Grenzen der Selbstbestimmung

Ein Kommentar von Bruder Stefan

Leben ist ein kostbares Geschenk, das ich jeden Tag annehmen darf. Aber darf ich es auch ablehnen und meinen letzten Sonnenaufgang selbst wählen? Bild von Picabay.com, Free-Photos

Nein, ich möchte nicht elendig zugrunde gehen am Ende meines Lebens. Nein, ich möchte keine Angst haben, letztlich mit großer Atemnot zu ersticken. Ich kann sie daher verstehen, die Menschen, die unter schweren Krankheiten wie beispielsweise ALS leiden, die ein solches Ende befürchten. Ich kann nachvollziehen, dass sie es möglichst erst gar nicht so weit kommen lassen möchten. Wohl niemand wünscht einem anderen ein solches Leid und qualvolles Ende. Und doch ist darüber zu diskutieren, was „Selbstbestimmung“ in Bezug auf mein Lebensende heißt. Leben ist ein Geschenk. Ich habe es mir nicht selbst gegeben. Über meinen Anfang haben andere entschieden. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist langsam gewachsen und gereift. Steht mir, wenn schon nicht mein Anfang, dann wenigstens als Erwachsener die Selbstbestimmung über mein Ende zu? Eine schwierige Frage, auf die es vielfältige unterschiedliche Antworten gibt. Die einen jubeln und sehen in der Sterbehilfe einen „Akt der Humanität“, die anderen einen „Verstoß gegen die Menschenwürde“.

Festzuhalten bleibt, dass gerade am Lebensende die vermeintliche Selbstbestimmung häufig in eine Fremdbestimmung umschlägt. Dazu tragen die natürlichen Altersfaktoren von Demenz und körperlichem Verfall bei. Die Abhängigkeit von medizinischen Maßnahmen nimmt in der Regel am Ende des Lebens stark zu. Aber darf ich deswegen meinem Leben ein Ende setzen?

Und in welcher (Lebens)Situation und in welchem Alter gilt das Recht auf Selbstbestimmung? Das neueste Urteil des Bundesverfassungsgerichts sagt: Jederzeit und immer. In jedem Augenblick meiner Existenz gilt dieses Persönlichkeitsrecht. Ich habe jederzeit das Recht, mir das Leben zu nehmen und andere darum zu bitten, mich darin zu unterstützen. Nicht wenige sehen darin eine Perspektive und Absicherung und werden Mitglied in einer Sterbehilfeorganisation, beispielsweise bei Dignitas oder Exit in der Schweiz.

Bislang hatte unsere Rechtskultur die Selbstbestimmung geschützt, aber zugleich dem Lebensschutz einen hohen Stellenwert eingeräumt. Insofern ein radikaler Bruch bisheriger Rechtstradition. Jetzt gilt eine uneingeschränkte Autonomie. Wer keine Norm außerhalb seiner selbst in Form eines Absoluten, eines Gottes, zulässt, beruft sich ausschließlich auf sich selbst und setzt die Selbstbestimmung als obersten Wert. Diese ist als solche ein hohes Gut, doch aus christlicher Perspektive ist es Gott vorbehalten, das Leben eines Menschen als ein ihm geschenktes zu beenden. Insofern gilt für mich, dass ich an der Hand eines Menschen sterben möchte, aber nicht durch die Hand eines Menschen. Ich hoffe, dass ich im Fall des Falles palliativmedizinisch und schmerztherapeutisch gut versorgt werde und durch eine fürsorgliche pflegerische und seelsorgliche Begleitung ein schmerzfreies Sterben möglich ist.

Die Entwicklungen in den Niederlanden, Belgien und der Schweiz mit ihren liberalen Sterbehilfegesetzen zeigen mir, wohin diese Entwicklung führt. Immer mehr Menschen suchen den Weg der Suizidbeihilfe – häufig nicht aus Krankheitsgründen, sondern aus Einsamkeit oder dem Wunsch, den Angehörigen nicht zur Last zu fallen. Mit den Kritikern des Urteils befürchte auch ich, dass der (subtile) Druck auf alte und kranke Menschen enorm steigt, vom verfügbaren Angebot der Sterbehilfe Gebrauch zu machen.

Es ist nachgewiesen, dass geschäftsmäßige Angebote zu mehr Selbsttötungen führen. Jetzt ist der Gesetzgeber erneut am Zug, denn es ist ihm durch das Urteil nicht untersagt, die Suizidhilfe zu regulieren. Er muss nur sicherstellen, dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibe. Es braucht die Einführung von Beratungs- und Wartepflichten für Suizidwillige ebenso wie die Kontrolle von Sterbehilfevereinen.

Zutreffend und zu bedenken scheint mir die Abwägung des evangelische Theologen Reiner Marquard, die die schwierige Balance, die es zu halten gilt, verdeutlicht: „Wer nur auf die Karte der Selbstbestimmung setzt, unterschätzt jene Lebens- und Sterbekultur, in der es elementar um den Beziehungsreichtum menschlicher Nähe geht… Wer umgekehrt nur auf die Karte der Fürsorge setzt, unterschätzt die Würde eines selbstbestimmten Lebens und Sterbens. Auch wer schwer krank ist, bleibt Subjekt seiner Lebens- und Sterbegeschichte. Der jeweils andere Aspekt bewahrt die eigene Sicht vor dem Extrem.“

Als Christ habe ich mich darauf einzustellen, dass in immer mehr Bereichen des säkularen Staates andere ethische Maßstäbe gelten als die, für die ich einstehe. Da helfen kein Jammern und kein Klagen und auch kein Protestieren. Diese Entwicklung werde ich, werden wir, werden die Kirchen nicht aufhalten. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Explizit christliche Werte spielen in einem zunehmend säkularer werdenden Staat immer weniger eine Rolle. Hierin könnte jedoch die Chance eines deutlicheren Profils unseres christlichen Markenkerns liegen.


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