20.06.2016 Missionszentrale der Franziskaner / Itamar Silva

Wandern für Rio

Wandern für eine gute Sache. Bild von der Missionszentrale der Franziskaner
Wandern für eine gute Sache. Bild von der Missionszentrale der Franziskaner

Mehr als 150 Menschen machten sich vergangenen Samstag anlässlich der Olympischen Spiele und der Paralympics im Sommer diesen Jahres in Rio de Janeiro von der Missionszentrale „auf den Weg“ zu den Franziskanerinnen von Nonnenwerth. Gute Laune, gutes Wetter und ein guter Zweck verband die Wanderer, denn die VR-Bank in Bonn hatte zugesagt, für jeden gelaufenen Kilometer pro Person € 1,- für soziale Projekte der Franziskaner in Rio de Janeiro zu spenden.

Auf der Insel Nonnenwerth angekommen, empfing die Wanderer brasilianische Musik der Band So Sucéso und eine warme Suppe, welche die Franziskanerinnen von Nonnenwerth gespendet hatten.

Die Aktion „Wandern für Rio“ wurde von der Missionszentrale der Franziskaner initiiert.

Im Namen der Menschen in den Armenvierteln von Rio de Janeiro bedanken wir uns sehr herzlich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern!

 

Hintergrundinformation

  • Warum spenden für Brasilien?
  • Ist das Land, das die Olympischen Spiele 2016 ausrichtet, nicht mittlerweile Reich genug?
  • Wer gewinnt, wer verliert? Wie ist die Situation in Rio?

2002 erregte Brasilien durch die Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten und durch eine konsequente Sozialpolitik für die gesamte Bevölkerung international Aufmerksamkeit. Der Aufstieg von Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern aus der Armut führte zu einer Debatte über die Entstehung einer neuen Mittelschicht und über die Bekämpfung der Ungleichheit im ganzen Land.

Zwar belegen die Zahlen tatsächlich eine gewachsene soziale Mobilität. Dennoch ist Brasilien weit davon entfernt, soziale Ungleichheit überwunden zu haben. Die letzten zehn Jahre zeigen, dass sich die Einkommenssteigerungen auf die Spitze der sozialen Pyramide konzentrieren. Zudem macht die schlechte politisch-ökonomische Lage seit 2014 erneut sichtbar, wie wenig nachhaltig die wirtschaftlichen und sozialen Gewinne der letzten Dekade waren.

Traum von Olympia

Jahrzehntelang war Rio de Janeiro dem Traum hinterhergelaufen, Olympia-Stadt zu werden. Bereits 1996 bewarb sich Rio für Olympia 2004. Da zu dieser Zeit keine politische Einigkeit zwischen Bund, Bundesstaat und Kommune bestand, konnte Rios Zivilgesellschaft den Freiraum für ihre Forderungen und Interventionen nutzen. Der Soziologe Herbert de Souza (genannt Betinho), einer der Gründer des Brasilianischen Instituts für soziale und ökonomische Analysen (IBASE), legte eine Soziale Agenda von Grundbedingungen für die Bewerbung der Stadt vor. Darin formulierte er fünf Ziele, die von Regierenden, Unternehmern und der Zivilgesellschaft verfolgt werden sollten: hochwertige Bildung für alle Kinder; Urbanisierung und Integration aller Favelas (Armutsviertel); kein Mensch mehr, der auf der Straße wohnt; Sport und Bürgerrechte Hand in Hand; gute Ernährung für alle Kinder. Diese Ziele waren gewagt, aber machbar. Betinho ging es darum, eine soziale Mobilisierung anzustoßen und Unternehmen und Regierung in die Bewältigung der Herausforderungen einzubinden. Zu jener Zeit machten sich Vertreter der öffentlichen Hand und Unternehmer diese Vorstellung zu eigen. Zugleich bestand aber eine tiefe politische Trennung der Verwaltungsebenen von Bund, Bundesstaaten und der kommunalen Verwaltung.

Was kommt 2016?

Zwanzig Jahre nach der Bewerbung wird Rio 2016 tatsächlich die Olympiade ausrichten. 2008, als die Entscheidung fiel, war die politische Landschaft Brasiliens harmonischer als heute. Präsident Lula da Silva als Vertreter der neuen brasilianischen Politik kooperierte mit dem Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro und dem Bürgermeister der Stadt Rio. So bestand eine institutionelle Einheit, die von der Privatinitiative und den politischen Entscheidungsträgern von Bundesstaaten sowie Verwaltung getragen wurde. Erst dieser Rahmen machte es dem Internationalen Olympischen Komitee möglich, über die Probleme hinwegzusehen, die noch 1996 die Stadt aus dem Bewerberkreis ausgeschlossen hatten. Sie betrafen insbesondere die Verschmutzung der Guanabara-Bucht und die Gewaltsituation in der Stadt. Noch heute hängt eine Lösung für die Guanabara-Bucht davon ab, wie die immer noch nicht ganz geklärten Kriterien und Interessen unmissverständlich definiert werden. Und die Daten über Gewalt in Rio bleiben besorgniserregend. Das Konzept der »Befriedungs- Einheiten der Polizei« wird weltweit zwar als Lösung für die Überwindung von urbaner Gewalt gepriesen. Die Zahlen über Tötungsdelikte an schwarzen Jugendlichen in Rios Favelas sprechen aber eine andere Sprache. Demgegenüber halten viele an der Erwartung fest, dass Großveranstaltungen wie Olympia die Lebensumstände in den Austragungsstädten verbessern könnten. Sicherlich gibt es da immer auch Errungenschaften. Die Frage bleibt: Wer gewinnt und wer verliert? Die Debatte darüber tut Not in Rio de Janeiro.

Vor- und Nachteile

Der offizielle Diskurs benennt vor allem die urbane Mobilität als wichtigste dauerhafte Errungenschaft von Olympia: Das Schnellbussystem, das Straßenbahnsystem, die U-Bahn-Verlängerung bis zur Tijuca und dergleichen mehr. Sie sind verkehrspolitisch nicht die sinnvollste Lösung für die Stadt. Ihr Bau führt zu Verdrängungsprozessen ärmerer Bevölkerungsgruppen. Ein weiteres sensibles Thema ist die Räumung von Wohnungen und die Vertreibung der Menschen dort. Nach Angaben des Volkskomitees für die Fußballweltmeisterschaft und die Olympiade von Rio de Janeiro in einem Bericht vom Mai 2013 sind »3.000 Familien bereits vertrieben worden und weitere 8.000 bedroht«. Zahlreiche Klagen wegen Verletzung des Wohnrechts wurden eingereicht. Die öffentliche Hand begründet die Vertreibungen mit dem Straßenbau für das Schnellbussystem, dem Bau von Sportanlagen, den Bauwerken für die Förderung des Tourismus im Hafenviertel sowie der Schaffung von Umweltschutzzonen.

Als aussagekräftiges Beispiel für diese Politik gilt die Favela Vila Autódromo. Hier kommen Willkürakte und das Zusammengehen von Staatsgewalt mit Interessen des Immobilienkapitals eklatant zum Vorschein. Von der Rio-Olympiade 2016 wird die Vertreibung der Armen von aufgewerteten Flächen wie Barra da Tijuca und Recreio besonders in Erinnerung bleiben. In der Favela Providência ließ die Kommune eine touristisch attraktive Seilbahn bauen und vertrieb dafür Bewohnerinnen und Bewohner aus Rios ältester Favela.

Rio der Zukunft

So stellen sich die Fragen: Welches Stadtprofil wird sich in Rio nach 2016 durchsetzen? Wie werden sich die Ausgrenzungsprozesse, die bei der Errichtung der Olympia-Stadt wirkten, auf die soziale Dynamik und das städtische Zusammenleben auswirken? Wie antworten die betroffenen sozialen Gruppen darauf? Wie nachhaltig ist das polizeiliche Favela-Befriedungsprogramm bei der Bekämpfung des Drogenhandels, der ganze Bezirke in Rio kontrolliert? Wie wird man den Gentrifizierungsprozess (Umwandlung von Armen- in Reichenviertel) unter Kontrolle bringen und verhindern, dass er in dem Tempo weitergeht? Wie lässt sich eine demokratische Stadt mit Freiräumen für soziale, kulturelle und ökonomische Ausdrucksformen gewährleisten?

Möge die post-olympische Stadt Rio de Janeiro kommen. Der Zivilgesellschaft obliegt es, durch verschiedene Formen sozialer Organisation die Aneignung der Stadt durch die gesamte Bevölkerung mitzugestalten.

Text von Itamar Silva, Direktor des zivilgesellschaftlichen Instituto Brasileiro de Análises Sociais e Econômicas (IBASE, Brasilianisches Institut für soziale und ökonomische Analysen).

Aus der Zeitschrift Franziskaner Mission Sommer 2016


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