Für die Franziskanische Familie beginnt mit dem Jahr 2023 eine Serie von 800-jährigen Jubiläen: die Weihnachtsfeier mit Krippenspiel in Greccio 2023, der Empfang der Stigmata 2024, die Entstehung des Sonnengesangs 2024/25, der Tod des Franziskus 2026, die Heiligsprechung von Franziskus 2028. Zu dieser Reihe von Jubiläen gehört im Jahr 2023 auch das 800-jährige Gedenken der Bestätigung der endgültigen Regel des Minderbrüderordens durch Papst Honorius III., die wegen des angehängten päpstlichen Siegels (Bulle) auch „Bullierte Regel“ (BR) genannt wird.
Mit dieser päpstlichen Anerkennung der Regel wird aus der ursprünglichen Bruderschaft um Franziskus von Assisi, die den Fußspuren Jesu Christi im Geist des Evangeliums folgen wollte, definitiv ein kirchenrechtlich errichteter Orden mit dem offiziellen Namen „Mindere Brüder“. Damit wurde eine schrittweise Institutionalisierung der sich am Evangelium orientierenden Lebensweise des Franziskus und der zahlenmäßig schnell wachsenden Bruderschaft innerhalb der Kirche abgeschlossen. Auffallend ist, dass dazu mit der den Text einleitenden Formel „Solet annuere“ (im Sinne von: Der apostolische Stuhl stimmt, wie gewöhnlich, zu) eine niedrige Kategorie päpstlicher Beurkundungen gewählt wurde. Andere zeitgenössische Orden, wie etwa der Predigerorden (Dominikaner), wurden mit einer bedeutenderen und feierlicheren Formel bestätigt. Tatsächlich bestätigte Papst Honorius, wie es im Text heißt, nur die bereits von seinem Vorgänger Innozenz III. gutgeheißene Regel. Dabei handelt es sich um die 1209 bestätigte Lebensform von Franziskus und der ersten Brüder, die allerdings nur aus wenigen Zitaten des Evangeliums bestand und nicht den Text der Bullierten Regel enthielt. Mit dieser Anknüpfung an eine auch nur mündlich gegebene Erlaubnis aus dem Jahre 1209 umging die päpstliche Kurie 1223 das Verbot des Vierten Laterankonzils von 1215, neue Ordensregeln zu genehmigen. Alle künftigen Regeln sollten sich an den Regeln von Benedikt oder Augustinus orientieren. Das allerdings hatte Franziskus energisch von sich gewiesen. Folglich blieb nur ein frommes Kabinettstück, um den Willen des Franziskus auszuführen und die Konzilsentscheidung zu umgehen.
Von einer kirchlich akzeptierten Bruderschaft, …
Nicht von der Hand zu weisen ist gleichwohl die Tatsache, dass ausgehend von der Urregel eine Entwicklung der Lebensform und folglich auch eine Erweiterung des Urtextes bis hin zur Redigierung eines allerdings päpstlich nicht bestätigten Textes im Jahre 1221, der „Nicht-bullierten-Regel“ (NbR), stattgefunden hatte. Dieser im Laufe der Jahre zwischen 1209 und 1221 immer wieder erweiterte Regeltext bezeugt die Entwicklung der Gemeinschaft der Minderbrüder angesichts der immer wieder neuen Herausforderungen an ihre Lebensform. Die 24 Kapitel (der NbR) belegen auch, wie Franziskus selbst den Geist des Evangeliums im konkreten Leben der Brudergemeinschaft verwirklicht sehen wollte. Daher wurden diese Abschnitte ausführlich mit Bibelzitaten untermauert, allerdings nie zur Approbation durch die römische Kurie vorgelegt. Ganz anders liest sich die schon zwei Jahre später approbierte „Bullierte Regel“: In nur zwölf Kapiteln, mit einem Minimum an biblischen Verweisen, dafür aber in der damals üblichen juristischen Terminologie, wurde diese Regel aufgesetzt. Aus einer kirchlich akzeptierten Bruderschaft, die einer größeren Bewegung von Frauen und auch Laien verbunden war, war ein approbierter Orden mit institutionellen Strukturen unter der Schirmherrschaft des Papstes geworden. Diese Regel spiegelt folglich deutlich eine Mutation der Gemeinschaft wider, die sich in wenigen Jahren vollzogen hatte.
Aus der anfänglich kleinen Gruppe von Brüdern um Franziskus und einem wachsenden Kreis von Sympathisanten war bereits eine internationale Gemeinschaft von circa 5.000 Brüdern geworden. Erste Strukturen hatten sich in der Einführung von zwölf Provinzen als Lebensräume der Bruderschaft entwickelt. Während der Pilgerreise 1219 ins Heilige Land, mit dem Höhepunkt der friedlichen Begegnung mit dem Sultan, hatte es einen Aufruhr in der Gemeinschaft gegeben. Die Vikare, die Franziskus zur Leitung während seiner Abwesenheit zurückließ, hatten gegen dessen Willen versucht, der Brudergemeinschaft eine der klassischen Ordensregeln aufzuzwingen. Auch waren immer mehr Kleriker, Prediger, in die Gemeinschaft eingetreten, die keiner Handarbeit mehr nachgingen, wie noch die ersten Brüder. Zudem wurden die ersten festen, wenn auch kleinen Niederlassungen gegründet, und die Brüder zogen nicht mehr, wie die Gründergeneration, als „Itineranten“, Pilger und Fremdlinge, von Dorf zu Stadt, um das Evangelium durch Wort und Tat zu verkünden. Es zeigte sich, dass eine spirituelle Regel auf der Basis interpretierbarer Bibelzitate nicht mehr ausreichte.
… zu einem Orden mit institutionellen Strukturen
Von einer großen Gruppe, vor allem gebildeter Brüder, wurde eine richtige Regel verlangt. Franziskus selbst sah sich den damit verbundenen Auseinandersetzungen nicht mehr gewachsen und zog sich aus der formalen Leitung der Gemeinschaft zurück, blieb aber der charismatische Stachel im Fleisch der Bruderschaft, der sich aus der Abfassung einer endgültigen Regel nicht verdrängen ließ. Neben ihm waren die Protagonisten dieser Regel einige gebildete Brüder, darunter Juristen, vonseiten der römischen Kurie Kardinal Hugolino, ein alter Bekannter des Franziskus, und nicht zuletzt die 1223 auf dem Pfingstkapitel in Assisi versammelten Provinziale. Gerade aus den Kreisen der Letzteren kam die Forderung nach einer ordentlichen Regel, die dann am 29. November 1223 vom Papst bestätigt wurde. Dass Franziskus sich bei der Endabfassung einmischte, wird im Text selbst deutlich. Die vielen Sätze mit Verben in der ersten Person Singular, in der Ichform, verweisen auf Texteinfügungen durch Franziskus selbst. Auch die auffallend ermahnende Ausdrucksweise, verbunden mit konkreten Weisungen, entspricht seinem gängigen Sprachstil und eher nicht dem kurialen Wortschatz. Auch wenn nur wenige Bibelzitate eingefügt sind, so bleibt doch eine theologisch-spirituelle Ausrichtung des Textes erkennbar, die dem Geist des Heiligen entspricht.
Wenn auch die Anpassung der ursprünglichen Lebensform an einen formalen Regeltext für einen sich etablierenden Orden deutlich wird, so bleiben doch die wichtigsten originalen Charaktere des ursprünglichen Lebens – „den Fußspuren des Herrn Jesus folgend“ – erhalten: die entschiedene Treue zum Evangelium, der auch der Gehorsam der Kirche gegenüber unterworfen ist; die Vermeidung einer starken Hierarchisierung durch die grundlegende Haltung der Geschwisterlichkeit; die Bedeutung der Gemeinschaft in Balance mit der Würde des Einzelnen; der prophetische Charakter der Verkündigung des Gottesreiches; die Überwindung von Herrschafts- und Machtstrukturen durch den Dienstcharakter; der Sendungsauftrag einer missionarischen Berufung.
Allerdings ging die von Franziskus gewollte friedliche und dienende Lebensweise der Brüder unter Andersgläubigen verlustig. Das war der päpstlichen Kurie angesichts der gewollten Kreuzzüge wohl doch zu viel des Guten. Wenn auch das Wesentliche der ursprünglichen Lebensform und Berufung gerettet wurde, so war die Regelbestätigung von 1223 doch ein einschneidender Wendepunkt für die „franziskanische Bewegung“.
Diese Regel hat für die Gemeinschaften des sogenannten Ersten Ordens der Minderbrüder bis heute Gültigkeit. Natürlich haben sich die Zeitumstände rasant geändert. Aber die grundlegenden Elemente der franziskanischen Berufung, die trotz aller Widrigkeiten in der Regel zum Tragen kommen, inspirieren und bestimmen nach wie vor sogenannte Konstitutionen, mit denen der Geist des Evangeliums, wie Franziskus und seine Brüder ihn erfasst haben, in unserer Zeit lebbar wird.
Artikel aus der Zeitschrift Franziskaner, Frühling 2023