Lukas Neu, Veröffentlicht in der Zeitschrift Franziskaner 2022/4

Mit Bruder Gabriel im Wohnmobil durch Meckpomm

franziskanisch unTerwegs

Mit Bruder Gabriel Zörnig im Wohnmobil durch Mecklenburg-Vorpommern. Bild von Ingmar Nehls.

Sieben Stunden Fahrt im ICE von Frankfurt am Main über den Berliner Hauptbahnhof nach Neustrelitz, einer kleinen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Im Ruhebereich des Zuges wird nicht geredet, man beschäftigt sich mit sich und nicht mit anderen. Ich komme am Bahnhof an, und mir fällt auf, dass ich an diesem Tag noch kein persönliches Wort mit einer anderen Person gewechselt habe. Am Bahnsteig steht ein Mann in braunem Franziskaner-Habit. Da wir uns noch nicht gesehen haben, bin ich im Vorteil und weiß sofort, dass das die Person ist, mit der ich die nächsten beiden Tage verbringen werde. Ich gebe mich zu erkennen, und Bruder Gabriel Zörnig begrüßt mich freundlich. Fast bin ich überfordert von den vielen Fragen, die er an mich hat. Doch ich spüre sofort sein aufrichtiges Interesse, und so bin ich bereit, mit ihm mehr als Small Talk zu machen. Im nächsten Moment finde ich mich im Döner-Laden im Bahnhofsgebäude wieder. Wir essen und führen unsere Unterhaltung fort. Sie wird immer wieder unterbrochen, denn Bruder Gabriel spricht jeden an, der den zehn Quadratmeter großen Imbiss betritt. Die Reaktion ist immer gleich: ein kurzer Moment der Skepsis, eine verhaltene Antwort, weitere Fragen von Bruder Gabriel, und die Menschen steigen in das Gespräch ein. Es fällt sofort auf: Dieser Franziskaner hat eine heute seltene Eigenschaft oder vielleicht auch ein Talent, Menschen ohne jegliche Zurückhaltung anzusprechen. Dabei ist es egal, welches Geschlecht, Alter oder welche Hautfarbe die etwaigen Gesprächspartner haben. – Jede Person ist eine Möglichkeit zum Dialog.

 

Ankommen

Im positiven Sinne schnell, spontan, aufgedreht und direkt. So würde ich Gabriel Zörnig nach diesen zwei intensiven Tagen beschreiben. Der Bruder erreicht Menschen dann besonders gut, wenn er in Bewegung ist. Vielleicht ist das ein Grund, warum er sich als Seelsorger nie an einen Ort wirklich binden konnte. Die Arbeit in Fulda, mit Antonius, der Stiftung für Menschen mit Behinderungen, und auch die Leitung einer Pfarrei in Halle sei zwar erfüllend gewesen, doch etwas habe ihm immer gefehlt, konstatiert Bruder Gabriel im Rückblick. Die Idee, zurück zu den franziskanischen Wurzeln zu gehen, sei ihm schon immer wichtig gewesen, nun aber sei sie konkret geworden. Während dieser Zeit habe er vier Vorschläge erarbeitet, mit denen er den damaligen Provinzial, Cornelius Bohl, aufsuchte. „Alle Häuser der deutschen Provinzen besuchen“ und die Arbeit der Mitbrüder erleben, die franziskanischen Quellen in Jerusalem und Assisi aufsuchen, also „ad fontes“, franziskanische Gruppen oder Gemeinschaften begleiten oder „itener“ (unterwegs sein, reisen). Der letzte Vorschlag kam beim Provinzial gut an. Bruder Gabriel sollte ein konkretes Konzept für ein Projekt „franziskanisch unTerwegs“ ausarbeiten: mit einem Wohnmobil Mecklenburg-Vorpommern zu bereisen, in verschiedenen Orten Halt zu machen und mit Menschen auf der Straße, bei Veranstaltungen und kirchlichen Aktivitäten ins Gespräch zu kommen. Nachdem die Provinzleitung überzeugt war, kam die zweite Hürde: Das Erzbistum Hamburg musste sein Projekt ebenfalls bewilligen. Aber auch die Verantwortlichen dort konnte er überzeugen, dass ein solches Projekt gerade in einer Region, in der wenige Christen leben und Katholiken eine ganz kleine Minderheit sind, ein sinnvoller und der Situation angemessener Versuch sein könnte. Bruder Gabriels größtes „Verkaufsargument“ ist nach wie vor: „Wenn die Menschen nicht mehr in die Kirche kommen, muss die Kirche zu den Menschen kommen.“ So begann am Pfingstsonntag im Jahr 2021 seine Reise ins Ungewisse. Und gerade mit dieser Ungewissheit und den ständigen Ortswechseln wirkt der Franziskaner auf mich so, als sei er genau jetzt angekommen.

 

Das rollende Kloster

Aufbruch in die Innenstadt aus dem » rollenden Kloster«, das hier vor der katholischen Kirche in Neustrelitz steht. Bild von Lukas Neu
Aufbruch in die Innenstadt aus dem » rollenden Kloster«, das hier vor der katholischen Kirche in Neustrelitz steht. Bild von Lukas Neu

Das alte Wohnmobil hat sichtbar schon viel erlebt. Es steht bei meiner Ankunft vor dem Pfarrhaus in Neustrelitz – ein zentraler Ort in der kleinen Stadt, an dem täglich viele Menschen vorbeikommen. Außen ist es mit Fahnen, Bannern und Blumen dekoriert. Im Innenraum ist alles vorhanden, was für das tägliche Leben benötigt wird, aber auch nicht wirklich mehr. Es ist Rückzugsort, Küche, Speisesaal, Gebets- und Gesprächsraum sowie Taxi und Hotel in einem. Das Licht funktioniert nur manchmal, und die Standheizung ist gerade defekt. „Ich hoffe, du frierst nicht so schnell“, sagt Bruder Gabriel beim Betreten seiner kleinen Behausung. Es ist gemütlich, und ein bisschen Urlaubsatmosphäre schwingt mit, wenn wir uns auf den kleinen Bänken gegenübersitzen. Der stolze Besitzer erklärt mir, dass er theoretisch die Möglichkeit habe, für ein paar Tage autark zu sein, es aber zu schätzen wisse, wenn er, wie hier, die Küche und Waschräume des Pfarrhauses nutzen könne. Schnell wird klar, welche Bedeutung der Ford Charisma von 1993 für ihn hat. Er ist nicht nur ein Fahrzeug, sondern sein persönliches „rollendes Kloster“. Oft komme es vor, dass sich intensive Gespräche hierher verlagern. Wenn Leute wirklich das Bedürfnis haben, länger mit ihm zu reden, lädt er sie in sein kleines Heim ein. Bei Kaffee oder Tee entstehen dann meist die tiefer gehenden Unterhaltungen.

Häufiger hat Bruder Gabriel aber auch Begleiter auf Zeit. Mal seine Schwester, seine, wie er sagt, beste Mitarbeiterin Veronika oder auch Freunde. Viele ihm nahestehenden Personen leisten ihm zeitweise Gesellschaft. Zu diesen Zeiten wird dann mehr als einer der vier Schlafplätze im Wohnmobil genutzt. Bruder Gabriel erwartet von seinen Gästen, dass sie, wie er, aber auf ihre jeweils eigene individuelle Weise, auf Menschen zugehen. „Die meisten kostet es am Anfang Überwindung, aber wenn sie einmal auf den Geschmack gekommen sind, möchten sie meist gar nicht mehr aufhören.“ Und auch für ihn sei es schön, gelegentlich nicht allein unterwegs zu sein.

 

Nicht allein

Sowohl die Jünger Jesu als auch die Brüder in der Zeit von Franziskus waren immer zu zweit unterwegs. Bruder Gabriel hingegen bestreitet seine Reise eigentlich allein. „Natürlich wäre es schön, zu zweit unterwegs zu sein, aber dann muss die Chemie auf so engem Raum wirklich stimmen“, sagt er auf meine Nachfrage. Bis jetzt habe zudem noch kein Mitbruder von sich aus vorgeschlagen, ihn zu begleiten. Das Ganze ist ein Experiment, bei dem sich im letzten Jahr trotz Corona gezeigt hat, dass es funktioniert. Die Akzeptanz im Bistum und auch in der Franziskanerprovinz wachse stetig, berichtet Bruder Gabriel. Dazu trägt auch der Blog bei, den der Franziskaner regelmäßig schreibt und auf der Website des Projektes veröffentlicht. Stichpunkte in seinem Notizheft über besondere Erlebnisse und Erkenntnisse führt er am Ende des Tages zu einem kurzen Blog-Beitrag zusammen, den er für die Öffentlichkeit zugänglich macht. Der Blog zeigt, wie abwechslungsreich seine Tage verlaufen, dass es nie einen festen Plan gibt und wenn doch, dass sich dieser meist wieder verändert. Aber vor allem wird deutlich, dass der Franziskaner eigentlich selten allein unterwegs ist. Es begleiten ihn Freunde und Familie, er trifft Menschen, die ihn von vorherigen Besuchen kennen, die ihn eine gewisse Zeit begleiten, ihn zum Essen oder auf eine Tasse Kaffee einladen.

 

Geprägt vom Gefängnis

Ein junger Mann aus Neustrelitz sucht dringend nach einer Wohnung. Bruder Gabriel wird selbst tätig, nachdem er hört, dass der Mann von mehreren Vermietern aufgrund des Hartz-IV-Bezugs abgelehnt wurde. Bild von Lukas Neu

Gabriel Zörnig erzählte immer wieder von den acht Jahren, die er im „Knast verbrachte“. Damit meint er seine Zeit als Gefängnisseelsorger in der ehemaligen Jugendanstalt (jetzt Jugendvollzugsanstalt) in der Nähe von Neustrelitz und den Gefängnissen in Bützow und Neubrandenburg. Die Zeit mit den Gefangen hat den Franziskaner sichtlich geprägt. Nicht nur mir berichtet er von verschiedenen Anekdoten, wie er die Regel in den Arrestanstalten bis zum äußersten strapaziert hat, um den Gefangen wenigstens kleine Freuden zu bereiten. Auch bei seinen Begegnungen kommt seine Zeit im Gefängnis immer zur Sprache, auch weil er gerade durch diese Tätigkeit in Neustrelitz eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Sein Humor begleite ihn schon sein ganzes Leben, auch wenn dieser nicht bei jedem so gut ankommen würde, berichtet Bruder Gabriel. Witze hätten ihm damals geholfen, ins Gespräch mit den oft scheuen Jugendlichen zu kommen, und sie seien auch heute noch die beste Möglichkeit, um bestimmte Gesprächssituationen mit Menschen aufzulockern. In der Auseinandersetzung mit den Insassen konnte er viele Erfahrungen sammeln, die ihm heute helfen, Dialoge so zu führen, dass Menschen sich öffnen können und auch existenziellere Gespräch möglich werden.

 

Begegnen

Begegnen ist aus meiner Sicht der zentrale Begriff, wenn es um die Arbeit von Bruder Gabriel geht. Er begegnet Menschen, und er begegnet ihnen bewusst. Es ist kein zufälliges Aufeinandertreffen. Der Franziskanerpriester geht auf die Menschen zu, und dabei ist es komplett egal, wo er oder wer sein Gegenüber ist. Blickkontakt aufbauen, an die Menschen herantreten und das Gespräch mit einer Frage eröffnen. So läuft es in den meisten Fällen ab. „Wissen Sie, wo ich die katholische Kirche hier finde?“, fragt er beispielsweise eine Mutter mit ihren drei Töchtern, die uns auf dem Bürgersteig entgegenkommen. Die Frau ist im ersten Moment verwundert und beginnt gleich darauf, zusammen mit ihren Kindern, den Weg zu erklären. Als sie uns die Route skizziert hatten, meint Bruder Gabriel: „Sie sind gut informiert, aber natürlich weiß ich, wo die katholische Kirche ist. Da komme ich nämlich gerade her. Ich wollte nur erfahren, ob Sie es auch wissen.“ Die Verwirrung ist allen ins Gesicht geschrieben. Bruder Gabriel erklärt in kurzen Zügen, wer er ist, was sein Projekt ist und welche Rolle ich an diesem Tag einnehme. Das Eis ist gebrochen, und ein Gespräch entwickelt sich. Die Familie hat Geschenke für Weihnachten gespendet. Wir erfahren viel über das Leben der vier Menschen, mehr als ich gedacht hätte. Es ist eher ein Dialog zwischen guten Bekannten als mit einem eigentlich Fremden, den sie vor wenigen Minuten kennengelernt haben. Auch meine Anwesenheit wird trotz Kamera nicht als störend oder abschreckend wahrgenommen. Irgendwann wird deutlich, dass die Familie weitergehen möchte. Für den Bruder ist das kein Problem, aber nicht, ohne dass alle eine seiner Segenskarten gezogen haben. Eingeleitet wird das Ganze wie bei jeder Begegnung: „Es gibt keine Nieten, aber auch keine Kreuzfahrt zu gewinnen.“ Jeder darf nur eine Karte ziehen, und einmal darf man tauschen, falls der Segen überhaupt nicht passt.

Auffällig für mich ist, dass die Kirche in den meisten Fällen gar nicht oder nur sehr kurz Thema ist. „Ich bin nicht in der Kirche.“ „Ich kann mit Kirche nichts anfangen“. Das sind Sätze, die häufiger fallen, wenn der Franziskaner sich vorgestellt hat. Bruder Gabriel gibt daraufhin klar zu verstehen, dass er auch nicht hier sei, um über Kirche zu sprechen. Er lenkt die Gespräche auf eine persönliche Ebene, will wissen, was die Menschen jeweils persönlich in ihrem Leben bewegt. Viele von ihnen nehmen diese Einladung an und berichten über ihre Vergangenheit, ihre derzeitige Situation und was ihnen auf dem Herzen liegt. Warum viele Gesprächspartner sich darauf einlassen, kann ich nur schwer sagen. Auch Bruder Gabriel selbst fällt es nicht leicht, eine Antwort zu formulieren. „Anders als im Gefängnis können die Menschen ja einfach weitergehen“, scherzt er wie so oft während einer Unterhaltung. Das, was ich in den zwei Tagen bei unzähligen Personen erlebt habe, ist auch mir selbst im Gespräch mit diesem Franziskaner widerfahren. Auch ich habe über meine persönliche Situation gesprochen, wie es dazu kam, und an welchen Stellen ich unsicher bin. Bruder Gabriel schafft es, aus meiner Sicht unbewusst, den Menschen eine Form von Sicherheit zu vermitteln, die es für sie einfach macht, sich zu öffnen. Er bietet einen geschützten Raum ohne Wertung. Er ist nicht belehrend oder gar missionarisch. Er bietet Hilfe an, indem er zuhört, nachfragt und an den richtigen Stellen Impulse gibt, die Menschen weiterhelfen. Er zeigt seinen Gesprächspartnern ganz beiläufig und auf einer persönlichen Ebene, was Glaube und Vertrauen in Gott heißen kann.

 

Links: Aus der Frage, wo es in der Nähe ein Cafe gibt, entsteht ein längeres Gespräch, während uns die Dame dorthin begleitet. Rechts: Auch die Zeitschrift Franziskaner wird von Bruder Gabriel in die Gespräche eingebunden und an Interessierte weitergegeben. Bild von Lukas Neu

Natürlich ist nicht jeder Erstkontakt ein Erfolg. „Ich solle die Menschen nicht überfahren, wurde mir vor Projektbeginn gesagt“, erinnert sich Bruder Gabriel. „Aber genau das ist doch meine Taktik.“

Trotz seiner offenen und authentischen Art erfährt auch er immer mal wieder Ablehnung. Wichtig sei es zu erkennen, wann man hartnäckig bleiben kann und wann ein Nein wirklich ernst gemeint ist. Auch dann bleibt der Franziskaner freundlich, wünscht einen schönen Tag und zieht seiner Wege. „Ablehnung ist natürlich nichts Schönes, aber es darf nicht dazu führen, dass du dich runterziehen lässt oder gar aufgibst“, sagt er mir während unseres Interviews. Am Ende des Tages überwiegen immer die positiven Aspekte des Tages, betont er. So habe es auch noch keinen Tag während des Projektes gegeben, an dem er die Entscheidung bereut habe.

Bis in den November will er noch mit seinem Wohnmobil unterwegs sein, bevor er die Wintermonate in Waren an der Müritz verbringt. Wenn alles so läuft wie geplant, geht es dann im Februar wieder los. Wohin steht noch nicht fest. Aber wie immer bei dem reisenden Franziskaner wird sich schon etwas ergeben. Auf die abschließende Frage, wie lange er das Projekt noch machen möchte, sagt er: „Solange ich es noch kann und es mir Spaß macht.“


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