Christen verstehen unter Liturgie den offiziellen Gottesdienst der Kirche. Von seiner griechischen Wurzel her bezeichnet der Begriff ursprünglich ein „Tun (ergon) des Volkes (laós)“. Dies ist jeweils in zweifacher Weise zu verstehen: Das Volk tut etwas, zugleich aber wird für dieses Volk etwas getan. Ebenso: Der Mensch dient Gott, aber zugleich dient auch Gott dem Menschen. Die Bewegung „von oben nach unten“ steht an erster Stelle: Im Gottesdienst handelt Gott durch Christus an uns. Er hat uns zusammengerufen und ist darum in seiner Gemeinde gegenwärtig. Er spricht uns an in den Lesungen aus der Heiligen Schrift. Er tut etwas an uns in den Sakramenten. Er schenkt sich selbst in der Eucharistie. Er vergibt, stärkt, verheißt seine Begleitung. Unser Tun ist dann Antwort hierauf: Wir richten unser Gebet an ihn, bitten und danken, hören und schweigen, feiern und singen.
Liturgie ist also immer dialogisch. Sie geht von Gott zu uns und von uns zu Gott. So verbindet sie auch uns Menschen untereinander. Wo sie als „Vorstellung“ einer weniger Akteure vor einem passiven Zuschauer-Publikum erfahren wird, im schlechtesten Fall als One-Man-Show, ist sie entstellt. Denn Christus handelt an allen Gliedern des Volkes Gottes, alle sind Empfangende und Beschenkte. Zugleich ist das gesamte Volk Gottes Träger der Liturgie. Das Neue Testament spricht hier selbstverständlich vom Priestertum aller Getauften (vgl. 1 Petr 2,9). Erst auf dieser Grundlage differenzieren sich verschiedene Rollen und Dienste, zu denen auch der Amtspriester gehört.
Paradoxerweise ergibt sich aus diesem Dialoggeschehen auch der „offizielle“ und objektive Charakter von Liturgie: Auch wenn sich jeder Einzelne persönlich angesprochen fühlt und in der je eigenen Rolle authentisch einbringt, geht es im Kern nicht um die individuelle Befindlichkeit, die leicht in eine individualistische Vereinzelung führt. Es geht um ein gemeinsames Tun und eine gemeinschaftliche Erfahrung, die über alles nur Eigene hinaus zur Kirche Christi verbinden. Liturgie baut Kirche auf. Kirche realisiert sich in der Liturgie. Liturgie ist „der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt« (Zweites Vatikanisches Konzil).
Wer aus der Kraft der Sakramente lebt und das Kirchenjahr mitfeiert, wird immer mehr hineingezogen in das Geheimnis Christi. Eine lebendige Spiritualität aber speist sich nicht allein aus der offiziellen Liturgie, sondern wesentlich auch aus dem privaten Gebet, aus Brauchtum und Volksfrömmigkeit. Verkündigung und Diakonie, gemeinsam mit der Liturgie Wesensvollzüge der Kirche, kommen zwar im Gottesdienst vor, müssen sich aber auch außerhalb eigenständig entfalten. Und nicht nur der kultische Raum, sondern vor allem der gelebte Alltag ist der Ort, an dem Gott an mir handelt und ich ihm antworte. Liturgie ist immer auch Sendung und führt mich tiefer in die Welt und zu den Menschen. Sie führt ins Lebenszeugnis. Je mehr ich mich in einer alltäglichen Praxis existenziell auf Christus einlasse, umso ehrlicher werde ich Liturgie feiern können.
Erstveröffentlichung Zeitschrift, „Franziskaner“ Sommer 2015