Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 4

4/2022 17 Umwelt Jesu zu den verachteten Berufen gehörten. Wir haben eine ganze Reihe von Zeugnissen aus der rabbinischen Literatur, in denen die Hirten den Steuereintreibern, Zöllnern und Räubern gleichgestellt werden. Sie werden z. B. für unfähig erklärt, vor Gericht als Zeugen aufzutreten. Gilt das schon von den selbständigen Hirten, die der Familie des Herdenbesitzers angehören, so gilt das noch mehr von den „Mietlingen“, d. h. den gegen Lohn arbeitenden Hirten. Ihr Ruf ist besonders schlecht. Bezeichnend ist folgender Fall: einem Hirten wurden die Tiere täglich vor Zeugen übergeben; eines Tages aber übergab man sie ihm ohne Zeugen, und da war er unverfroren genug, zu behaupten, die Übergabe habe gar nicht stattgefunden (inWirklichkeit hatte der Hirte zwei Tiere zum eigenen Nutzen auf die Seite geschafft). Nach der Weisung der Rabbinen durfte man von einem Hirten keine Milch, keine Wolle und kein Zicklein kaufen, weil man immer annehmen musste, es sei geraubteWare. Was ein Hirt stehlen kann, ohne dass sein Herr es bemerkt – so lautete eine allgemeine Regel – darf man von ihm nicht erwerben. – „Räuberisch“ benahmen sich die Hirten auch, wenn sie (was offenbar nicht selten geschah) ihre Herden auf fremden Grund trieben. Verständlich wir so manche „Unehrlichkeit“, wenn wir erfahren, was ein Hirt im Durchschnitt verdiente. Leider machen weder das Alte noch das Neue Testament Aussagen über die Höhe des Hirtenlohnes. Aus dem sogenannten „PreisEdikt“ des Kaisers Diokletian (284–305 n. Chr.) kann man aber vorsichtige Rückschlüsse ziehen: ein Hirte hat demnach weniger verdient als ein Tagelöhner in der Landwirtschaft (der sich seinerseits schon an der unteren Grenze des Existenzminimums bewegte). Mit anderen Worten: so mancher Hirte musste sich „unredliche“ Einkünfte verschaffen, wenn er menschenwürdig leben wollte. Die Abwertung des Hirtenstandes in der Praxis hat allerdings nichts zu tun mit der theologischen Hirtensymbolik. Wenn Gott als „Hirte Israels“ tituliert wird (vgl. Ps 23,1: „Der Herr ist mein Hirt , nichts wird mir fehlen“), dann schwingen in diesem Begriff keine kritischen Vorstellungen mit. Auch Jesus als der „gute Hirte“ verkörpert nur Liebe und Fürsorge. Anders ist es, wenn die jüdische Führungsschicht von den Propheten mit Hirten verglichen wird. Hier bekommt der Hirtentitel herrschaftskritische Bedeutung: die schlechten Hirten zerstreuen die Herde (d. h. das Volk), sie arbeiten in die eigene Tasche und beuten ihre Schafe rücksichtslos aus (z. B. Ez 34,2). Die von Lukas in der Weihnachts ­ geschichte erwähnten „frommen HirAußenseiter Außenseiter Guter Hirte, byzantinische Skulptur aus Gaza, Rockefeller Museum Jerusalem © Petrus Schüler

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