Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 4

4/2022 15 eute sagen wir gerne „Jesus hat sich bevorzugt um Randgruppen gekümmert“, wobei wir uns in der Regel nicht klarmachen, wie diese Randgruppen konkret aussahen. Die Evangelien sprechen davon, dass Jesus mit „Zöllnern und Sündern“ Mahl gehalten hat, dass er bei „Zöllnern und Dirnen“ mehr Glauben gefunden hat als bei den Pharisäern und Schriftgelehrten. In der jüdischen Literatur der Jesus-Zeit gibt es stehende Wendungen wie „Zöllner und Räuber“, „Räuber, Betrüger, Ehebrecher, Zöllner“. – Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, solche Floskeln mit Leben zu füllen und die als „sündig“ eingestuften Menschengruppen näher zu kennzeichnen. Verachtete Gewerbe In der rabbinischen Literatur sind uns Listen überliefert, in denen Berufe aufgezählt werden, die ein frommer Israelit seinen Sohn nicht ausüben ließ, weil es (angeblich) „Räubergewerbe“ waren, die zur Unehrlichkeit verleiteten. Dazu gehörten Eseltreiber, Kamelführer, Schiffer und Fuhrmänner. Ihnen wurde unterstellt, dass sie das ihnen anvertraute Gut unterschlugen und zum eigenen Gewinn veräußerten. Vom ganzen Transportgewerbe hielt man einzig den Lastträger für „vertrauenswürdig“, weil er in der Regel nur für kurze Strecken eingesetzt wurde und dabei gut beaufsichtigt werden konnte. Im Übrigen waren die Eseltreiber und Kamelführer im damaligen Wirtschaftsleben sehr wichtig. Sie beförderten die Nahrungsmittel in die großen Städte. Die Bauern und Händler waren auf ihre Dienste angewiesen. Und die Esel- und Kamelzüge, die man zusammenstellte, um sich besser gegen die Unbilden des Weges und eventuelle Überfälle zu schützen, waren profitable Unternehmen. Vielleicht war es gerade dieser Profit, der viele Juden auf die Angehörigen des Transportgewerbes scheel herabschauen ließ. Aus ähnlichen Gründen hatten auch die Krämer und Fleischer keinen guten Ruf. Den Krämern sagte man nach, sie würden ihre Kunden übervorteilen, und den Metzgern, sie würden Fleisch verkaufen, das nicht den Speisevorschriften des Mosaischen Gesetzes entsprach (z. B. ein Rind, das von einem Raubtier gerissen war). Andere Gewerbe galten zwar nicht als unehrenhaft , aber wegen des mit ihnen verbundenen üblen Geruchs als ekelerregend, wie die Kotsammler, Gerber, und Walker. Betrieb ein Mann dieses verachtete Gewerbe, hatte die Ehefrau (wir haben früher schon darauf hingewiesen) das Recht, vor Gericht die Scheidung von ihrem Mann zu fordern, weil sie buchstäblich ihren Gatten „nicht mehr riechen konnte“. Im Gegensatz zu den Gerbern und ihren Mitarbeitern standen Hausierer, Aderlasser, Badediener und Weber im Ruf der Unsittlichkeit , weil sie beruflich mit Frauen zu tun hatten. Die Hausierer boten den Frauen z. B. Gewürze und Parfüms an. Dabei kam es gelegentlich vor, dass sie mit einer Frau allein waren, was Anlass zu bösen Verdächtigungen gab. Ähnlich stand es mit den Aderlassern und Badedienern. Bei den Webern kam hinzu, dass ihr Handwerk in Israel grundsätzlich nicht geschätzt war, weil es als „Weiberhandwerk“ galt. Wie begründet oder unbegründet solche Urteile auch waren: fest steht, dass man als Angehöriger eines verachteten Gewerbes nicht Gemeindevorsteher werden konnte. Ja, es scheint sogar, dass man gewisse Gewerbetreibende vor Gericht nicht als Zeugen zuließ, d. h. dass man ihnen aufgrund ihres Berufes wichtige bürgerliche Rechte verweigerte. Außenseiter der Gesellschaft Sigfrid Grän H

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