23.12.2022 Bruder Helmut Schlegel

Gerade an Weihnachten …

<> Der Kommentar der Woche

Oft ist das, was uns beschäftigt, uns sorgt und uns Angst macht, auch die Quelle für das, was jetzt dran ist. Mit dem Blick auf die Welt aus ihrer Perspektive kommentieren Franziskaner jeden Freitag, was sie wahrnehmen.


Bruder Helmut Schlegel

Ich musste mir die Augen reiben, als ich das las: Die 97-jährige Irmgard F. wurde zu einer Jugendstrafe mit Bewährung verurteilt. Und das fast 80 Jahre nach der Tat und ausgerechnet in der Woche vor Weihnachten. Trotzdem bin ich froh über dieses Gerichtsurteil. Die damals 18-Jährige war zwar nur eine Bürokraft im Dienst des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthoff. Sie hätte die Folterungen auf dem KZ-Hof und die Massenmorde nicht verhindern können. Sie hat nur vom Fenster ihrer Schreibstube aus zugesehen.

Nur zugesehen? Irmgard F. hätte – so die Begründung des Urteils – ohne selbst Schaden zu nehmen, ihre Stelle kündigen können. Sie hätte es tun müssen, wenn auch nur ein Funke Menschlichkeit in ihr geglüht hätte. Sie war eine von zigtausend Mitläufern, die die Ermordung von Millionen durch ihre Passivität erst möglich gemacht haben.

Zuschauen, wegschauen, mit den Achseln zucken, die eigene Haut retten – das sind die Verbrechen im Hintergrund. Auch heute ist das so. Wir sind beispielsweise umfassend von den terroristischen Umtrieben der „Reichsbürger“ informiert worden. Wir wissen, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist und tausende Gesinnungsgenossen im Dunkeln neue Untaten vorbereiten. Der Alarm müsste uns doch von den weihnachtlich wohltemperierten Sitzen reißen, oder?

Wenn wir allen Ernstes vom Fest der Menschlichkeit reden, wenn wir an einen Gott glauben, der Mensch wurde, damit wir Menschen werden, dann können wir nicht anders als laut werden und gegen die Unmenschlichkeit aufstehen. Gerade an Weihnachten.


Der Blick zurück, der Blick nach vorn, und der Blick nach innen.
Franziskaner kommentieren, was wichtig ist.
Immer freitags auf franziskaner.de


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