Im Land des Herrn | 76. Jahrgang | 2022 - 4

Fr anz i skan i sche Ze i t schr i f t für das He i l i ge Land 76 . Jahrgang 2022 / He f t 4

s ist sicher eine der Nachrichten, auf die wi r schon lange gewartet haben: die Pilgerfahrten in das Heilige Land sind wieder möglich! Einige Gruppen konnten das biblische Land mit unserem Generalkommissariat Wien besuchen und kamen beschenkt und mit vielen Eindrücken zurück. Schon im Februar 2023 werden die nächsten Pilgerfahrten stattfinden und wir hoffen, dass die Situation stabil bleibt. Dabei denken wir nicht nur an die Corona-Pandemie; auch die politische Lage ist momentan (wieder einmal) nicht so einfach. Die Franziskaner im Heiligen Land haben die Zeit der Pandemie nicht „verschlafen“: so wurde ein großes Projekt zugunsten der Pilger auf dem Hirtenfeld in Bet Sahur begonnen: der Bau verschiedener neuer Kapellen zur Feier der Heiligen Messe. Der Hintergrund: schon in Betlehem sind es sehr viele Pilgergruppen, die am heiligen Ort die Eucharistie feiern. Manche Gruppen weichen auf die Hirtenfelder aus, um hier in Ruhe und Konzentration ihren Gottesdienst zu feiern. Ein Problem war es, in der Pandemie-Zeit für Gruppen in den nicht sehr geräumigen Grotten und Höhlen ausreichend Platz anbieten zu können. Als Ausweichmöglichkeiten boten sich bisher die Ruinen der byzantinischen Köster auf dem Gelände an, aber diese Ruinen sollen in der Zukunft besser geschützt werden und so werden einige Gottesdienstorte neu errichtet. In den nächsten Sehr verehrte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Heiligen Landes! Ausgaben unserer Zeitschrift werden wir davon berichten. Ein Artikel dieser Ausgabe behandelt die Tradition der „Pilger-Tätowierungen“ in Jerusalem, eine für uns fremde Praxis. Bemerkenswert ist, dass es sich hier um eine uralte Tradition handelt, die in Jerusalem immer fortgeführt wurde. Ich freue mich, Ihnen wieder eine relativ unbekannte Heilig-Grab-Kapelle vorstellen zu können, dieses Mal im äußersten Süden Deutschlands. Und immer wenn eine solcher Nachbau eines Heiligen Grabes vorgestellt wird, erreichen uns Hinweise, wo man andere Heilige Gräber im deutschsprachigen Raum finden kann. Immer ist es beeindruckend, wie einzelne Menschen diese Orte pflegen und sich verantwortlich fühlen. Am Ende dieses Jahres soll der Dank an unsere Leser und Wohltäter stehen: viele von ihnen spenden im Laufe des Jahres für die Arbeit im Heiligen Land und an dieser Stelle sei von Herzen „Vergelt’s Gott“ gesagt! Ohne Ihre Hilfe könnten die Franziskaner ihre Mission nicht erfüllen. Ein frohes, gesegnetes Weihnachtsfest und alles erdenklich Gute für das kommende Jahr wünsche ich im Namen aller deutschsprachigen Kommissare des Heiligen Landes, Ihr E

4/2022 3 Inhalt Mit den Franziskanern ins Heilige Land pilgern Elias van Haaren Hirten auf Betlehems Feldern Die ersten Künder der Frohen Botschaft der Menschwerdung Gottes Robert Jauch Sepphoris Heinrich Fürst – Gregor Geiger Außenseiter der Gesellschaft Sigfrid Grän Maria von Ägypten Ihr Weg von der Sünde zur Buße und zur Erfüllung im Gelobten Land Robert Jauch Eine Säule der Grabeskirche findet einen neuen Platz Petrus Schüler Die Kapelle des Heiligen Grabes bei Weiterdingen Petrus Schüler Wie ein Siegel auf dein Herz – Christliche Tätowierungen im Laufe der Geschichte Marie-Armelle Beaulieu Buchempfehlung Titelbild: Pilgerin vor dem Eingang der Grabeskirche Jerusalem © Petrus Schüler Rückseite: Säule aus der Rotunde der Grabeskirche im Garten Getsemani © Petrus Schüler Seite 7 Seite 15 Seite 33 Seite 23 Seite 4 Seite 10 Seite 30 Seite 38 Seite 27

4 4/2022 er Herbst 2022 war für uns im Generalkommissariat Wien etwas ganz Besonderes: endlich konnten wir wieder Pilgerreisen durchführen, das waren zum Teil Reisen die schon seit Beginn der Corona-Pandemie mehrmals verschoben werden mussten. Im Oktober standen gleich mehrere Reisen auf dem Programm: Heiliges Land und Jordanien sowie „Pilgern auf dem Abrahamsweg“. Erfreulicherweise haben uns die Interessenten die Treue gehalten und so hatten wir auch gleichzeitig mehre Pilgerreisen. Einer Gruppe aus der Pfarrei St . Anna in München war es besonders wi cht ig , auch auf den Spuren der Pfarr- und Kirchenpatronin, der heiligen Anna zu pilgern. NatürMit den Franziskanern ins Heilige Land pilgern Elias van Haaren Altar für die Gruppenmesse am See © Petrus Schüler D

4/2022 5 lich gehen wir gern auf spezifische Wünsche ein und so konnte die Gruppe in Sepphoris nicht nur den bekannten Nationalpark besuchen: Es war sicher einer der Höhepunkte der Reise, die Hei l ige Messe in den Ruinen der Kreuzfahrerkirche feiern zu können. Leider sind es nur wenige Gruppen die sich dafür Zeit nehmen; es liegt auch an den Modalitäten eines Besuches dort, denn es kann schon sein, dass die Schranke des Moschaw geschlossen ist und man dann länger telefonieren muss, um Einlass zu erlangen. Die Franziskaner der Kustodie des Heiligen Landes sind Eigentümer der Anlage und kümmern sich um die Erhaltung der Ruine und die Pflege des großen Grundstücks mit hunderten Olivenbäumen. Als Ordensleute und Hüter des Ortes sind Priester der Ordensgemeinschaft „Verbo encarnado“ (auf Deutsch: „Institut des fleischgewordenen Wortes“) zuständig. In einem weiteren Artikel dieser Zeitschrift soll die Geschichte von Sepphoris noch einmal in den Blick genommen werden. Eine andere Pilgergruppe machte sich mit mir auf den Weg nach Jordanien. Natürlich sind die „Highlights“ immer dabei: Petra, die faszinierende Felsenstadt und Wadi Musa mit einer Übernachtung in den Zelten eines Beduinen-Camps. Aber es geht uns ja vor allem um Jordanien als Teil des „Heiligen Landes“, und so stehen der Berg Nebo und Machärus (Herodes-Palast, wo nach der Tradition der hl. Johannes der Täufer enthauptet wurde) immer auf unserem Programm und damit besuchen wir auch ganz franziskanische Orte: Machärus wurde und wird vom „Studium Biblicum“ weiter ausgegraben. Auf dem Berg Nebo war das ebenso; in den letzten Jahren ist die „Notkirche“ durch einen neuen, ansprechenden Kirchenbau ersetzt worden, und ständig wird die Infrastruktur des Heiligtums verbessert, um auch den vielen Besuchern aus arabischen Ländern die auf den Berg Nebo kommen, den Besuch zu einem Erlebnis werden zu lassen. Einmal gelingt das durch die ausgestellten einmaligen und mustergültig restaurierten Mosaiken und zum anderen dadurch, dass die Mitbrüder die biblische Geschichte des Nebo in den Vordergrund stellen. Und auch für Moslems gibt es eine Brücke zu Mose („Musa“), dem im Koran am häufigsten erwähnten Propheten. Eine lebendige Tradition hat sich hier erhalten: am Fuße des Berges Nebo gibt es eine Mose-Quelle, und die Muslime der Umgebung kommen hier in großer Zahl um mit Kanistern Trinkwasser zu schöpfen. Unsere Pilgerreisen wollen auch immer dem Kontakt zu den einheimischen Christen dienen: in Ajlun (oft „Adschlun“ geschrieben) besuchten wir einen Marien-Wallfahrtsort und werden Pilgerreisen Pilgerreisen In den Ruinen der Anna-Kirche: ein Priester von Verbo encarnado und ein Franziskaner (P. Gregor Geiger) © Igor Hollmann

6 4/2022 IM LAND DES HERRN schon fast traditionell zu einem typisch arabischen Mittagessen eingeladen. Auch dort gibt es einen biblischen Hintergrund, denn es ist die Heimat des Propheten Elija. Eine Pilgerfahrt erfordert eine professionelle Organisation. Das geschieht durch das Büro unseres Kommissariates in Wien wie auch durch unsere lokale Reiseagentur, die uns nun schon seit vielen Jahren hervorragend betreut. In unserer Gruppe, die von München aus die Pilgerreise unternommen hat, waren es vor allem Pilger, die zum ersten Mal das Heilige Land besucht haben. Ein Pilger berichtet so: „Es war alles so organisiert , dass man sich wirklich auf das Wesentliche konzentrieren konnte, ohne ständig an die (auch notwendigen!) Dinge wie Mahlzeiten, Möglichkeit zum Erholen und Toilettenbesuch denken zu müssen.“ Ein weiteres ganz wesentliches Merkmal unserer Pilgerreisen ist, dass es wirklich Pilgerreisen sind! Dazu gehört für uns selbstverständlich die tägliche Feier der Heiligen Messe und oft auch noch morgendliche und abendliche kurze Gebetszeiten. Leider ist das auch bei renommierten Reise-Veranstaltern längst nicht mehr selbstverständlich. Ein weiteres Merkmal unserer Reisen ist die Voll-Pension. Unsere Erfahrung über Jahre hat gezeigt, dass man einfach eine Mittagspause braucht, um wieder „fit“ zu sein für das Programm der zweiten Tageshälfte. Da wäre es für viele Pilger einfach eine zusätzliche Belastung, nach einem passenden Restaurant suchen zu müssen oder nach einem sauberen Platz, um zu rasten und sich zu erholen. So ist auf unseren Reisen das Mittagessen eingeschlossen – um es Ihnen leichter und auch (am Ende) günstiger zu machen. Eine Pilgerfahrt ins Heilige Land ist immer auch eine Herausforderung: man trifft auf Kulturen, die man so nicht kennt, man macht Beobachtungen bezüglich des politischen oder kulturellen Hintergrundes und man erfährt was es heißt, das „Fünfte Evangelium“ kennenzulernen. In der Regel ist es ein Franziskaner, der die Pilger begleitet und der dann auch gern „in den Zwischenzeiten“ zum Gespräch bereit ist , auf Fragen zu antworten oder manches „ins rechte Licht zu rücken“. Auch im Jahr 2023 stehen wir wieder zu Ihrer Verfügung! Sie können sich gern auf der vorletzten Seite der Zeitschrift informieren. Besonders hingewiesen sei auf zwei besondere Reisen: Auf den Spuren der orientalischen Christen und auf den Spuren der Apostel werden wir wieder Pilger begleiten. Ein jordanischer Mann beim Wasser holen an der Mosequelle; im Hintergrund der Berg Nebo © Petrus Schüler

4/2022 7 er das Heilige Land besucht und außer der Geburtsgrotte Jesu mit der altehrwürdigen Basilika in Betlehem darüber auch die Hirtenfelder besuchen möchte, kann sich entscheiden. Da gibt es in unmittelbarer östlicher Nachbarschaft zu Betlehem in dem Ort Beit Sahur (Haus der Magier) gleich zwei Stätten, die einer Besichtigung wert sind: das Terrain der Franziskaner oder Lateiner, wie die an den heiligen Stätten Palästinas und Israels nahezu allgegenwärtigen Vertreter der römisch-katholischen Kirche im Heiligen Land gerne genannt werden, und das der griechischen Orthodoxen. Die Stadt mit über 15.000 Einwohnern ist immer noch zu 80 % christlich und lebt im Wesentlichen vom Tourismus bzw. von dem, was Einheimische aus Olivenholz schnitzen und den Besuchern verkaufen: Krippen mit der Heiligen Familie, Ochs und Esel, Schafe, Ziegen und Hirten, Engel und auch Kamele. Die Hirten aus der Weihnachtsgeschichte des Evangeliums bilden auch, von zwei Olivenzweigen umrahmt und gehalten, das Stadtwappen von Beit Sahur. Verdutzt mag der Pilger sich fragen, ob schon die Hirten nach Konfessionen zu unterscheiden gewesen wären und welches nun das vermeintlich „echte“ Hirtenfeld sei. Beide Orte sind etwa zwei Kilometer von Betlehem entfernt und verfügen über eigene, sich ergänzende Traditionen. Hirten (vgl. zum Folgenden: Josef Katzer. Leben in Israel zur Zeit Jesu. Würzburg 2003. S. 157 ff.) kümmerten sich im Vorderen Orient um einen wichtigen Erwerbszweig. Folglich genossen sie auch ein gewisses Ansehen. In der Bibel werden die Fürsten der Völker als Hirten bezeichnet: „Ich gebe euch Hirten nach meinem Herzen; mit Einsicht und Klugheit werden sie euch weiden.“ (Jer 3,15) Doch gab es auch schlechte Hirten. „Wehe dem nichtsnutzigen Hirten, der die Schafe im Stich lässt!“ (Sach 11,17a) Jesus selbst bezeichnet sich schließlich selbst als den guten Hirten, der sich zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24) gesandt weiß. Er kennt seine Schafe, und sie kennen ihn; er sorgt sich um das einzelne verlorene Schaf, und veranstaltet ein Freudenfest, wenn er es wiedergefunden hat. Kleiner Hirt auf den Feldern bei Betlehem © Petrus Schüler W Hirten auf Betlehems Feldern Die ersten Künder der Frohen Botschaft der Menschwerdung Gottes Robert Jauch

IM LAND DES HERRN 8 4/2022 Natürlich weiß niemand, wo die Hirten aus dem Evangelium genau campiert haben. Sie musste mit ihren Herden ohnehin umherziehen, zumal in den regenarmen Sommermonaten, um Futter für ihre Tiere zu finden. Den Blicken der Eigentümer der Herden entschwunden, bestand immer die Möglichkeit für den Hirten, sich auch selbst zu bereichern. Unehrlichkeit und Pflichtvergessenheit waren ihm schlecht nachzuweisen; deshalb betraute der Eigentümer gerne Mitglieder der eigenen Sippe mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe. Die Söhne Jakobs waren mit den Herden ihres Vaters unterwegs (s. Gen 37), und auch David hütete die Schafe seines Vaters (s. 1 Sam 17,34). Die Entlohnung war geregelt, aber Betrug konnte nie ganz ausgeschlossen werden. So nimmt es nicht Wunder, dass manche jüdische Quellen vor den Hirten warnen und sie zu den Räubern und Betrügern rechnen. Dass Hirten als erste die Geburt des Messias vermelden, mag unterstreichen, dass Jesus gekommen ist, um Sünder zu berufen, nicht die Gerechten (s. Mt 9,13b). Die Hirtenfelder von Betlehem grenzen an die Ausläufer der Wüste Juda, die keine Sandwüste, sondern ein Kalksteingebirge ist , auf dessen dünner Humusschicht es für einige Wochen grünt und blüht, wenn es genug geregnet hat. Im Spätfrühling wanderten die Hirten mit ihren Herden hoch auf die abgeernteten Gersten und Weizenfelder vor Betlehem. Hier lagerten sie, als Maria Jesus gebar. Hier irgendwo erreichte sie die Botschaft der Engel. Das lateinische Hirtenfeld entstand da, wo Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer kleinen An- höhe Reste eines Klosters entdeckt worden waren. Die Franziskaner konnte das Gelände etwa 50 Jahre später erwerben und wiederum 50 Jahre danach setzten systematische Grabungen ein. Danach gehörten die Ruinen zu einem Kloster aus der Zeit um 400 n. Chr. , das im 6. Jahrhundert erweitert wurde und bis gegen 800 existiert haben muss. Landwirtschaftlich genutzte Höhlen, eine Bäckerei und verschiedene Kirchen konnten ausgemacht werden. Durch Keramik- und Münzfunde gesichert ist, dass die Gegend schon im 1. Jahrhundert bewohnt war. Der mit Hilfe kanadischer Pilgerspenden 1954 errichtete kleine Kuppelbau wurde nach Plänen des Architekten Antonio Barluzzi errichtet, dem die Franziskaner eine ganze Reihe wunderschöner Kirchen wie z. B. die in Gethsemane, am Ölberg (Dominus flevit), in Bethanien und in Ain Karem sowie auf dem Berg Tabor verdanken. Sie vermittelt den Eindruck eines offenen Zeltes durch die Gestaltung der Kuppel mit Glasbausteinen. Neben ihr werden aber auch noch Grotten dahinter als gottesdienstliche Räume genutzt , von denen die Pil- ger wegen der besonderen Atmosphäre ni cht l as s en wol len. Die in al lerletzter Zeit errichteten Kapellen auf dem Hirtenfeld nehmen dem gesamten Ort zwar immer mehr das Flair eines offenen Hirtenfelds, aber die Erfordernisse der Pilgergruppen aus aller Herren Länder, die hier die Christmette feiern wollen, lässt die Bautätigkeit mehr als sinnvoll erscheinen. Das orthodoxe Hirtenfeld l i egt nur 500 Meter entfernt . Eine tiefer l iegende Schafherde in der Kalksteinwüste Judäas nahe Betlehem © Petrus Schüler

4/2022 9 Kirche war dort immer schon bekannt. Vor dem Bau einer neuen Kirche 1972 wurde das Gelände erforscht, wonach fünf Vorgängerbauten ausgemacht werden konnten, die bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen. Gottesdienste wurden hier bis ins 10. Jahrhundert gefeiert, weshalb man sich entschloss, die neue Kirche nebenan zu errichten. Ob die Gräber der Weihnachtshirten hier anzusiedeln sind, ist letztlich nicht zu klären. Jenseits der offenen Fragen der Archäologie ist das orthodoxe Hirtenfeld allerdings liebevoll gepflegt und kann als Kleinod gärtnerischer Gestaltungssorge als Ort der Ruhe und der Naturschönheit dienen. Die beiden Hirtenfelder sind also sozusagen schon ökumenisch, bevor es zur konfessionellen Trennung kam. Die Hirten Sie waren, wie das Lukasevangelium (Lk 2,8–20) festhält , bei der Nachtwache, als der Engel , „vom Glanz des Herrn umstrahlt“ zu ihnen kam. Ihre verständliche Furcht verflog, da der Engel ihnen „eine große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll“, verkündete. Sie sollten „als Zeichen… ein Kind finden, das in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt“. Sofort war ein ganzes himmlisches Heer bei dem Engel, das Gott lobte und sprach (vermutlich sogar jubelnd sang): „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.“ Sie machten sich umgehend auf den Weg nach Betlehem, nachdem das himmlische Herr verschwunden war, und fanden vor, was ihnen angekündigt worden war. Was sie sahen, erzählten sie natürlich weiter und erzeugten großes Staunen bei ihren Zuhörern. Die Hirten kehrten zu ihren Herden zurück und rühmten und priesen Gott für das, was sie gehört und gesehen hatten. Nicht die Großen und Mächtigen, nicht die Klugen und Weisen sollten die ersten Augenzeugen des menschgewordenen Gotteskindes sein. „Normale“ Menschen waren auserwählt und erhielten die Chance dazu. Nach dem wichtigsten Ereignis der Weltgeschichte gefragt, werden immer noch ungezählte Menschen die Geburt Jesu als den Dreh- und Angelpunkt aller Zeiten und schlechthin bezeichnen. Seither bezeichnen wir die Jahre mit dem Zusatz „nach Christi Geburt“ und zählen die Jahre als Anni Domini (A. D.), auch wenn das manchen anderen Religionen und Agnostikern ein Dorn im Auge ist. Von den Hirten können wir Christen nicht nur an Weihnachten lernen, was es heißt, auch mitten in unserem Alltag offen für den Anspruch Gottes zu sein und der himmlischen Verheißungen zu vertrauen. Von ihnen auch dürfen wir die spontane Bereitschaft übernehmen, nachdem ein möglicher erster Schrecken verflogen ist , die Zeichen der gnadenerfül l ten Zei t zu suchen und wahrzunehmen und dann davon we i ter zuer zähl en . „Denn wovon das Herz überfließt , davon spricht der Mund. “ (Mt 12 ,34b) Pi lger, die die Hirtenfelder besuchen konnten, bestätigen dieses Jesuswo r t imme r w i ede r und berichten von ihren erfüllenden Erfahrungen an Ort und Stelle. In ihrem Handeln kann das Wort jedes Mal wieder Fleisch (Tat) werden. Kirche auf dem Lateinischen Hirtenfeld © Raynald Wagner Hirten Hirten

10 4/2022 Blick auf das Ausgrabungsgelände im Nationalpark © Petrus Schüler Sepphoris Heinrich Fürst – Gregor Geiger ie Stadt Sepphoris ist seit dem Hasmonäerkönig Alexander. Jannai (103–76 v. Chr.) bekannt und war seit 55 v. Chr. die Hauptstadt von Galiläa mit hauptsächlich jüdischer Bevölkerung. Der Name ist die griechische Form des hebräischen Zippori. Angeblich hieß sie so, weil sie wie ein Vogel (hebr. Zippor) auf dem Hügel thronte. Nach demTod Herodes des Großen (4 v. Chr.) nutzte die Stadt die Gelegenheit zu einer Revolte gegen die im Namen Roms ausgeübte Staatsmacht und wurde dafür vom römischen Befehlshaber Varus zur Strafe niedergebrannt. Es war derselbe Varus, der ein gutes Jahrzehnt später imTeutoburgerWald dem Cheruskerfürsten Hermann unterlag und daraufhin Selbstmord beging. Der Sohn Herodes des Großen, Herodes Antipas (4 v. Chr. – 39 n. Chr.), baute Sepphoris wieder auf und machte es erneut zur Hauptstadt von Galiläa. Flavius Josephus nennt die Stadt voller Bewunderung „Zierde von Galiläa“. So ist es vorstellbar, dass Josef, der Ziehvater Jesu, beimWiederaufbau von Sepphoris Arbeit und Brot fand. Nachrichten darüber liegen freilich nicht vor. Später wurde Sepphoris durch die Neugründung Tiberias als Hauptstadt von Galiläa abgelöst. Sepphoris wird im Talmud oft erwähnt und beherbergte gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. für 17 Jahre den Sanhedrin (Hohen Rat). Man nimmt an, dass es in Sepphoris wie auch in Nazaret Judenchristen gegeben hat, die Jesus als Messias anerkannten, aber an der gesetzestreuen Religionspraxis des Judentums festhielten und darüber in Konflikt mit der großen, heidenchristlich orientierten Kirche gerieten. Seit Kaiser Hadrian (2. Jh. n. Chr.) nannte sich die Stadt mit Verbeugung vor Rom Diocaesarea („Gott-Kaiserliche“). Im 5. Jahrhundert wurde Sepphoris Bischofssitz. Im Mittelalter galt Sepphoris als Heimat der hl. Anna, der Mutter der Gottesmutter Maria. DesD

4/2022 11 halb hatten die Kreuzfahrer hier eine dreischiffige Kirche zu Ehren der hl. Anna erbaut, ohne dass man sich an der Paralleltradition in Jerusalem gestört hätte. Nach der Kreuzfahrerzeit trug das Dorf den antiken Namen in der arabischen Form Saffurije weiter. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es das größte Dorf in Gal i läa , genaue Angaben sind schwer zu bekommen, je nach Quelle ist von 4.000 bis 12.000 Einwohnern die Rede, fast durchweg Musl ime. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 war das Dorf Schauplatz schwerer Kämpfe, die Einwohner flohen oder wurden vertrieben, viele von ihnen nach Nazaret. Während sich das arabische Dorf auf dem Hügel befand, um die Zitadelle herum in der archäologischen Zone und südlich davon, wo heute ein Pinienwäldchen ist, entstand ab 1949 unterhalb davon der Moschaw, der den hebräischen Namen Zippori wiederbelebt hat. Er hat heute gut 600 Einwohner. Die Annakirche: Um zur Kreuzfahrerkirche zu kommen, fährt man in den Moschaw hinein. An den spärlichen Überresten des arabischen Dorfes vorbei kommt man zur Kirche. Das Sträßchen endet an der Einfahrt der St.-Anna-Schwestern, die hier ein Waisenhaus und eine Schule für arabische Kinder aus den Nachbardörfern unterhalten. Links daneben ist der Eingang zum Grundstück mit der imposanten Kirchenruine, die stimmungsvoll von einem Olivenhain umgeben ist. Sie wurde 1841 von den Franziskanern erworben und freigelegt. Der vordere Teil der Kreuzfahrerkirche (37 x 22m), zumal die Apsiden, sind hervorragend erhalten, der hintere Teil der Außenmauern wurde 1870 ergänzt. Schon bei den ersten Untersuchungen im 19. Jahrhundert wurde hier eine aramäischeWeihe-Inschrift aus talmudischer Zeit (4./5. Jahrhundert) gefunden, die einen Rabbi Judan, Sohn des Tanhum nennt, der einen Denar spendierte. Ob die Kreuzfahrer ihre Kirche auf den Ruinen einer Synagoge, einer judenchristlichen Kirche oder einer später errichteten byzantinischen Kirche bauten, ist nicht geklärt. An der Stelle der nördlichen (linken) Apsis bewahrten die Kreuzfahrer einen Raum (heuSepphoris Sepphoris Heilige Mutter Anna und Gottesmutter Maria © Igor Hollmann Ruine der Kreuzfahrerkirche St. Anna © Petrus Schüler

12 4/2022 te eine schlichte Kapelle), der wohl als Haus der hl. Anna, der Großmutter Jesu, verehrt wurde. Unterhalb der Annakirche, im Talgrund, sieht man einen kleinen Bau mit blauer Kuppel; man erreicht ihn, indem man die Sackgasse zurück zur Dorfstraße fährt, diese nach rechts nimmt und bald wieder nach links einbiegt. Verehrte die örtliche Überlieferung in diesem Grabmal aus der Römerzeit das Grab der Töchter Jakobs, sah die jüdische Tradition hier das Grab von Jehuda ha-Nasi (hebr. „Juda, der Fürst“, 165–217 n. Chr.). Er hat die Mischna verfasst, genauer gesagt hat er die mündlichen Traditionen, die dieser wichtigsten und ersten jüdischen nachbiblischen Gesetzessammlung zugrunde liegen, schriftlich zusammengestellt. Dass es dazu in Bet Schearim eine konkurrierende Überlieferung gibt, störte den frommen Juden ebensowenig wie den frommen Christen die Doppelüberlieferung über die hl. Anna. Heute ist die Annahme mehr verbreitet, hier ruhe Jehuda Nessia (dieser aramäische Name bedeutet ebenfalls „Juda, der Fürst“), der Enkel von Jehuda ha-Nasi. Um die Grabanlage herum befand sich wohl in talmudischer bzw. byzantinischer Zeit der jüdische Friedhof, von dem kaum mehr etwas zu erkennen ist. In einer Höhle wird auch das Grab der Frau von Jehuda ha-Nasi gezeigt. Der Nationalpark: Am Eingang des Nationalparks, noch in erheblicher Entfernung vom Ausgrabungsgelände, lohnt sich ein Abstecher nach links, zu den freigelegten Überresten der antiken Bewässerungsanlagen. Aus mehreren Quellen weiter östlich wurde Wasser in die Stadt geleitet. Ein enormes Wasserreservoir (260 m lang, 4.300 m3 Fassungsvermögen) kann besichtigt werden. Von dort wurde das Wasser zunächst in einem 235m langen Tunnel, dann in einem Kanal in die Stadt geleitet. Das letzte Drittel des Tunnels Grabanlage von der Anna-Kirche aus gesehen © Petrus Schüler Mosaik-Kopie der Inschrift in der Anna-Kapelle © Petrus Schüler IM LAND DES HERRN

4/2022 13 ist begehbar. Platzangst darf man nicht haben, eine Taschenlampe ist unbedingt notwendig. Die Ausgrabungen erstrecken sich um die Zitadelle auf dem Hügel und in der Ebene östlich davon (vom Eingang des Parks gesehen vor dem Hügel). Schon 1931 führten Sondierungen zur Entdeckung bedeutender römischer und byzantinischer Überreste. Ab 1983 nahmen sich israelische Archäologen unter Mitarbeit mehrerer amerikanischer Universitäten dieser Überreste wieder an und begannen mit den systematischen Ausgrabungen, die bis heute fortdauern und die „Zierde von Galiläa“ wieder ans Licht bringen. Vom Parkplatz aus betritt man das Ruinengelände über den Decumanus, die Ost-West-Achse römischer Städte, der den Cardo (Nord- Süd-Achse) kreuzt. Beide sind gepflastert, der Cardo beiderseits flankiert von einst überdachten Säulengängen mit Mosaikböden. Diese wurden in der byzantinischen Zeit neugestaltet, wie die mehrfache Erwähnung eines Bischofs Eutropius zeigt. Leider ist dieser Bischof aus keiner anderen Quelle bekannt, so dass eine Datierung dieser Umbauten nicht möglich ist. Östlich des Cardos wurde 2014 eine geräumige Kirche entdeckt , wahrscheinlich die, von deren Renovierung im Jahr 518 n. Chr. auf einer Inschrift im Cardo die Rede ist. Diese Kirche scheint an der Stelle eines römischen Tempels errichtet worden zu sein. Von zwei weiteren Kirchen, die längs des Cardos gefunden wurden, ist fast nichts erhalten. Dagegen erfreuen die zahlreichen Mosaike von reichen Privathäusern heute wieder das Auge des Besuchers. Besonders beeindruckend ist das „Nil-Haus“, so von den modernen Ausgräbern bezeichnet aufgrund des prächtigsten der Mosaike, dessen zentrales Thema der Strom Nil ist: Es zeigt eine Frau, die Ägypten symbolisiert, Tor und Türme von Alexandria, Jagdszenen und Darstellungen zu einem ägyptischen Freudenfest, das jährlich beim höchsten Wasserstand des Nil gefeiert wurde. Einige der Mosaike wurden durch fallende Steine beschädigt, wie es für Zerstörungen durch Erdbeben typisch ist, andere zeigen Spuren eines Brandes, möglicherweise während der Zerstörung der Stadt durch die Perser (614). Noch bevor man den Hügel hinaufsteigt, wendet man sich nach rechts (Norden), um die Synagogenruine zu besichtigen, die ebenfalls mit prächtigen Mosaiken dekoriert ist. Sie unterscheidet sich erheblich von anderen zeitgenössischen Synagogen (frühes 5. Jahrhundert) in Galiläa: durch die lang gestreckte Form (6,5 x 16 m), durch die Darstellungen biblischer Szenen, die zahlreicher sind als z. B. in Bet Alfa oder Tiberias, vor allem aber durch die Orientierung, die bisher nicht schlüssig erklärt werden konnte. Sie ist nämlich nach Nordwesten gerichtet, während bis auf wenige Ausnahmen Synagogen Jerusalem weisen (von hier aus fast genau südlich). Der Raum ist in ein Haupt- und ein Seitenschiff (beim Betreten des Raumes durch den Vorraum zur Rechten) geteilt. Das Mosaik des Hauptschiffes zeigt von unten nach oben: die Engel, die zu Abraham und Sara kommen (Gen 18,1–22), die Opferung („Bindung“) Isaaks (Gen 22,1–19), ein Tierkreiszeichen mit den hebräischen Monatsnamen (in der Mitte der Wagen des Sonnengottes Helios, ohne Darstellung von Alexandria auf dem Mosaik im „Nil-Haus“ © Petrus Schüler Sepphoris Sepphoris

IM LAND DES HERRN 14 4/2022 jedoch den heidnischen Gott selbst bildlich darzustellen), Opfergaben für den Tempel, die Weihe Aarons (Ex 29,1–9), Tempelgeräte sowie einen Kranz zwischen Löwen. In einer der Stifterinschriften im Seitenschiff wird ein Tanhum, Sohn des Judan genannt, möglicherweise der Sohn oder Vater des Judan, Sohn des Tanhum (es ist im Judentum üblich, einen Sohn nach dem verstorbenen Großvater zu benennen) aus der anderen Synagoge (an der Stelle der Annakirche, s. o.). Auf dem Hügel l iegt eine weitere luxuriöse römische Villa aus dem 3. Jh. n. Chr., die wohl durch das Erdbeben von 363 n. Chr. zerstört wurde. Größtenteils gut erhaltene Mosaike gehörten zum Spe i s e saa l und ze i gen Szenen aus dem Kult des Gottes Dionysos, mit der „Mona Lisa von Sepphoris“ in der Mitte, einem besonders schönen und fein gearbeiteten Frauenbildnis. Di e we i thin s i chtbare kubische Zitadelle auf der Kuppe des Berges stammt aus der Kreuzfahrerzeit; byzantinisches und römisches Material wurde da- bei wiederverwendet, Sarkophage dienen als Ecksteine. Eine Festung aus der Zeit um 150 v. Chr. konnte nachgewiesen werden. Noch ältere Kleinfunde aus der Bronze- und Eisenzeit belegen eine frühere Besiedlung dieses Ortes; es wurden aber aus jener Zeit keine Gebäudereste entdeckt, da diese wahrscheinlich bei späteren Bebauungen abgetragen wurden. Teile der Zitadelle und ihres Eingangs sind auf eine Wiederherstellung durch den Beduinenfürsten Daher al-Omar von Akko (18. Jahrhundert) zurückzuführen. In der jüngeren Vergangenheit befand sich im Gebäude die Schule des Dorfes. Heute ist darin eine kleine Ausstellung, die vor allem über die jüdische Geschichte von Sepphoris informiert, untergebracht. Die Dachterrasse gewährt eine gute Aussicht auf Sepphoris und die Umgebung. An der Nordflanke des Berges ist das halbrunde Theater angelegt , das etwa 4.000 Zuschauern Platz bot; es wurde allem Anschein nach von Herodes Antipas erbaut. Man fand ferner ausgedehnte Wohnviertel an der Westseite des Hügels. Im Pinienwäldchen an der Südflanke liegen die spärlichen Reste des arabischen Dorfes Saffurije und seines Friedhofes. „Mona Lisa“ von Galiläa in der römischen Villa © G. Klaus In die Mauern der Zitadelle eingebaute Sarkophage © Petrus Schüler

4/2022 15 eute sagen wir gerne „Jesus hat sich bevorzugt um Randgruppen gekümmert“, wobei wir uns in der Regel nicht klarmachen, wie diese Randgruppen konkret aussahen. Die Evangelien sprechen davon, dass Jesus mit „Zöllnern und Sündern“ Mahl gehalten hat, dass er bei „Zöllnern und Dirnen“ mehr Glauben gefunden hat als bei den Pharisäern und Schriftgelehrten. In der jüdischen Literatur der Jesus-Zeit gibt es stehende Wendungen wie „Zöllner und Räuber“, „Räuber, Betrüger, Ehebrecher, Zöllner“. – Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, solche Floskeln mit Leben zu füllen und die als „sündig“ eingestuften Menschengruppen näher zu kennzeichnen. Verachtete Gewerbe In der rabbinischen Literatur sind uns Listen überliefert, in denen Berufe aufgezählt werden, die ein frommer Israelit seinen Sohn nicht ausüben ließ, weil es (angeblich) „Räubergewerbe“ waren, die zur Unehrlichkeit verleiteten. Dazu gehörten Eseltreiber, Kamelführer, Schiffer und Fuhrmänner. Ihnen wurde unterstellt, dass sie das ihnen anvertraute Gut unterschlugen und zum eigenen Gewinn veräußerten. Vom ganzen Transportgewerbe hielt man einzig den Lastträger für „vertrauenswürdig“, weil er in der Regel nur für kurze Strecken eingesetzt wurde und dabei gut beaufsichtigt werden konnte. Im Übrigen waren die Eseltreiber und Kamelführer im damaligen Wirtschaftsleben sehr wichtig. Sie beförderten die Nahrungsmittel in die großen Städte. Die Bauern und Händler waren auf ihre Dienste angewiesen. Und die Esel- und Kamelzüge, die man zusammenstellte, um sich besser gegen die Unbilden des Weges und eventuelle Überfälle zu schützen, waren profitable Unternehmen. Vielleicht war es gerade dieser Profit, der viele Juden auf die Angehörigen des Transportgewerbes scheel herabschauen ließ. Aus ähnlichen Gründen hatten auch die Krämer und Fleischer keinen guten Ruf. Den Krämern sagte man nach, sie würden ihre Kunden übervorteilen, und den Metzgern, sie würden Fleisch verkaufen, das nicht den Speisevorschriften des Mosaischen Gesetzes entsprach (z. B. ein Rind, das von einem Raubtier gerissen war). Andere Gewerbe galten zwar nicht als unehrenhaft , aber wegen des mit ihnen verbundenen üblen Geruchs als ekelerregend, wie die Kotsammler, Gerber, und Walker. Betrieb ein Mann dieses verachtete Gewerbe, hatte die Ehefrau (wir haben früher schon darauf hingewiesen) das Recht, vor Gericht die Scheidung von ihrem Mann zu fordern, weil sie buchstäblich ihren Gatten „nicht mehr riechen konnte“. Im Gegensatz zu den Gerbern und ihren Mitarbeitern standen Hausierer, Aderlasser, Badediener und Weber im Ruf der Unsittlichkeit , weil sie beruflich mit Frauen zu tun hatten. Die Hausierer boten den Frauen z. B. Gewürze und Parfüms an. Dabei kam es gelegentlich vor, dass sie mit einer Frau allein waren, was Anlass zu bösen Verdächtigungen gab. Ähnlich stand es mit den Aderlassern und Badedienern. Bei den Webern kam hinzu, dass ihr Handwerk in Israel grundsätzlich nicht geschätzt war, weil es als „Weiberhandwerk“ galt. Wie begründet oder unbegründet solche Urteile auch waren: fest steht, dass man als Angehöriger eines verachteten Gewerbes nicht Gemeindevorsteher werden konnte. Ja, es scheint sogar, dass man gewisse Gewerbetreibende vor Gericht nicht als Zeugen zuließ, d. h. dass man ihnen aufgrund ihres Berufes wichtige bürgerliche Rechte verweigerte. Außenseiter der Gesellschaft Sigfrid Grän H

IM LAND DES HERRN 16 4/2022 Erwähnt seien am Schluss unserer Aufzählung noch einige „Berufe“, die förmlich auf Betrug hin angelegt waren und deshalb mit Recht geächtet wurden, wie Würfelspieler, Wucherer, Veranstalter von Taubenwettflügen (bei denen Wetten abgeschlossen wurden), Steuereintreiber und Zöllner. – Die Steuereintreiber und Zöllner (von denen auch schon früher die Rede war) missbrauchten, wie die Erfahrung lehrte, ihr Amt fast durchweg zu unrechtmäßiger Bereicherung. Von ihnen Almosen für die Armenkasse entgegenzunehmen war verboten, weil an diesem Geld Unrecht klebte. Wer zur pharisäischen Gemeinschaft gehörte und sich entschloss, das Amt des Steuereinnehmers oder Zöllners anzunehmen, wurde aus dieser Gemeinschaft exkommuniziert und konnte sich nur durch die Niederlegung seines Amtes rehabilitieren. – Auf dem Hintergrund solcher Tatsachen wird einem bewusst, wie souverän und revolutionär Jesus handelte, als er einen Zöllner in seine engste Jüngergemeinschaft berief und ohne Scheu mit „Zöllnern und Sündern“ Tischgemeinschaft pflegte und ihnen in Bildern und Gleichnissen seine „Frohbotschaft“ verkündete. Die Hirten Abgesehen von den Zöllnern kommen die oben genannten Berufe in unseren Evangelien kaum vor. Dagegen ist von den Hirten ziemlich häufig die Rede, wobei die Angehörigen dieses Berufsstandes in einem positiven Licht erscheinen. Die „frommen Hirten“ umstehen, nachdem sie die „Verkündigung an die Hirten“ vernommen haben, die Krippe des neugeborenen Gottessohnes. Dankbar preisen sie Gott für al les , was sie hören und sehen durften. – In einem Gleichnis schildert Jesus einen Hirten, der einem verlorenen Schaf nachgeht und nicht eher ruht, bis er es gefunden und heimgetragen hat. – Und in einem berühmten Bildwort nennt s i ch Je sus selbs t den „ guten Hi r t en“ , de r a l l e Tiere seiner Herde kennt, und der nicht zögert , für sie das Leben einzusetzen und hinzugeben. Ein Christ , der die genannten Stel len von klein auf kennt, w i r d ü b e r r a s c h t sein, wenn er nun erfährt , dass auch di e Hi r ten in der Gerber bei ihrer Arbeit in Hebron am Anfang des 20. Jahrhunderts, Dia Archiv Kommissariat München © Petrus Schüler

4/2022 17 Umwelt Jesu zu den verachteten Berufen gehörten. Wir haben eine ganze Reihe von Zeugnissen aus der rabbinischen Literatur, in denen die Hirten den Steuereintreibern, Zöllnern und Räubern gleichgestellt werden. Sie werden z. B. für unfähig erklärt, vor Gericht als Zeugen aufzutreten. Gilt das schon von den selbständigen Hirten, die der Familie des Herdenbesitzers angehören, so gilt das noch mehr von den „Mietlingen“, d. h. den gegen Lohn arbeitenden Hirten. Ihr Ruf ist besonders schlecht. Bezeichnend ist folgender Fall: einem Hirten wurden die Tiere täglich vor Zeugen übergeben; eines Tages aber übergab man sie ihm ohne Zeugen, und da war er unverfroren genug, zu behaupten, die Übergabe habe gar nicht stattgefunden (inWirklichkeit hatte der Hirte zwei Tiere zum eigenen Nutzen auf die Seite geschafft). Nach der Weisung der Rabbinen durfte man von einem Hirten keine Milch, keine Wolle und kein Zicklein kaufen, weil man immer annehmen musste, es sei geraubteWare. Was ein Hirt stehlen kann, ohne dass sein Herr es bemerkt – so lautete eine allgemeine Regel – darf man von ihm nicht erwerben. – „Räuberisch“ benahmen sich die Hirten auch, wenn sie (was offenbar nicht selten geschah) ihre Herden auf fremden Grund trieben. Verständlich wir so manche „Unehrlichkeit“, wenn wir erfahren, was ein Hirt im Durchschnitt verdiente. Leider machen weder das Alte noch das Neue Testament Aussagen über die Höhe des Hirtenlohnes. Aus dem sogenannten „PreisEdikt“ des Kaisers Diokletian (284–305 n. Chr.) kann man aber vorsichtige Rückschlüsse ziehen: ein Hirte hat demnach weniger verdient als ein Tagelöhner in der Landwirtschaft (der sich seinerseits schon an der unteren Grenze des Existenzminimums bewegte). Mit anderen Worten: so mancher Hirte musste sich „unredliche“ Einkünfte verschaffen, wenn er menschenwürdig leben wollte. Die Abwertung des Hirtenstandes in der Praxis hat allerdings nichts zu tun mit der theologischen Hirtensymbolik. Wenn Gott als „Hirte Israels“ tituliert wird (vgl. Ps 23,1: „Der Herr ist mein Hirt , nichts wird mir fehlen“), dann schwingen in diesem Begriff keine kritischen Vorstellungen mit. Auch Jesus als der „gute Hirte“ verkörpert nur Liebe und Fürsorge. Anders ist es, wenn die jüdische Führungsschicht von den Propheten mit Hirten verglichen wird. Hier bekommt der Hirtentitel herrschaftskritische Bedeutung: die schlechten Hirten zerstreuen die Herde (d. h. das Volk), sie arbeiten in die eigene Tasche und beuten ihre Schafe rücksichtslos aus (z. B. Ez 34,2). Die von Lukas in der Weihnachts ­ geschichte erwähnten „frommen HirAußenseiter Außenseiter Guter Hirte, byzantinische Skulptur aus Gaza, Rockefeller Museum Jerusalem © Petrus Schüler

IM LAND DES HERRN 18 4/2022 ten“ haben übrigens auch vorwiegend theologische Bedeutung: Sie stellen die „Gemeinde der Armen und Verachteten“ dar, die als erste die „Frohe Botschaft von Jesus“ empfangen und weitersagen. Eine Zwischenbemerkung Die negativen Urteile über einzelne Berufe und Stände, die wir bisher aus der Umwelt Jesu kennengelernt haben, waren damals sehr weit verbreitet. Modern gesprochen: Die oben erwähnten Berufe hatten in Israel ein „schlechtes Image“. – Nun sind Pauschalurteile eine missliche Sache: sie differenzieren nicht, sondern scheren alles und jeden über einen Kamm. Das hat man auch vor 2000 Jahren schon empfunden. Und deshalb gab es Männer, die ihre Stimme gegen die allgemeine Diskriminierung bestimmter Gruppen erhoben. So hören wir von einem Rabbi, der einen Eseltreiber rühmt, weil dieser in der Hl. Schrift besonders bewandert war. Ein anderer erklärt die Kameltreiber „in ihrer Mehrzahl“ für zuverlässig. Wieder ein anderer meint, die verrufenen Schiffer seien rechtschaffene Leute, weil sie durch die Gefahren ihres Berufes zur Frömmigkeit angehalten würden. – Nur von den Hirten finden sich in den rabbinischen Schriften ausschließlich abfällige Urteile (wenn man von Stellen absieht, in denen Gott selbst oder Mose oder David oder der Messias als Hirten geschildert werden). Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, können wir sagen: Das bisher von uns gezeichnete Bild gibt wohl Anschauungen wider, die weit verbreitet waren, aber nicht kritiklos von allen geteilt wurden. Wohltuend vernünftig und noch heute beherzigenswert klingt die Mahnung eines Rabbis, man dürfe aus einem negativen Einzelvorkommnis kein Vorurteil gegen einen ganzen Stand ableiten. Die Dirnen Bei Mt 21,31 sagt Jesus zu den Ältesten und Schriftgelehrten: „Die Zöllner und die Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ – Und im Hebräerbrief 11,31 lesen wir: „Aufgrund ihres Glaubens kam die Dirne Rahab nicht zusammen mit den Ungehorsamen um; denn sie hatte die Kundschafter in Frieden aufgenommen.“ – Und der Jakobusbrief fügt hinzu: „Wurde nicht ebenso auch die Dirne Rahab durch ihre Werke als gerecht anerkannt?“ (2,25). Dieses Lob regt uns an, uns kurz darüber zu informieren, was die Bibel zum Stichwort „Dirne“ zu sagen hat. Zunächst erfahren wir, dass geschlechtlicher Umgang mit Frauen gegen Bezahlung im alten Israel üblich gewesen zu sein scheint. Jedenfalls erwecken die frühesten Erzählungen nicht den Eindruck, die Israeliten hätten das Verhalten solcher Frauen als besonders tadelnswert empfunden. Im Mosaischen Gesetz wird allerdings die Praxis verpönt, dass Eltern ihre Tochter direkt zur Prostitution anhalten („Entweih nicht deine Tochter, indem du sie als Hure preisgibst, damit das Land nicht der Hurerei verfällt und voller Blutschande wird!“ – Lev 19,29). Es könnte bei dieser Stelle allerdings an kultische Prostitution gedacht sein (auf die wir gleich zu sprechen kommen). Später verurteilen die Propheten jede Buhlerei. Bei Jeremia z. B. klagt Gott: „Ich machte die Söhne Israels satt, doch sie trieben Ehebruch und waren zu Gast im Dirnenhaus“ (5,7). Mit einer Dirne verheiratet zu sein, konnte als Strafe Gottes gelten (Am 7,17). Die Weisheitsliteratur warnt vor der Dirne als einer bösen und trügerischen Frau (Spr 6,26). Priester dürfen „weder eine Dirne, noch eine Entweihte, noch eine Frau heiraten, die ihr Mann verstoßen hat, denn der Priester ist seinem Gott geheiligt“ (Lev 21,7). Zur Zeit Jesu waren – wie nicht anders zu erwarten – die „Profanprostituierten“ moralisch und gesellschaftlich geächtet. Als sich Jesus bei einem Gastmahl von einer stadtbekannten „Sünderin“ salben und berühren lässt, denkt sein Gastgeber (ein Pharisäer) bei sich: „Wenn dieser wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, die ihn berührt, dass sie eine Sünderin ist!“ (Lk 7,39).

4/2022 19 Der eben benützte Ausdruck „Profanprostituierte“ will uns darauf aufmerksam machen, dass es in der Alten Welt auch „Kultprostituierte“ (auch „Hierodulen“ genannt) gab. Im kanaanäischen Kulturkreis, d. h. in der heidnischen Umgebung Israels, waren sexuelle Vereinigungen im Rahmen von Saat- und Erntefesten üblich. Männliche und weibliche Tempelprostituierte verkörperten die göttliche Lebenskraft. Durch die „Heilige Hochzeit“ am Kultort wollte man sich – auf der Grundlage einer gewissen Imitations-Magie – der Fruchtbarkeit und des Segens eines Götterpaares vergewissern. Solche Ideen und Riten drangen vorübergehend auch in Israel ein. Deshalb wird in Dt 23,18 ausdrücklich bestimmt: „Unter den Frauen Israels soll es keine Geheiligte geben und unter den Männern Israels soll es keinen Geheiligten geben. Du sollst weder Dirnenlohn noch Hundegeld in den Tempel des Herrn, deines Gottes bringen.“ Nach 2 Makk 6,4 verstieß man eine Zeitlang gegen dieses Gebot, indem man sich „in den Vorhöfen des Jerusalemer Tempels mit Dirnen abgab“. Angemerkt sei noch, dass ähnlich wir „Hirte“ auch der Begriff „Dirne“ bzw. „Hurerei“ in der Bibel ausgiebig in übertragener Bedeutung verwendet wird: Israel ist mit seinem Gott gewissermaßen verheiratet, d. h. wenn es anderen Göttern nachläuft, lässt es sich vom Geist der Unzucht beherrschen und „hurt nach fremden Götzen“ (vgl. Deut 31,16). Wie ging Jesus mit den Dirnen um? – Wir erinnerten vorhin schon an seine Begegnung mit einer stadtbekannten „Sünderin“ im Haus eines Pharisäers (Lk 7,36–50). Was die Frau bei dieser Gelegenheit an Jesus tut, ist für damaliges Empfinden ungehörig: Sie kommt mitten in ein für Männer reserviertes Gastmahl, bringt ein Gefäß Parfüm mit, löst ihr Haar (was auf die Anwesenden besonders erotisch wirken muss), küsst wiederholt die Füße Jesu und tut endlich vor allen Augen, was in den intimen Bereich gehört: sie salbt Jesu Füße. – Jesus lehnt all diese Gesten nicht ab. Er deutet sie nicht erotisch, sondern nimmt sie als das, was sie in dieser Situation sind: Ausdruck des Glaubens, der Liebe und der Dankbarkeit; Ausdruck auch der Bereitschaft, sich Jesus anzuschließen und sich von ihm Heil und Glück schenken zu lassen. – Mit anderen Worten: Jesus lässt sein Verhalten nicht von den Urteilen und Vorurteilen seiner Umgebung bestimmen. Für ihn ist jeder Mensch ein Sonderfall, ein Individuum, das Zuwendung und Achtung verdient. Die jüdischen Sklaven Die bisher vorgestellten Personengruppen waren bei aller sozialen Ächtung in ihrer Lebensführung persönlich frei. Sie konnten grundsätzlich tun und lassen, was sie wollten. Indem wir uns nun noch kurz mit den Sklaven befassen, steigen wir auf der gesellschaftlichen Leiter sehr weit nach Die Sünderin wäscht Jesus die Füße, ehem. Klosterkirche Fürstenfeldbruck © Petrus Schüler Außenseiter Außenseiter

20 4/2022 unten, hin zu denen, über die von anderen verfügt wird. In der Zeit Jesu war die Sklaverei in Palästina eine ganz normale Entwicklung. Jesus lässt denn auch ohne weiteres Sklaven in seinen Gleichnissen auftreten, z. B. Mt 24,45–51 (Gleichnis vom treuen und vom schlechten Knecht, den sein Herr „in Stücke hauen lässt“) oder Lk 17,7–9 (Gleichnis vom unnützen Sklaven, der „nur seine Schuldigkeit getan hat“). Direkt hat sich Jesus nie gegen die Sklaverei ausgesprochen. Doch hat er Wege aufgezeigt (er betonte z. B. die Gleichheit aller Menschen, indem er alle vor Gottes Gericht stellte), die später zur Überwindung der Sklaverei führten. Betrachten wir zunächst die jüdischen Sklaven und fragen wir: Wie konnte ein Israelit in den Sklavenstand geraten? Dies konnte durch einen Krieg geschehen: Kriegsgefangene, die man auf dem Schlachtfeld schonte, wurden oft zu Sklaven gemacht. – Auch Selbstverkauf war möglich: Wen Hungersnot oder wirtschaftliches Unglück von Haus und Hof vertrieb, konnte sich selbst in die Sklaverei verkaufen. Das war die einzige Möglichkeit, nicht zu verhungern. – Diebstahl konnte auch zur Sklaverei führen. Wenn ein Dieb das Gestohlene nicht ersetzen konnte, wurde er als Sklave verkauft (im Gleichnis vom „unbarmherzigen Knecht“ spielt Jesus auf diese Gepflogenheit an: Als sich herausstellt, dass der erstgenannte Knecht die zehntausend Talent, die er veruntreut hat, nicht zurückzahlen kann, „befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, zu verkaufen, und so die Schuld zu begleichen“ [Mt 18,25]). – Ferner kamVerkauf von Kindern in die Sklaverei vor: Wenn Eltern verschuldet waren oder ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten, blieb ihnen noch die Möglichkeit, sie als Sklaven zu verkaufen. Jeder jüdische Vater hatte das Recht, seine minderjährige Tochter (bis zu zwölf Jesus als der Gute Hirte, Hausmalerei in Mittenwald © Petrus Schüler IM LAND DES HERRN

4/2022 21 Jahren) an einen Juden zu verkaufen. In der Praxis (wir sprachen früher schon davon) bedeutete das zumeist die Bestimmung der Tochter zur späteren Ehe mit dem Käufer oder dessen Sohn. – Und schließlich konnte man Sklave durch Geburt sein: Die Kinder eines jüdischen Sklaven und der Frau, die ihm sein Herr gab, blieben Eigentum des Herrn, auch wenn ihr Vater freigelassen wurde. Für diesen Fall sieht jedoch das Mosaische Gesetz vor, dass der Mann sich zu lebenslänglicher Sklaverei entschließen kann, um seine Familie nicht zu verlassen. Vergleicht man die biblische Sklaven-Gesetzgebung mit der anderer Völker im Vorderen Orient, so muss man feststellen: Sie ist menschlicher als andere Gesetzbücher. Auch wenn der jüdische Sklave als „Vermögensstück“ seines Besitzers galt, war er gesetzlich gegen Missbrauch und Misshandlung geschützt. Schlug z. B. ein Herr seinem Sklaven ein Auge oder einen Zahn aus, musste er den Sklaven freilassen (vgl. Ex 21,26). Starb ein Sklave infolge von Schlägen seines Herrn, so wurde dieser bestraft (Ex 21,20). (Bei den Samaritern traf den Herrn in diesem Fall sogar die Todesstrafe!) Andererseits entging der Herr einer Strafe, wenn der Sklave noch ein oder zwei Tage lebte, denn „der Sklave ist sein Geld“, d. h. der Herr fügt sich selber Schaden zu (Ex 21,21). – Besonders human erscheint uns die Vorschrift, dass ein israelitischer Sklave nach sechs Jahren ohne weiteres freizulassen ist (Ex 21,2). Ein Israelit konnte also nicht für dauernd Sklave werden. Er konnte sich jedoch freiwillig (siehe oben!) zu lebenslanger Sklaverei entschließen. In diesem Fall wurde sein Ohr mit einer Ahle durchbohrt (und vermutlich ein Stift hineingesteckt); gelegentlich wurde ihm auch der Name seines Herrn eintätowiert (vgl. Ex 21,5 f. und Jes 44,5). Manchmal hat man den Eindruck, dass Sklaven wie „Kinder des Hauses“ gehalten wurden. Aus Jerusalem ist uns folgende Redensart überliefert: „Ist deine Tochter erwachsen, so lass deinen Sklaven frei und verheirate sie mit ihm.“ – Tüchtige Sklaven konnten übrigens Eigentum erwerben (auch durch Fund und Schenkung) und konnten auf dieseWeise (nämlich durch „Abzahlung“) ihre Dienstzeit verkürzen. Eine Bestimmung sei noch erwähnt, die von Predigern gerne am Gründonnerstag zitiert wird: Jesus wäscht seinen Jüngern die Füße, und er leistet ihnen damit einen Dienst, der als sehr erniedrigend eingestuft war; denn wir wissen, dass ein jüdischer Sklave (im Gegensatz zu einem heidnischen!) nicht zu diesem Dienst verpflichtet werden konnte. In seltenen Fällen (wenn kein anderer Erbe vorhanden war) konnte ein Sklave sogar seinen Herrn beerben. (Man vgl. Gen 15,2: Abraham äußert die Vermutung, das ihn Elieser, sein Verwalter und Sklave, beerben werde.) So bitter und die Menschenwürde verletzend es ist, als Eigentum eines anderen zu gelten, so war im Judentum das Sklavendasein durch die allen gemeinsame religiöse Überzeugung gemildert, dass letztlich kein Mensch „absoluter Herr“ ist, sondern dass alle „Sklaven Gottes“ sind und zugleich „Ebenbilder des Schöpfers“. Heidnische Sklaven Zur Zeit Jesu gab es in Israel vermutlich keine Industrien, die heidnische Sklaven in großer Zahl beschäftigten, aber in den vornehmen Häusern von Jerusalem (zu denken ist hier an die Hofhaltung Herodes dem Großen sowie an den Priesteradel) treffen wir auf eine zahlreiche Dienerschaft aus dem Ausland. Diese Sklaven und Sklavinnen waren entweder gekauft oder im Haus geboren. Die Sklavenhändler, die ihre Ware auf den Jerusalemer Sklavenmarkt brachten, dürften zumeist aus Phönizien gekommen sein. Die meisten heidnischen Sklaven im Besitz der palästinensischen Judenschaft stammten wohl aus Arabien (wie der hohepriesterliche Sklave Malchus, dessen Name auf das nabatäische Arabien verweist, vgl. Joh 18,10). In Abhebung vom jüdischen war der heidnische Sklave totales Eigentum seines Herrn. Er konnte keinen Besitz erwerben, was er erwirtschaftete, was er fand, was man ihm schenkte, was ihm als Schadenersatz zufiel: „alles, was sein ist, gehört seinem Herrn“ (wie eine Regel besagte) – einschließlich der Kinder. Wie jedes andeAußenseiter Außenseiter

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