„Die Menschen sind schlecht – jeder denkt an sich, nur ich denk an mich!“ – In der Schule habe ich diesen Kanon gelernt. Wohl dem, der es vermag, sich selbst auf den Arm zu nehmen. Aber stimmt das: Jeder denkt an sich? Sind die Menschen im Grunde schlecht? Es ist zumindest eine gängige Welt- und Menschensicht. „Bad News are Good News – Good News are Bad-News“, heißt ein Slogan. Kein Wunder, dass gefühlt 80 % der Nachrichten in unseren Medien eher negativ sind – sie berichten von Gewalttaten, Betrügereien, Ehedramen, Missbrauchsskandalen. Und ja, es gibt diese ganze Bandbreite auch im Miniformat: Irgendwie hängen wir alle mit drin im Bosheitsnetz des homo sapiens. Wie kommt es, dass ein junger Schriftsteller ein Buch schreibt mit dem Titel „Im Grunde gut“ und auf 400 Seiten die Behauptung ausbreitet: Der Mensch ist keine zutiefst verdorbene Spezies, sondern er will eigentlich das Gute. Rudger Bregmann ist ein niederländischer Historiker, der Anfang 2019 beim Weltwirtschaftsforum in Davos Furore machte, als er forderte, die Milliardäre angemessen zu besteuern. Eine seiner Thesen im Buch, wird mir im Gedächtnis bleiben: „Das Böse ist stärker als das Gute, aber das Gute ist viel häufiger“. Stimmt! Das Verhalten in der Corona-Krise belegt diese Behauptung: Die rücksichtslosen Krawallmacher (einige Tausend) haben die Schlagzeilen, die Vernünftigen (einige Millionen), denen die eigene Gesundheit und die der anderen am Herzen liegt, fallen nicht auf.
Bregman stellt zunächst die beiden Philosophen Thomas Hobbes und Jean Jaques Rousseau gegenüber. Der eine macht die Erfahrung, dass der Mensch im Grunde ein egoistisches Geschöpf ist, das schlimmste unter allen Lebewesen, dem es nur auf den eigenen Nutzen ankommt. Darum – so Hobbes – habe der Mensch im Lauf der Geschichte eine Zivilisation geschaffen, sozusagen als Notwehrmaßnahme gegen sich selbst. Regeln, Gesetze, Sanktionen und der Staat dienten dazu, aus dem Raubtier Mensch ein zivilisiertes Wesen zu machen, das auf diese Weise einigermaßen in Frieden leben kann. Also: Die Zivilisation zähmt die Natur. Rousseau hat den entgegengesetzten Ansatz: Der Mensch war in seiner Frühgeschichte als Jäger und Sammler frei und solidarisch, alles gehörte allen, der Sinn für das Gemeinsame überwog die Privatinteressen. Das Übel kam durch die Sesshaftwerdung des Menschen. Der Land bebauende Mensch beansprucht Eigentum und verteidigt es dann auch. Daher kämen alle menschliche Bosheiten und ihre Folgen: Neid, Raub und Krieg. Bregman ist ein Rousseau-Anhänger, er belegt das „Im-Grunde-gut-sein“ des Menschen mit vielen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart. Seine These: Der Mensch hat es in der Geschichte nicht aufgrund von Eigennutz, Machstreben und Rücksichtslosigkeit so weit gebracht, seine „Karriere“ ist vielmehr die Folge seiner Grundtendenz zu Freundlichkeit und Solidarität.
Zwei Fragen stellen sich. Erstens: wie kommt es, dass die negativen Nachrichten sowohl zahlenmäßig als auch in ihrer Wirkung wesentlich dominanter sind als die positiven? Der Grund ist nach den Ergebnissen der Evolutionsbiologie darin zu se-hen, dass in unseren Anlagen (und auch in denen anderer Lebewesen) ein ausge-prägtes Angst-Warnsystem steckt. Dieses ist zum Überleben notwendig. Die Negati-verfahrungen, etwa Bedrohungen durch Naturgewalten oder andere Lebewesen, prägen sich tief ins kollektive Gedächtnis ein, um uns für künftige Gefahren zu sensibilisieren und im Notfall auf Flucht oder Kampf zu schalten. Positive Erfahrungen haben dagegen weder im individuellen noch im kollektiven Gedächtnis eine so nachhaltige Wirkung.
Zweitens: Wie kann es – wenn der Mensch doch im Grunde gut ist – so gewaltige Humankatastrophen wie den Nationalsozialismus, die Weltkriege oder die Killing Fields in Kambodscha geben? Hier finde ich die Argumentation Bregmans nur teil-weise überzeugend. Eine seiner Antworten: Bei aller Gutmütigkeit ist der Mensch vor allem ein „Herdentier“ und damit ein notorischer Mitläufer. Es ist die Haltung: „Wenn es alle so machen, dann kann ich nicht anders.“ Oder: „Ein anderer hat bestimmt schon die Polizei angerufen.“ Die Wurzelsünde ist also nicht die Bosheit, sondern die Feigheit. Nicht weil die Menschen so abgrundtief schlecht sind, geschehen Humankatastrophen, sondern weil ihnen die Zivilcourage fehlt. Bregman belegt diese These an diversen Beispielen der jüngsten Geschichte. Er zeigt beispielsweise, dass Menschen, die mit ihren Gegnern kommunizieren, seltener bereit sind, ihnen zu schaden, als jene, die es nicht tun. Und dass autonomes Denken gegenüber Autoritäten Gräueltaten und Kriege verhindert hat.
Das Buch endet mit zehn Lebensregeln, die animieren, dem Guten in uns mehr Vertrauen und mehr Spielraum zu schenken. Eine hat mich am meisten überzeugt: „Oute dich, schäme dich nicht für das Gute“. Ganz nach dem Gebot Jesu: „Man zündet auch nicht eine Leuchte an und stellt sie unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter; dann leuchtet sie allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5, 15 f.)
Produktinformation
- Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
- Verlag: Rowohlt Buchverlag; Auflage: 5. (10. März 2020)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 3498002007
- ISBN-13: 978-3498002008
- Originaltitel: De Meeste Mensen Deugen/Humankind, 2019
- Preis: 24,00.- Euro