19.01.2021 Johannes Roth OFM und Thomas Meinhardt

Jüdisches Leben in Deutschland

Wie Jüdinnen und Juden heute in Deutschland leben

Dr. Rebecca Seidler, Vorsitzende der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover. Bild von Dr. Rebecca Seidler.

Spätestens der terroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 führte deutlich vor Augen: Jüdinnen und Juden in Deutschland leben gefährdeter als andere. 2021 feiern wir 1.700 Jahre jüdisches Leben auf deutschem Boden. Unsere Redakteure Johannes Roth OFM und Thomas Meinhardt nahmen dies zum Anlass, mit der 1. Vorsitzenden der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover, Dr. Rebecca Seidler, darüber zu sprechen, wie Jüdinnen und Juden heute in Deutschland leben.

Frau Seidler, wie hat sich jüdisches Leben seit Gründung des Zentralrates der Juden vor 70 Jahren verändert?

Sehr viel hat sich verändert. Seit Anfang der 1990er Jahre konnten gut 200.000 Jüdinnen, Juden und ihre Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwandern. Dadurch hat sich die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden mehr als verdreifacht. Vorher gab es in Deutschland kleine sogenannte Einheitsgemeinden. In ihnen versammelten sich alle – Orthodoxe, Konservative und Liberale – unter einem Dach. Für eine Ausdifferenzierung der verschiedenen innerjüdischen Strömungen waren wir zu wenige, die identitätsstiftende Rolle der Einheitsgemeinde stand im Vordergrund. Durch die starke jüdische Zuwanderung rückte zunächst die Integration in die jüdische Community in den Vordergrund. In der ehemaligen Sowjetunion gab es einen massiven Antisemitismus, und die meisten mussten ihr Judentum im Verborgenen leben. In Deutschland war nun alles völlig anders. Sie mussten ermutigt werden, ihr Judentum auch im Rahmen einer jüdischen Gemeinde leben zu können. Diese Migration hat zu einer Wiederbelebung der jüdischen Gemeinden geführt, und ich würde behaupten, dass es ohne sie kaum noch jüdisches Leben in Deutschland geben würde. Auch in unserer liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover sind gut 90 Prozent der Mitglieder Zugewanderte aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachkommen. Durch sie wird unser Gemeindeleben lebendig und vielfältig und macht Hoffnung, dass jüdisches Leben weiterhin in Deutschland seinen Platz hat.

Viele Zugewanderte aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion haben eher konservative Einstellungen. Wie kommt es, dass gerade in einer liberalen Gemeinde so viele Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion stammen?

Liberale Gemeinden gibt es in Deutschland erstmalig wieder seit Mitte der 1990er Jahre. Ich bin auch noch in einer orthodox geprägten Einheitsgemeinde groß geworden. Allerdings gab es in Niedersachsen mit Henry Brandt einen Landesrabbiner, der sich sehr dafür eingesetzt hat, dass auch Mädchen die Thora studieren dürfen. So hatte ich damals die große Ehre, als eines der ersten Mädchen zum Thorastudium zugelassen zu werden. Das war für einige Alteingesessene natürlich ein großer Eklat, hat aber im Ergebnis ganz viel in Bewegung gebracht. Heute wissen auch viele in der älteren Generation, dass wir zusammengehören und für uns alle die Shoah identitätsstiftend ist. Wir können die vielfältigen innerjüdischen Strömungen leben. Das Judentum war schon immer pluralistisch. In diesem Prozess haben sich auch zahlreiche jüdische Migrantinnen und Migranten, die in der Sowjetunion vielleicht eher orthodox geprägt waren, intensiver mit jüdischer Geschichte und Kultur auseinandergesetzt. Viele haben dann im liberalen Judentum ihr Zuhause gefunden.

Wie hat sich das Verhältnis der deutschen Jüdinnen und Juden zu diesem Land in den letzten 70 Jahren verändert?

Vor 70 Jahren saß man auf den sogenannten gepackten Koffern. Man war bereit, jederzeit zu gehen. Das war auch zu meiner Jugendzeit in den 1990er Jahren noch so. Heute – so würde ich sagen – sind die Koffer ausgepackt. Aber man weiß noch sehr genau, wo man sie herausholen kann. Man vergewissert sich immer wieder mal, wo sie stehen. Aber immerhin sind sie ausgepackt.

Was bedeutet es für Sie als Jüdin, heute in Deutschland zu leben, und wie gestalten Sie Ihr Glaubensleben?

Für mich gehört mein Judentum zu meiner Identität. Das heißt: Ich bin jüdisch, nicht nur wenn ich in die Synagoge gehe oder Sabbat feiere, sondern es gehört immer zu mir. Aber jüdisches Leben ist sehr vielfältig. Es gibt Jüdinnen und Juden, die gehen aus religiösen Gründen in die jüdische Gemeinde. Aber es gibt auch welche, die sagen: Mit Religion habe ich gar nichts zu tun. Ihr Zugang ist vielleicht die jüdische Philosophie, die jüdische Kunst oder Musik, oder sie fühlen sich mit der jüdischen Kultur, Geschichte und Tradition verbunden. Trotzdem verstehen sie sich dezidiert als jüdisch. Man kann also jüdisch sein, ohne religiös zu sein.

Im Augenblick haben wir in unserer Gemeinde in Hannover eine sehr starke Generation von Bar-Mizwa- (Jungen) und Bat-Mizwa- Jugendlichen (Mädchen). Waren es früher nur zwei pro Jahr, so sind es jetzt 15 junge Menschen. Die nachfolgende Generation hat ein starkes Bedürfnis nach diesen religiösen Zeremonien als Teil ihrer jüdischen Identität. Das freut mich sehr, und es ist auch schön zu sehen, dass jüdisches Leben jetzt schon im Kindergartenalter anfängt. Bei uns in Hannover gibt es eine jüdische Kindertagesstätte, die auch nichtjüdische Kinder besuchen, so wie in zahlreichen Städten. Hier können schon kleine jüdische Kinder ihr Judentum authentisch kennenlernen, und die anderen – meist christlichen – Kinder bauen erst gar keine Ressentiments oder Hemmschwellen auf.

Trotzdem ist religiöses jüdisches Leben nie angst- und sorgenfrei. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als meine beiden Söhne, die vorher den jüdischen Kindergarten besucht hatten, in einer normalen öffentlichen Schule eingeschult wurden. Das Erste, was sie fragten, war: Wo ist denn die Polizei? Wo sind die Kameras? Sie dachten, das sei die Normalität. Für mich war es bitter, Erstklässlern den Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einrichtungen erklären zu müssen.

Wie ist es für Sie, als Jüdin in diesem Land der Täterinnen und Täter zu leben und hier auch Ihr religiöses Leben zu führen?

Das ist nicht frei von innerfamiliären Diskussionen, um es mal so zu formulieren. Ich habe meinen Eltern lange Zeit vorgeworfen: „Warum leben wir hier?“ Und meine Eltern haben dies lange Zeit ihren Eltern vorgeworfen. Wir sind offensichtlich eine typisch jüdische Familie, die immer wieder miteinander debattiert: Wie können wir überhaupt in diesem Land leben, wo unserem Volk so etwas angetan wurde?

Es gibt natürlich die Möglichkeit, nach Israel zu gehen. Dorthin haben wir eine große emotionale Verbindung. Israel ist auch ein Stück Heimat, ein Teil meiner Familie lebt dort. Aber trotzdem ist Deutschland das Land, in dessen Sprache wir träumen, in dessen Sprache wir reden und leben und damit unser Zuhause. Ich möchte auch hier leben, um zu sagen: „Wir haben überlebt. Wir sind hier und haben ein Recht hier zu sein.“ Die Frage ist natürlich, ob dies auf Dauer möglich ist. Mein Mann und ich haben entschieden, unsere beiden Söhne erst mal gut durch die Schulzeit zu bringen. Wie es danach weitergeht, werden wir dann entscheiden. Daran zeigt sich, dass wir nicht die Sicherheit haben: Ich werde hier alt und werde hier begraben sein …

Ich arbeite viel mit Schulklassen und erlebe, dass es nicht mehr selbstverständlich ist, sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust zu beschäftigen. Besonders in Haupt- und Realschulen sind manche damit niemals in Berührung gekommen. Und wenn diese Thematik behandelt wird, dann werden oft nur Daten und Fakten vermittelt. Das berührt Jugendliche nicht, das nervt eher. Wir brauchen andere Methoden der Auseinandersetzung mit der Shoah: mehr Biografiearbeit, die Kindern und Jugendlichen das Geschehen begreifbarer, spürbarer werden lässt. Sicher auch mehr Beschäftigung damit, wie eigentlich eine Gesellschaft funktioniert, in der sich viele solchen menschenverachtenden Ideologien anschließen.

Welche Folgen das Nichtbegreifen dieser Mechanismen hat, lässt sich gerade bei den Anti-Corona-Demonstrationen beobachten. Wenn ich Demonstrierende sehe, die sich einen gelben Stern anheften und sagen, sie seien wie die Juden von damals, dann frage ich mich: Was ist hier eigentlich passiert? Wenn Leute ernsthaft meinen, dass sie einen MundNase- Schutz tragen sollen, wäre mit der Entrechtung von Juden in Nazi-Deutschland vergleichbar, dann hat hier offensichtlich ein gar nicht so kleiner Teil der Bevölkerung überhaupt nicht begriffen, was damals geschehen ist.

Führen die zahlreichen antisemitischen Übergriffe dazu, dass sich Jüdinnen und Juden in der Öffentlichkeit nicht mehr als jüdisch zu erkennen geben?

Ja, das kann ich bestätigen. Viele unserer Gemeindemitglieder tragen beispielsweise in der Öffentlichkeit nicht mehr ihren Davidstern oder eine Kippa, weil sie schon häufiger antisemitisch in der Öffentlichkeit – auf der Straße, in der Straßenbahn, wo auch immer – beleidigt oder bedroht wurden, wenn sie sichtbar ein jüdisches Symbol getragen haben. Auch im beruflichen Kontext verschweigen viele jetzt ihr Jüdischsein. Schülerinnen und Schüler sagen: „Es reicht schon unser russischer Akzent, da brauchen wir nicht noch das Jüdische.“

Diese Konsequenz ist fatal. Wir müssten eigentlich dazu ermutigen, ganz offen mit dem Jüdischsein in der Öffentlichkeit umzugehen, damit nichtjüdische Menschen sie kennenlernen können und sich so ein Bild von der Vielfältigkeit jüdischen Lebens machen können. Andererseits geht es natürlich um den Schutz jedes Einzelnen, sodass ich niemanden guten Gewissens ermutigen kann, sein Jüdischsein offen zu zeigen.

Mein ältester Sohn, der 12 Jahre alt und in der Bar-Mizwa-Vorbereitung ist, würde gerne die ganze Zeit seine Kippa tragen. Ich habe ihm erklärt, dass er das gerne tun könne, wenn er alt und wehrhaft genug sei. Bis dahin gebe es von mir ein Veto, die Kippa außerhalb geschützter Räume zu tragen. Das widerstrebt mir eigentlich sehr, aber der Schutz der Kinder steht auch für mich an oberster Stelle. Auch meine Söhne haben schon in ganz alltäglichen Situationen Anpöbeleien erfahren, weil sie als jüdische Kinder identifizierbar waren.

Die Vielfalt und der Pluralismus im Judentum sind sehr wenig bekannt. Ich erinnere mich noch gut an ein Sonderheft des „Spiegel“ zum Thema „Das Fremde von nebenan. Jüdisches Leben heute“. Der Titel zeigte einen Juden mit Schläfenlocken und Hütchen. Das zeigt deutlich, wie verbreitet stereotype Bilder sind. Wie könnte dies aus Ihrer Sicht aufgebrochen werden?

Zunächst sollten die Schulbücher in diesem Punkt überarbeitet werden. In den meisten, die ich kenne, werden nur Juden mit Schläfenlocken und generell orthodoxe Juden gezeigt. Das Judentum wird auf eine Gruppe reduziert, als ob es nichts anderes gäbe. In diese Richtung gehen auch viele meiner Erfahrungen bei Synagogenführungen oder in der Arbeit mit Schulklassen. Viele sind überrascht und sagen: „Krass, so normal sind die Juden.“ Dass Normalsein ein Aha-Erlebnis ist, zeigt, wie verquer die Bilder über Jüdinnen und Juden immer noch sind. Viele Menschen haben die Netflix-Verfilmung des Buches „Unorthodox“ gesehen, die eine kleine ultraorthodoxe Splittergruppe zeigt. Sie wird auch innerjüdisch als Sekte wahrgenommen, prägt aber die Wahrnehmung. Nach Vorträgen höre ich nun fast jedes Mal: „Frau Seidler, tragen Sie auch eine Perücke?“. „Nee, trage ich nicht.“ Da rede ich mir seit 20 Jahren den Mund wegen solcher Stereotype fusselig, und nun muss ich wieder sagen, dass ich keine Perücke trage. Wenn ich mich mit areligiösen Menschen über den Film unterhalten habe, dann wurde das Ablegen der Perücke durch die Protagonistin als Befreiung vom Zwang, als Befreiung von ihrem Judentum interpretiert. Dadurch entstand bei ihnen der Eindruck, es gibt nur dieses ultraorthodoxe jüdische Leben innerhalb des Judentums. Und ich höre dann: „So richtig jüdisch sind sie ja nicht, Sie sind ja liberal.“ Ich sage ihnen dann, wir legen die Thora aus einer progressiven Perspektive aus. Aber wir feiern alle jüdischen Feiertage, wir sind selbstverständlich religiös eingebunden und nicht weniger jüdisch. Wir haben nur eine andere Diskussionskultur. Aber die Thora ist uns genauso wichtig.

Welche Wünsche und Erwartungen haben Sie an die Kirchen und die Zivilgesellschaft?

Bezüglich des interreligiösen Dialogs würde ich mir primär eine Verstetigung wünschen. Es gibt einige gute gemeinsame Projekte, die sind aber immer zeitlich auf sehr kurze Zeit begrenzt und können so nur sehr beschränkt eine dauerhafte Wirkung entfalten. Wir haben hier beispielsweise ein sehr gut angelaufenes Präventionsprojekt gegen Antisemitismus. Aber das hat nur eine Laufzeit von acht Monaten. Da wird also gerade etwas aufgebaut und ist dann schon wieder zu Ende. Hier braucht es fest verankerte dauerhafte Strukturen, dann könnte viel mehr gerade auch im Bildungssektor erreicht werden. Von der Zivilgesellschaft erwarte ich vor allem: Beendet das Schweigen! Das bezieht sich nicht nur auf Antisemitismus, sondern auf jede Form von Anfeindungen, Diskriminierung, Frauenfeindlichkeit und generell gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wenn es gelänge, endlich mal diese Schweigekultur zu beenden, wäre viel gewonnen. Das gilt auch für den Privatbereich, auch wenn man vielleicht zur Party-bremse wird, indem man bei bestimmten diskriminierenden Aussagen gegen Gruppen von Menschen widerspricht.

Erstveröffentlichung Zeitschrift Franziskaner Winter 2020


Dr. Rebecca Seidler ist Dipl.-Sozialarbeiterin und arbeitet seit acht Jahren als Mediations- und Unternehmensberaterin in eigener Praxis sowie als Lehrbeauftragte an Hochschulen und Universitäten. Frau Dr. Seidler lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Hannover und ist ehrenamtliche 1. Vorsitzende der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover.

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