Bruder Johannes-Baptist Freyer

Gleichwie Pilger und Fremdlinge

Heimat im franziskanischen Verständnis

Für Franziskus ist das Leben des gläubigen Christen ein fortwährender „Transitus“. Verwurzelt in der Geschwisterlichkeit.
Bild von Archiv Deutsche Franziskanerprovinz.

Wer den heiligen Franziskus, seine Lebensform und Spiritualität näher kennenlernen will, begibt sich auf eine Reise in seine Heimat nach Assisi in Umbrien. Oft kann man dann von Assisi-Reisenden, die durch die Gassen des mittelalterlichen Städtchens schlendern, hören: „Es ist, als ob Franziskus jeden Moment um die Ecke biegen könnte.“ So romantisch die Heimatstadt des Heiligen auf heutige Besucher und Besucherinnen auch wirken mag, es ist die Stadt, von der er selbst in seinem Testament schreibt: „Und danach verließ ich diese Welt. „Franziskus selbst erscheint eher als heimatlos und froh, dass er aus dem väterlichen Gefängnis und der Enge der Stadtmauern, die seine bürgerliche Welt zwar schützen, aber einen Großteil der Menschen aus verschiedensten Gründen ausschließen, befreit ist. So jedenfalls sehen es seine Biografen, wie etwa der zeitgenössische Dichter und Minderbruder Julian von Speyer: „Er legte alle seine Kleider ab, behielt nicht einmal die Unterkleider und gab alles dem Vater zurück. „So blieb er völlig nackt vor allen zurück und bezeichnete sich als heimatlos in der Welt. Wer seine Heimat verliert oder aufgibt, dem bleibt oft nichts als das nackte Leben.

So beginnt Franziskus das Leben derjenigen zu teilen, die innerhalb der Stadtmauern keine Heimat finden und längs der Wege betteln. Unter den Unbehausten, seinen neuen Freunden, findet er auch zu einem gewandelten Gottesbild. Er entdeckt, dass auch der Sohn Gottes, Jesus, ein Heimatloser am Weg ist. „Denn das heiligste, geliebte Kind ist uns geschenkt und geboren für uns am Weg (…), weil es keinen Platz in der Herberge hatte.“

Man beachte, wie Franziskus betont, dass Jesus für uns auf dem Weg geboren wurde und von Anfang an ein Fremdling in dieser Welt war. Heimatlosigkeit wird als Ungeborgenheit auf dem Weg erfahren, und Gott teilt solidarisch diese Unbehaustheit. Für Franziskus und seine ersten Brüder wird diese Erfahrung eines „Fremdlings auf dem Weg“ zur Lebensform. So lässt er in seiner Regel für die Bruderschaft schreiben: „Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache. Und gleichwie Pilger und Fremdlinge in dieser Welt, die dem Herrn in Armut und Demut dienen, mögen sie voll Vertrauen um Almosen bitten gehen und sollen sich dabei nicht schämen, weil der Herr sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat.“

Es gibt also kein Haus noch einen Ort und keine materielle Absicherung, die den Brüdern Heimat bieten könnte. Sie wählen das Leben jener vielen Fremdlinge ihrer Zeit, denen eine Heimat verwehrt bleibt, weil sie von der städtischen Gesellschaft und auch der Kirche nicht angenommen werden. Aber gerade unter diesen Ausgegrenzten finden sie zu Gott.

Um als Fremde in dieser Welt zu überleben, schlagen die Brüder Wurzeln in der alternativen Lebensform der Geschwisterlichkeit, die ihnen zur neuen Heimat wird und die sie auch mit anderen Fremdlingen auf dem Wege teilen. Nicht mehr der geografische und materielle Ort bietet die lebensnotwendige heimatliche Verortung, sondern die Verwurzelung in der geschwisterlichen Beziehung wird zur neuen Heimat auf dem Weg. Heimat ist jetzt überall dort, wo der oder die andere als Schwester und Bruder wahrgenommen werden. Als Wanderprediger, die das Evangelium verkünden, verstehen sich die ersten Brüder mit Franziskus allerdings nicht als heimatlose Vagabunden, vielmehr erschließt sich ihnen die zeitgenössisch verbreitete Frömmigkeit des Pilgerseins auf neue Weise. Als Pilger und Fremdlinge in dieser Welt wollte Franziskus, „dass die Brüder nach den für Pilger geltenden Gesetzen lebten: Unter fremdem Dach wohnen, friedfertig durch die Welt gehen und heißes Verlangen tragen nach dem Vaterland“.

Die franziskanischen Quellen beschreiben diese Haltung mit dem für die franziskanische Spiritualität wichtig werdenden lateinischen Wort „transire, transeo, transitus“ (hinübergehen, überqueren, vorbeiziehen). Das Wort bringt zum Ausdruck, dass die Welt als Durchgang, nicht als Heimat verstanden werden soll, denn das Leben des gläubigen Christen ist ein fortwährender „Transitus“. Verwurzelt in der Geschwisterlichkeit beheimatet Franziskus seine und der Brüder und Schwestern Lebensform in einer dem Evangelium gemäßen „neuen Welt und Zeit“. Daher sahen viele in ihm ein kommendes Zeitalter schon angebrochen oder erkannten ihn als Zeugen der künftigen, jenseitigen Welt, als Boten des Himmels. In dieser Welt ist der Pilger und Fremdling heimatlos, ortlos, mit einem anderen Wort „utopisch“, sodass er seine Heimat außerhalb dieser Welt sucht. Dieser auf dem Weg gesuchte Ort einer neuen Heimat ist aber nicht utopisch im Sinne einer nie zu erreichenden Fiktion. Dieser Ort hat seine Beheimatung, in der konkreten Person Jesu Christi und in dem von ihm verkündeten Reich Gottes. Aus diesem Grunde lebt der Pilger und Fremdling nicht in der Vergangenheit, im Mythos, sondern in der Zukunft. Diese Haltung des „Auf-dem-Weg-Seins“ stellt das jeweils Bestehende infrage. Die zukünftige angestrebte Beheimatung ist Gesellschafts-, Politik- und Kirchenkritik im wahrsten Sinne des Wortes.

Dennoch entzieht dieses Fremdsein in der Welt dem Menschen nicht den Boden unter den Füßen, den notwendigen Halt und die Sicherheit, derer der Mensch, gerade auch im Bereich des Glaubens, bedarf. Im Gegenteil: Angesichts der Vergänglichkeit dieser Welt verleiht das angestrebte Pilgerziel dem Menschen den einzigen Standpunkt, der eine krisenfeste Beheimatung ermöglicht. Verwurzelt in der Geschwisterlichkeit und als Pilger und Fremdlinge unterwegs in die zukünftige Heimat verfällt Franziskus nicht der Weltverachtung, und der Weg wird auch nicht zur Weltflucht. Im Gegenteil, nach ihrer Beheimatung im Kloster befragt verweisen die Brüder auf die ganze Welt: „Das ist unser Kloster.“

Dem Fremdling, der sich für eine universale Geschwisterlichkeit einsetzt und der sich als Pilger auf den Weg macht, um sich im Geiste des Evangeliums eine neue Beheimatung in der Gerechtigkeit, im Frieden, in der Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung, sprich: im von Jesus Christus verkündeten Reich Gottes zu suchen, dem wird die ganze Welt zur Heimat.

Erstveröffentlichung Zeitschrift Franziskaner Herbst 2020


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