
Heute erinnert in München nur noch die „Occamstraße“ und eine erst 1948 gestaltete „Erinnerungstafel“ im Eingang zur Totengruft des Franziskanerklosters St. Anna an diesen bedeutenden Gelehrten des späten Mittelalters. Gerecht wird das dieser großen Gestalt an der Schwelle eines neuen Zeitalters nicht. Die philosophische und theologische Schule, die sich auf Ockham berief, wollte ja als „via moderna“ eine neue, moderne Art und Zeit des menschlichen Denkens und Handelns in Gang bringen.
Wilhelm wurde um 1285 in einem Dorf, heute englisch Ockham genannt, in der Grafschaft Surrey westlich von London geboren. Und freilich wurde der Junge nach mittelalterlicher Sitte schon als Kind den englischen Brüdern des hl. Franziskus zur Erziehung anvertraut. Vermutlich wuchs er bei ihnen in London auf, ging dort zur Schule und trat in den Orden ein. Früh entwickelte der Ordensbruder eine große Neigung zur „Logik“. Er suchte diese neue Art zu denken besser zu verstehen und machte schließlich selbst mit ihr Schule. Sie sollte sein ganzes Leben noch in den streitbaren Jahren in München von 1330 bis zu seinem Tod am 9. April 1347 bestimmen.
Der Ketzerei angeklagt

des verehrenswerten Beginners + eines sehr gelehrten Mannes + Dieser ist im Jahre 1330 mit Kaiser Ludwig von Bayern, der aus Padua das Gebein des Heiligen Antonius mitbrachte, nach München gekommen und verweilte dort in dem alten Minder-Brüder-Konvent. Am 10. Tag des April 1349 ist er im Frieden gestorben und zur Rechten des Altars im Chor bestattet worden.“
Der Ketzerei angeklagt wurde Wilhelm von Ockham um 1320. Grund hierfür waren Schulstreitigkeiten an der Universität Oxford, die etliche kühne Aussagen behandelten, die der studierende Minderbruder eher theoretisch neu formuliert hatte. Dabei standen aber nicht nur seine Philosophie und Theologie im Mittelpunkt. Auch eine Auseinandersetzung der damaligen Magister mit dem Kanzler der Universität spielte eine große Rolle. Denn Letzterer wurde vom zuständigen Bischof abgesetzt, reiste anschließend allerdings an den päpstlichen Hof in Avignon. Dort bezichtigte er Ockham der Häresie.
Ockham auf dem Weg nach München
So wurde dem aufstrebenden Gelehrten noch vor seiner Promotion zum Lehrer der Theologie in Avignon der Prozess gemacht. Von dort flüchtete der Theologe aus England 1329 nach Pisa in Italien, wo er sich dem römischen Kaiser deutscher Nation, Ludwig dem Bayern, anschloss. Mit anderen führenden Brüdern seines Ordens verteidigte er fortan den umstrittenen Kaiser gegen das nach ihrer Überzeugung besitz- und machtgierige Papsttum in Avignon.
Das brachte den Gelehrten 1330 nach München. Im dortigen Franziskanerkloster Sankt Antonius, damals am heutigen Max-Josephs-Platz, verfasste er seine einflussreichen kirchenpolitischen Schriften. Darin versuchte er, den Abfall der damaligen Päpste vom Evangelium Jesu Christi nachzuweisen, gerade bei ihrem Vorgehen gegen den nach seiner Ansicht legitimen Kaiser Ludwig den Bayern. Das kam nicht von ungefähr. Denn Wilhelm von Ockham wollte, wie viele seiner franziskanischen Brüder, die mittelalterliche Kirche eher an die irdisch-weltliche Armut und Machtlosigkeit von Jesus Christus selbst erinnern und binden. Damit glaubte er, allen gläubigen Christen, besonders dem christlichen Kaiser, die ursprüngliche, dem Evangelium entsprechende Freiheit zur Gestaltung ihres Lebens, ihrer Gesellschaft und ihrer Welt neu zusagen zu können.
Streit mit dem Papst
Schon während Ockhams Zeit in Avignon wurde aus dem Prozess um dessen angebliche Häresie eine Auseinandersetzung mit dem Papsttum. In München befand sich Ockham dann im Streit mit den damaligen Päpsten von Avignon und für Kaiser Ludwig den Bayern. Die Schärfe und Konsequenz seiner neuen Art zu denken führten ihn dabei zu einem neuen Bild der Kirche. Sie sollte irdisch weitgehend arm und machtlos sein. Und das freie Leben der Christen sollte vom Evangelium her in dienstbarer Liebe und Weltverantwortung stehen. Dies mutete dem noch mittelalterlich frommen Kaiser Ludwig dem Bayern nicht selten zu viel Kühnheit zu.
Heute scheinen uns wohl die theologischen, sozialen und politischen Überlegungen Ockhams, die er in seinem franziskanischen Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus in München entwickelte, zu „modern“ zu sein, so dass sie damals nicht in die mittelalterliche Zeit passten und deshalb noch scheitern mussten.
Ockhams Rasiermesser
Der Name Ockham ist aber nicht nur den Geschichts- und Philosophie-Nerds bekannt. In der modernen Wissenschaft ist sein Prinzip der Parsimonie oder auch „Sparsamkeitsprinzip“ als Ockhams Rasiermesser allgemein bekannt und wird häufig angewendet, sogar in der modernen Astronomie und in der KI-Forschung.