawandel, Flüchtlingsströme in unsere Wohnzimmer kommen?
Das sind Realitäten, mit denen wir konfrontiert sind. Und sie greifen nach unserem Leben. Die unsichere Welt stößt uns vom Sockel der Gewissheiten und des »Sich-eingerichtet-Habens« in eine große Verunsicherung. Alle diese Fragen landen gerade auf unseren Tischen, du hast sie ja schon aufgezählt. Der Mensch sucht Sicherheit und braucht Sicherheit, um zu handeln, und wenn sie nicht zur Verfügung steht oder wackelt, steht der Mensch kopf. Leben ohne Sicherheiten ist eine der größten Wunden, die der Mensch zu tragen hat.
Was, denkst du, ist die größte Verunsicherung?
Letztendlich ist es die Frage nach sich selbst. Wer bin ich? Was bin ich? Dazu das Grundempfinden: Ich bin hineingetaucht in den Tod und kann dem nicht ausweichen. Ob der Mensch dann glaubt, auch in die Auferstehung hineingenommen zu sein, das kann man ihm nicht aufdrücken. Das bleibt eine Glaubensfrage, die jeder Mensch für sich beantworten muss.
Wenn du auf die heutige Welt schaust, was kommt dir in den Sinn?
Dass wir uns selbst am meisten verwunden. Mit all dem Unversöhnten in uns, mit all den Unbarmherzigkeiten, die wir einander zufügen, mit all den Gräueln, die wir weltweit erleben. Wie ich schon sagte: Die Wunde des Menschen ist seine Verletzbarkeit. Beuys, bei dem ich studiert habe, hat das fordernd – oder einladend – so gesagt: Zeige deine Wunde! Du kannst sie nicht verstecken. Nur wenn du sie sichtbar machst, kann Heilung stattfinden. Was wir aus der Medizin wissen, gelingt uns aber im alltäglichen Leben oft nicht. Dann sind wir Meister des Versteckens. Oder nimm das Flüchtlingsthema: Jeder Mensch ist legitim. Wir alle sind nur Gast auf unserer Erde mit unserem mühevollen Leben, das einige Jahrzehnte dauert. Milliarden werden für Aufrüstung ausgegeben, um angeblich unsere Werte zu schützen. – Nach 2000 Jahren Christentum sollte nicht mehr Unterwerfung, sondern Barmherzigkeit das Leben leiten. Aber wir fürchten uns vor allem Fremden und grenzen deshalb Andersdenkende aus.
Du hast dich mit der Geschichte von Franziskus, seinen Lebensbeschreibungen und der Legendenbildung auseinandergesetzt. Wie siehst du das Thema Wunde bei Franziskus verortet?
Franziskus‘ Leben ist umrankt von Legenden und Mythen. Wir können sie nehmen und lesen, müssen uns aber immer wieder vor Augen halten, dass sie in der Gegenwart neu verstanden sein wollen, um für unser Leben Gültigkeit zu haben. Hier ist das Bild vom verwundeten Menschen, vom Aussätzigen. In ihm kann ich Christus erkennen. Zum Jahr der Barmherzigkeit, das Papst Franziskus ausgerufen hat, habe ich für unsere Klosterkirche dieses Bild „Francesco e misericordia“ gemalt. Es bezieht sich auf die Begegnung von Franz von Assisi mit dem Aussätzigen, dessen Binden des Leidens sich durch die Zuwendung lösen. Es ist die Gestalt des geschundenen, verletzten Christus. Darin können die Betrachtenden auch die Ausgegrenzten, die Fremden, die Abgewiesenen erkennen, aber auch die eigenen Verletzungen und Nöte. In der Annahme des Fremden, des Leidenden, des In-Not-Geratenen sind wir von der Barmherzigkeit Gottes eingehüllt, so wie der rote, bergende Mantel die Gestalten umgibt. Es ist ein Bild der Gotteserfahrung. Das lateinische Wort »misericordia« besagt: ein Herz für die Misere, das Unglück, die Notsituation haben. Franziskus ekelte sich anfänglich sogar vor den Aussätzigen. Er überwindet die Verachtung und erkennt so den lebendigen Christus; der Aussätzige wird ihm zum Bruder, und die Abneigung wandelt sich zur Freude. Das Bild spricht so von Umkehr und von neuem Leben, von Ostern, von Auferstehung, von der Heilung von Wunden.
Was fasziniert dich am meisten an dieser Darstellung?
Dieses Bild hat fast eine erotische Ausstrahlung, in der Intimität der Begegnung und Berührung menschlicher Körper. In der Begegnung erkennt der Gläubige das Ebenbild Gottes, werden die einzelnen Personen zu einer Lebensgestalt. Totenbinden lösen sich, die Stricke fallen auseinander. Brüchiges Leben wird sichtbar. Gleichzeitig erinnert es an die Auferweckung des Lazarus wie im Johannesevangelium (Kapitel 11) beschrieben. So als würde ihm Christus oder Franziskus oder ein anderer Mensch zurufen: Bindet ihn los! Macht ihn frei! Im Verwundeten kann ich Christus erkennen. Dabei ist das Leid nicht zu mystifizieren, Leid ist immer Not des Menschen, sein Schmerz kann seine Verwandlung werden. Das Kreuz wollte Jesus nicht verewigen, sondern uns erlösen. Ich möchte die Sehnsüchte des Menschen sichtbar machen: die Sehnsucht nach Heil, nach Geborgenheit. Vielleicht kann Kunst Dinge sichtbar machen, die eigentlich nur mit dem Herzen zu sehen sind. Die Umarmung des Franziskus mit dem Aussätzigen zeigt, was Franziskus gelebt hat.
Schauen wir auf das Werk »Stigmata des heiligen Franziskus« …
Franziskus lässt sich von den Wundmalen Jesu berühren. Auf dem Bild sehen wir, wie der Seraph zum Überbringer der Wundmale wird. Wie die beiden Köpfe fast miteinander vereinigt sind, so ist in den Wundmalen eine innige Beziehung zwischen Christus und Franziskus zu erkennen. Ich frage mich: Was wird umarmt? Im Grunde unseres Herzens umarmen wir nicht die Wunden. Auch Christus wollte nicht leiden, er ist nicht gerne ans Kreuz gegangen. Er wollte nicht leiden, aber durch sein Leben bis in den Tod, rein aus Liebe, hat er uns Heilung gebracht.
Eine der zentralen Darstellungen ist bei dir der Wolf von Gubbio …
… und diese Erzählung verdichtet noch einmal, was Franziskus gelebt hat: das Verstehen und die Versöhnung. So können wir sie uns immer neu in Erinnerung rufen. Ein Wolf versetzt die Menschen von Gubbio in Angst und Schrecken, sie können ihre Stadt nicht mehr allein verlassen. Franziskus kann diesen Zustand nicht ertragen. Er geht unbewaffnet auf den Wolf zu und schließt mit ihm Frieden. Er anerkennt den Hunger des Wolfes, der ihn zu den Raubzügen verleitet und sichert ihm Nahrung zu. Die beiden schließen ein Bündnis. Der Wolf legt seine Tatze in die verwundete Hand des Franziskus.
Das heißt für mich: Aggressionen und Wunden gehören zusammen zu unserem Leben. Es gibt eine Wirklichkeit in uns, die angeschaut werden muss. Wir brauchen keine Romantik in die Legende hineinzulegen, sondern müssen entdecken: Das Animalische gehört dazu! Was Darwin uns sagte, ist eine starke Kränkung bis heute. Der Wolf ist in uns. Allein diese Wahrheit anzuerkennen, tut weh. Franziskus können wir hier in einer tieferen Sicht sehen: Er begegnet dem Wolf in Ehrfurcht und erkennt ihn als Geschöpf Gottes an. Bleiben wir in der Lieblosigkeit stecken, kann sich nichts verwandeln. Auferstehung aber geschieht durch Umarmung. Indem Franziskus einen Teil seiner Wirklichkeit im Wolf erkennt und diese umarmt, kann Versöhnung stattfinden. Die klassische Legende über die Wunde ist der Wolf. Wer ist der Wolf? Bruder Wolf ist der, der mich ärgert, aber er kann mir auch den Himmel erschließen.
Um noch einmal auf die drei Werke zu blicken: die Umarmung des Aussätzigen, die Stigmatisation, der Tanz mit dem Wolf – welchen Auftrag liest du daraus für uns?
Wir müssen uns mit unseren Kräften versöhnen, damit sie nicht unkontrolliert einem anderen schaden.
Und was braucht es, um zueinander zu finden?
Wie kann Frieden gelingen? Wir werden erst Frieden finden, wenn wir aufhören, die Menschen in Gut und Böse einzuteilen, und uns versöhnen. Das ist auch unsere Berufung, einander auf dem Lebensweg beizustehen und aus allen Ängsten herauszurufen zur Freiheit und zum Glück.
Vielen Dank, Laurentius, für dieses anregende Gespräch! Und dafür, dass du an der Hoffnung festhältst, dass wir als Menschen durchaus das Potenzial haben, in aller Verschiedenheit Versöhnung zu wagen.