Jede Zeit hat ihre Zauberwörter. Ein Zauberwort unserer Zeit scheint der Begriff „Resilienz“. Resilienz meint die psychische Stärke und Widerstandsfähigkeit eines Menschen, die ihm hilft, mit einer Krankheit, durchkreuzten Plänen, dem Verlust eines Menschen und anderen Krisen so umzugehen, dass er dennoch lebendig bleibt. Das Bild vom Stehaufmännchen wäre zu platt, aber es lässt erahnen, was Resilienz für einen Menschen bedeutet: Er hat die Fähigkeit, bei Schwierigkeiten nicht gleich aufzugeben und aus einem Loch heraus wieder auf die Beine zu kommen.
Am 4. Oktober feiern wir das Fest des heiligen Franziskus. Sein mittelalterlicher Biograph berichtet eine Episode aus der Zeit bald nach seiner Bekehrung, die zeigt, dass er solche Lebensenergie besaß: „Als er einmal durch einen Wald ging und frohen Herzens dem Herrn Loblieder sang, sprangen Räuber aus dem Versteck hervor und fielen ihn an. Als sie ihn drohend fragten, wer er sei, gab er ihnen voll Zuversicht zur Antwort: ‚Ich bin ein Herold des großen Königs.‘ Da verprügelten sie ihn, warfen ihn in eine Grube voll Schnee und riefen: ‚Da sollst du liegen, du Tölpel von einem Herold Gottes!‘ Er aber sprang, als sie weggegangen waren, aus der Grube heraus, und von großer Freude erfüllt, begann er mit noch lauterer Stimme dem Schöpfer aller Dinge auf seinem Wege durch die Wälder zu lobsingen.“ Eine schöne Geschichte! Seine tiefe Gottesbeziehung befähigt Franziskus, sich von Widerstand und Ablehnung nicht unterkriegen zu lassen. Er fällt in ein Loch – aber er bleibt nicht darin liegen, sondern „springt“ wieder heraus, weil er überzeugt ist, dass Gott ihn berufen und gesandt hat, ihn hält und begleitet.
Einem scheinbar ganz anderen Franziskus begegnen wir am Ende seines Lebens. Als er am 3. Oktober 1226 nackt auf der Erde stirbt, entdecken die Brüder, dass er verwundet ist, an Händen und Füßen und an seiner Brust. Er blutet. Zwei Jahre zuvor hat er in einer mystischen Erfahrung die Wundmale Christi erhalten. Als junger Mann war er mit schwerer Rüstung in den Krieg gezogen, um gegen alle Verletzungen geschützt zu sein. Diesen Panzer hat er später ausgezogen, ebenso wie seine modischen Kleider als Sohn eines angesehenen Textilkaufmanns. Schritt für Schritt hat er gelernt, sich berühren und betreffen zu lassen: von einem Aussätzigen, den Armen, dem frierenden Kind in der Krippe von Bethlehem, dem Gefolterten am Kreuz, dem Skandal einer evangeliumsfernen Kirche. Wer sich von Christus berühren lässt, lässt sich auch von den Menschen berühren. Und umgekehrt. Gerade der verwundete Franziskus wird zum Bild Christi. So war das ja auch mit Jesus. Einmal platt gesagt: Im Himmel war er sicher, weit weg vom Elend der Welt. Aber er verlässt diesen Himmel und macht sich in seiner Menschwerdung verletzlich. Nun erfährt Gott am eigenen Leib, was das heißt: frieren, Hunger haben, müde sein, weinen, Schmerzen haben, mit dem Tod kämpfen … Und ihn hat die Not des Volkes berührt: Der Hunger der Menschen. Der Hilfeschrei eines Bartimäus. Der Schmerz der Witwe in Nain. Er hat am Schluss selbst geblutet aus unzähligen Wunden. Gott selbst geht an Weihnachten das Risiko der Verwundbarkeit ein. Sie gehört zum Menschsein dazu.
Was sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheint, gehört zusammen wie zwei Seiten einer Medaille: Manchmal müssen wir stark sein. Wir brauchen eine gewisse Stabilität, damit uns nicht jede Negativerfahrung gleich umhaut. Das aber hat nichts mit Gefühllosigkeit zu tun und einem Egoismus, dem fremdes Leid völlig egal ist. Zum Menschsein gehört es genauso dazu, Verletzlichkeit zu riskieren, sich von der Not anderer berühren zu lassen und in echtem Mit-Leiden solidarisch zu sein. Franz von Assisi konnte aus seiner Christusbeziehung heraus „stark“ sein und er konnte „schwach“ sein. „Du bist die Stärke!“, sagt er zu Gott. Aber auch „Du bist die Demut!“
Ich wünsche Ihnen zum Franziskustag 2020 etwas von der inneren Glaubensfreude des Heiligen, die ihn befähigt hat, sich den Schwierigkeiten des Lebens zu stellen und sich nicht unterkriegen zu lassen. Zugleich aber wünsche ich uns auch die Bereitschaft, uns berühren zu lassen vom dem Schicksal anderer Menschen und solidarisch mit ihnen auch Schwäche und Begrenztheit auszuhalten. Leichter wird das Leben dadurch nicht. Aber menschlicher und Christus-näher, wie bei Franziskus.