19.05.2023 Bruder René Walke

Paradox – und doch wertvoll?

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Oft ist das, was uns beschäftigt, uns sorgt und uns Angst macht, auch die Quelle für das, was jetzt dran ist. Mit dem Blick auf die Welt aus ihrer Perspektive kommentieren Franziskaner jeden Freitag, was sie wahrnehmen.


Bruder René Walke

Durch unseren Freiwilligendienst FEE – Franziskanisch Europäische Erfahrung habe ich u.a. die Länder Albanien und Bosnien besucht. In Vlora in Albanien bieten italienische Franziskanerinnen Kinder- und Jugendbetreuung an und in Visoko in Bosnien betreuen die Franziskaner ein klassisches Gymnasium.

Bei unserem Besuch in Vlora frage ich, ob wir männliche und weibliche Freiwillige schicken können. Sr. Laura sagt mir: „Schickt nur Männer, die Kinder und Jugendlichen hier lieben es, wenn junge Männer kommen. Die albanischen Männer sind fast alle im Ausland.“

In Visoko besuchen wir eine Abiturklasse. Wir fragen: „Wer von euch bleibt nach dem Abitur in Bosnien?“ Vier melden sich. Es ist eine kleine Klasse mit etwa 16 Schülerinnen und Schülern; man braucht kein Abitur für diese einfache wie tragische Rechnung: 3/4 der Abiturienten wollen das Land verlassen: Österreich, Deutschland und die USA sind die Favoriten.

Die Pfingstaktion des Osteuropahilfswerkes Renovabis lenkt in diesem Jahr den Blick auf die Arbeitsmigration. Zum Start der Aktion führte der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer in seiner Predigt die oft unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Spargelstecherinnen, Schlachthofmitarbeiter, Pflegerinnen und anderer typischer Migrationsberufe vor Augen. Da können wir alle helfen, lautet seine Aufforderung. Indem wir Renovabis unterstützen? Sie kümmern sich jetzt auch um dieses Thema mit Start-ups auf dem Balkan und ihrem Einsatz für faire Entlohnung und würdige Lebensbedingungen der Gastarbeiter in Deutschland.

Ich finde das gut und gleichzeitig paradox: Einerseits sorgt Renovabis in osteuropäischen Ländern für eine gute Schulbildung und andere Ausbildungen, andererseits kommen diese dann dem Westen zugute. Ein Beispiel nennt Renovabisgeschäftsführer Thomas Schwartz: Es arbeiten ca. 50 % der in den letzten 20 Jahren in Rumänien ausgebildeten Ärzte in Westeuropa, der Großteil in Deutschland. Die Kosten für die Ausbildung bleiben zu 100 % in Rumänien.

Paradox ist da ebenfalls unser Vorhaben, z.B. junge Männer nach Vlora zu schicken. Es ist kein kleines Dankeschön für all die Gastarbeiter – ich hoffe eher, dass die Gastfreundschaft, mit der wir sowohl in Bosnien als auch Albanien aufgenommen worden sind, unseren Freiwilligen und uns die Augen dafür öffnet, wie unser Umgang mit Gastarbeitern sein sollte.

Das Motto der Pfingstaktion von Renovabis lautet: „Sie fehlen. Immer. Irgendwo. Arbeitsmigration aus Osteuropa.“ Um das zu verstehen und sich für ein gerechtes und gemeinsames Europa starkzumachen, kann ein Freiwilligendienst mit seinen Erfahrungen einen kleinen Beitrag leisten.


Der Blick zurück, der Blick nach vorn, und der Blick nach innen.
Franziskaner kommentieren, was wichtig ist.
Immer freitags auf franziskaner.de


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