02.12.2024 Pater Cornelius Bohl

„Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!“

Ein adventlicher Impuls von Pater Cornelius

Advent. Wer diese Zeit bewusst als Christ feiert, wird überall der uralten Symbolik von Dunkel und Licht begegnen: Viele Gemeinden feiern in dieser dunklen Jahreszeit Gottesdienste in einer nur von Kerzenlicht erhellten Kirche. Von Woche zu Woche wächst das Licht auf dem Adventskranz. Und in der Heiligen Nacht werden wir die wunderschöne Verheißung des Propheten Jesaja hören: Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht (Jes 9,1).

Das tröstliche Hoffnungsbild vom Licht im Dunkel tut gut. Ich möchte es mir bewahren. Aber ich möchte auch ehrlich damit umgehen. Denn ganz so einfach ist es ja nicht. Nicht immer wächst das Licht. Manchmal wächst auch die Dunkelheit. Das müssen wir gerade in diesen Wochen im Blick auf die große weltpolitische Lage bedrückend erfahren. Sicher, die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages, und ab Weihnachten wird nach der Wintersonnenwende die Nacht spürbar kürzer. Aber von selbst wird es nicht immer hell. „Wächter, wie lang noch ist die Nacht?“ (Jes 21,11). Wir wissen es nicht. „Noch manche Nacht wird fallen“, ist der evangelische Dichter Jochen Klepper überzeugt. Es stimmt: An Weihnachten strahlt ein Licht auf. Aber das andere stimmt ebenso: Auch nach Weihnachten bleibt vieles dunkel.

 

„Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!“ Bild von Silvia Gaudenzi auf Pixabay

Ich möchte Ihnen eine ungewöhnliche Adventsgeschichte vorschlagen. Oder besser: Einen bekannten Text einmal adventlich lesen. Die Geschichte des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52).

Der blinde Bettler sitzt am Wegrand. Plötzlich Schritte, Stimmen, Menschengewirr. Irgendwoher schnappt er es auf: Jesus ist da. Oder Jesus kommt. Oder Jesus geht vorüber. Er hört es nur. Sehen kann er ja nicht. Und dann schreit er ins Dunkle: Jesus, hab Erbarmen mit mir. Was für ein Mut, ins Dunkle hineinzurufen! Ob Jesus das hört? Ob er überhaupt da ist? Zu den Zweifeln aus seinem Inneren kommen niederschmetternde Erfahrungen von außen: „Viele befahlen ihm zu schweigen.“ Halt den Mund. Geh uns nicht auf die Nerven. Das Rufen kannst du dir sparen. Das bringt ohnehin nichts. Er aber schreit noch viel lauter in die Dunkelheit um Erbarmen.

Tatsächlich: Jesus ist da. Er bleibt stehen. Er ruft Bartimäus zu sich. Es ist unglaublich, wie die Nähe und der Ruf Jesu den Bettler in Bewegung bringen: Er wirft den Mantel weg! Zeichen innerer Energie, die ihn plötzlich packt. Er wirft weg, was ihn beim Aufstehen hindern könnte. Aber er wirft auch weg, was vielleicht seine letzte Sicherheit ist, den Mantel, auf dem er tagsüber kauert und nachts schläft und der ihn schützt vor Kälte und Regen. Und dann „springt er auf“. Er rappelt sich nicht langsam vom Boden auf, sondern scheint wie von der Tarantel gestochen. Er läuft auf Jesus zu. Besser gesagt: in seine Richtung. Dorthin, wo er ihn vermutet. In seine Nähe. Denn sehen kann er ihn ja nicht. Er läuft ins Dunkle.

Und dann das kurze und doch so intensive Gespräch. „Was soll ich dir tun?“, fragt Jesus. Was für eine überflüssige Frage! Was wird ein Blinder schon wollen. „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!“ Schön ist, was da geschieht: Persönliche Begegnung, Hören und Antworten, Du-Sagen voll Vertrauen – und das alles im Dunkel. Denn immer noch ist es Nacht um ihn. Er weiß nicht, ob er jemals sehen wird. Aber im Dunkel erfährt er die Nähe eines Menschen, die ihm guttut.

Der Advent ist eine dunkle Zeit, auch wenn wir sie mit unseren Lichtern erhellen. Und christliches Leben vollzieht sich nicht nur im Licht, sondern auch im Dunkel. Wir haben von Jesus gehört. Sicherheiten haben wir nicht. Aber Hoffnung. Christsein ist manchmal dieser Hoffnungsschrei ins Dunkle. Und auch aus dem Dunkel kann uns ein Ruf treffen und in Bewegung bringen. Schon die Nähe schafft Dynamik. Das ist ein schönes Adventsthema: Der Herr ist nahe! Es gibt die Erfahrung vertrauter Nähe, auch wenn es noch dunkel bleibt.

Wir Franziskaner versuchen mit Ihrer Hilfe, etwas Licht in das Leben von Menschen zu bringen. Und wissen doch zugleich, dass vieles dunkel bleibt. Ja, die Finsternis scheint oft noch zu wachsen. Noch manche Nacht wird fallen. Aber wir haben das Evangelium. Wir haben von Jesus gehört. Wir glauben an seine Nähe. Uns trifft sein Wort. Und darum lässt uns die Dunkelheit nicht verstummen. Wir rufen voll Hoffnung in die Nacht. Die Nähe Jesu bringt uns in Bewegung. Nicht sitzen bleiben, sondern aufstehen, auch wenn es finster ist.

Jesus ist nicht erst dann da, wenn es hell wird, wir erfahren ihn auch in der Dunkelheit.


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