Im Land des Herrn | 77. Jahrgang | 2023 - 1

Fr anz i skan i sche Ze i t schr i f t für das He i l i ge Land 77 . Jahrgang 2023 / He f t 1

as Titelbild der ersten Ausgabe unserer Zeitschrift in diesem Jahr zeigt die Christusfigur aus der Verurteilungskapelle am Anfang des Kreuzwegs in Jerusalem. Man muss genauer sagen: die von einem jüdischen Extremisten geschändete Figur, denn am 2. Februar 2023 drang dieser Mann in die Kapelle ein, riss die Figur vom Altar und schlug mit einem Hammer auf das Gesicht des Heilands ein, bis er vom Pförtner des Klosters überwältigt werden konnte. Dieser abscheuliche Vorfall in Jerusalem ist kein Einzelfall: schon am 1. Januar wurde der anglikanisch-protestantische Friedhof auf dem Zion von zwei jungen Juden (mit Kippa und Tallit Katan bekleidet) schwer verwüstet. Der letzte Anschlag gerade auf diesen Friedhof ist gerade einmal zehn Jahre her. Ende Januar drangen jüdische Extremisten mit israelischen Fahnen und laut skandierend durch das „Neue Tor“ in die christliche Altstadt ein und wüteten in Geschäften und Restaurants, indem sie Tische und Stühle zerstörten und sowohl Einheimische als auch Touristen beschimpften und belästigten. In den folgenden Tagen kam es immer wieder zu Versuchen jüdischer extremer Gruppen, in die christliche Altstadt einzudringen – was dann von der Polizei verhindert werden konnte. Man kann das Ungeheuerliche fast nicht glauben: „Tod den Christen“ kann man in Hebräisch in der Heiligen Stadt Jerusalem lesen! Es geht bei diesen Akten nicht mehr nur um Respektlosigkeit: hier wird aktiv das Christentum angegriffen und es werden unsere HeiliSehr verehrte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Heiligen Landes! gen Stätten geschändet. Dazu kommt sehr beschämend, dass der israelische Staat dazu schweigt – und das diese ungeheuerlichen Akte von den deutschen Medien überhaupt nicht beachtet werden. Der erste Beitrag dieser Ausgabe befasst sich mit dem Ort des Geschehens; der Komplex der „Flagellatio“ am Anfang des Kreuzweges in Jerusalem. In den „Nachrichten“ werden dann auch die neuen Reliefs der Kreuzwegstationen erwähnt. Ich freue mich, dass ich sicher mit zwei Artikeln die zahlreichen österreichischen Leser erfreuen kann. Der letzte Artikel befasst sich mit der Taufkapelle in Nazaret, welche meist verschlossen, leider für den Pilger unbekannt bleibt. Es wird neu für die meisten Leser sein, dass deutsche Künstler und Wohltäter hier „amWerk waren“. Wenn uns auch der Anblick auf der vorderen Seite dieser Zeitschrift wütend und traurig zurücklässt: auf der Rückseite ist bewusst ein Bild der Kuppel der Flagellatio-Kapelle zu sehen: die Dornenkrone als Zeichen des Leidens Christi ist von leuchtenden Glassteinen durchsetzt, die den Betrachter fast blenden können: Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat – Christus Sieger, Christus König, Christus Herr in Ewigkeit. Ihnen ein gesegnetes Osterfest, im Namen der deutschsprachigen Kommissare des Heiligen Landes, D

1/2023 3 Inhalt Die Flagellatio Das Kloster der Geißelung an der Via Dolorosa Heinrich Fürst – Gregor Geiger Ein Stück Heiliges Land in Linz Petrus Schüler Donaustrand und Heiliges Land Ein Reiseprogramm Ingo Mörth Alltag zur Zeit Jesu Die Synagoge Sigfrid Grän Nachrichten aus dem Heiligen Land Petrus Schüler Die Taufkapelle in Nazaret Brigitte Spieker Buchempfehlung Titelbild: Die geschändete Christus-Figur der Verurteilungskapelle Rückseite: Kuppel der Flagellatio-Kapelle mit einer von Glassternen durchsetzten Dornenkrone Alle Fotos in der Zeitschrift (wenn nicht anders angegeben) © Petrus Schüler Seite 14 Seite 32 Seite 20 Seite 4 Seite 10 Seite 38 DAS NEUE TESTAMENT IN DER SPRACHE UNSERER ZEIT Seite 36

4 1/2023 Die Flagellatio Heinrich Fürst – Gregor Geiger Kirche der Flagellatio

1/2023 5 ls Anfang der Via Dolorosa wird herkömmlich die Geißelungskapelle (lat. Flagellatio) betrachtet, die in einem ummauerten Hof rechts der Straße liegt. Ihr Türmchen ist schon von der Straße aus gut zu erkennen. 1836, in einer Periode der Schwäche der osmanischen Zentralregierung, als Ibrahim Pascha, der Gouverneur von Ägypten, auch Palästina beherrschte, gelang es den Franziskanern, auf dem angenommenen Gebiet der Burg Antonia Fuß zu fassen. Mit dem Ertrag der ersten bayerischen Palmsonntagskollekte für das Heilige Land, den Herzog Maximilian 1838 persönlich überbrachte, wurde an der Stelle der verfallenen mittelalterlichen eine neue Geißelungskapelle erbaut. Eine Gedenktafel, welche der Katholische Arbeiterverein von Bayern anlässlich einer Pilgerfahrt im Jahr 1900 anbringen ließ, erinnert daran. Die Kapelle wurde 1927–29 vom Franziskanerarchitekten Antonio Barluzzi in mittelalterlichem Stil erneuert. Die drei Glasfenster stellen die Geißelung, das Händewaschen des Pilatus und den Triumph des Barabbas dar. In der Kuppel über dem Altarraum ist eine Dornenkrone dargestellt, die von Glasrosen durchsetzt ist, siehe Bild auf der Rückseite der Zeitschrift. Durch sie fällt gedämpftes Licht in die Kirche –selbst im Todesleiden hat der Gläubige Hoffnung auf Licht. 1903 wurde an der Westseite des Hofes die Verurteilungskapelle unter Leitung des deutschen Franziskanerbruders Wendelin Hinterkeuser errichtet. Sie steht auf den Grundmauern einer mi ttelal terl ichen orthodoxen Kirche. Die Altäre sind Produkte des späten Nazarenerstils. Das eigentlich Interessante an der Kirche ist der hintere Teil des Fußbodens mit seinen großflächigen rötlichen Steinplatten, die sich als Lithostrotos im Nachbargrundstück Ecce Homo fortsetzen. Der Hof oder eine der beiden Kapellen sind ein guter Platz, sich den Anfang der Passion Jesu vor dem Richterstuhl des Pilatus zu vergegenwärtigen, wie sie in der Leidensgeschichte aufgezeichnet ist: Als Jesus vor dem Statthalter stand, fragte ihn dieser: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Du sagst es. Als aber die Hohepriester und die Ältesten ihn anklagten, gab er keine Antwort. Da sagte Pilatus zu ihm: Hörst du nicht, was sie dir alles vorwerfen? Er aber antwortete ihm auf keine einzige Frage, sodass der Statthalter sehr verwundert war. Jeweils zum Fest pflegte der Statthalter einen Gefangenen freizulassen, den das Volk verlangte. Damals Flagellatio Flagellatio A Widmungsinschrift der Flagellatio-Kapelle (Wörtliche und zeilenmäßige Übersetzung finden Sie auf Seite 9)

IM LAND DES HERRN 6 1/2023 war gerade ein berüchtigter Mann namens Jesus Barabbas im Gefängnis. Pilatus fragte nun die Menge, die zusammengekommen war: Was wollt ihr? Wen soll ich freilassen, Jesus Barabbas oder Jesus, den man den Christus nennt? Er wusste nämlich, dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hatte. Während P i latus auf dem Richterstuhl saß, s a n d t e s e i n e F r a u zu ihm und l ieß ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten! I ch habe heute seinetwegen im Traum v i el gel i t ten . Inzwischen überredeten die Hohepriester und die Ältesten die Menge, die Freilassung des Barabbas zu fordern, Jesus aber hinrichten zu lassen. Der Statthalter fragte sie: Wen von beiden soll ich freilassen? Sie riefen: Barabbas! Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Christus nennt? Da antworteten sie alle: Ans Kreuz mit ihm! Er erwiderRötliche Steinplatten in der Verurteilungskapelle, das sichtbare Muster wurde lange als Spielplatte der römischen Soldaten bezeichnet Jesus vor Pilatus, der sich die Hände wäscht, Darstellung in der Verurteilungskapelle

1/2023 7 te: Was für ein Verbrechen hat er denn begangen? Sie aber schrien noch lauter: Ans Kreuz mit ihm! Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache! Da rief das ganze Volk: Sein Blut – über uns und unsere Kinder! Darauf ließ er Barabbas frei, Jesus aber ließ er geißeln und lieferte ihn aus zur Kreuzigung (Mt 27,11–26). An den langen Trakt des Klostergebäudes neben beiden Kapellen schließt sich das Studium Biblicum Franciscanum, das „Franziskanische Bibelstudium“, an. Eigentlich gehören akademische Institutionen nicht zu den Schwerpunkten des Franziskanerordens, wenigstens nicht (mehr) im deutschen Sprachraum. Dieses Studium wurde 1924 gegründet, zunächst um die von den Franziskanern betreuten heiligen Stätten wissenschaftlich zu untersuchen. Daraus hat sich eine angesehene Hochschule entwickelt, anfangs mit den Schwerpunkten Archäologie sowie biblischer und christlicher Geographie, später kamen die klassischen Fächer der Bibelwissenschaft, alt- und neutestamentliche Exegese und Theologie sowie die biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch, hinzu. Schon bald wurde das Studium an die römische Franziskanerhochschule Antonianum angegliedert. Diese wurde 2005 eine kirchliche Universität, das Jerusalemer Bibelstudium deren Fakultät für Biblische Wissenschaften und Archäologie. Dadurch können die Studenten – derzeit knapp 100 – akademische Abschlüsse machen (bis zum Doktorat), die auch in Europa anerkannt sind. Zur Fakultät gehören eine umfangreiche Fachbibliothek und ein archäologisches Museum im Parterre des Gebäudes. Es umfasst e ine mul t i -medi a l e Aus s te l lung über di e Geschichte der Stadt Jerusalem, ausgehend von den archäologischen Funden, die an Ort und Stelle gemacht wurden, und eine Einführung in den Kreuzweg. Diese Installation ist auch in deutscher Sprache verfügbar. Die umfangreiche archäologische Sammlung des Instituts mit Flagellatio Flagellatio Blick in die raffinierte Deckenstruktur der Verurteilungskapelle (Architekt Wendelin Hinterkeuser OFM)

8 1/2023 IM LAND DES HERRN Funden vor allem aus den franziskanischen Ausgrabungen ist gegenwärtig im Umbau. Ein erster Teil wurde 2018 wiedereröffnet. Sechs antike Räume wurden restauriert: eine byzantinische Zisterne, Kreuzfahrerräume sowie ein malerischer Hof aus mamelukischer Zeit. Die ausgestellten Fundstücke beleuchten politische Institutionen aus der herodianischen Zeit, das alltägliche Leben zur Zeit des Neuen Testaments und das Mönchtum in der Judäischen Wüste (mit einem georgischen Mosaik aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., eines der weltweit ältesten Zeugnisse in georgischer Sprache und Schrift). Ein weiterer Teil (derzeit geschlossen) erinnert an die wichtigsten Stationen des Lebens Jesu: seine Geburt in Betlehem, sein verborgenes Leben in Nazaret , sein öffentliches Wirken in Galiläa (Kafarnaum, Tabgha und Kana), seine Passion, sein Tod und seine Auferstehung in Jerusalem (von Getsemani bis zur Grabeskirche). Die Sammlungsstücke kommen zum großen Teil von Ausgrabungen, die von den Franziskanern in den letzten 150 Jahren durchgeführt wurden, darunter Fresken, Keramik, byzantinische Mosaike, Münzen, Statuen- und Architekturfragmente, bronzezeitliche Grabbeigaben, Särge und Ossuarien (teils beschrieben), Schmückstücke, Öl lampen, usw. Sie stammen aus verschiedenen Epochen, von der Kanaanäerzeit (2 . Jahrtausend v. Chr.) bis zur Kreuzfahrerzeit (11. /12. Jahrhundert n. Chr.). Genau gegenüber dem Eingang zum Grunds tück der Franz i skaner i s t der Endpunkt eines Tunnelganges aus herodianischer Zei t , dessen Eröf fnung im Herbst 1996 zu blutigen Unruhen geführt hat. Der Ausgang wird seither von israelischen Sicherheitskräften eigens bewacht, der Eingang ist bei der Klagemauer. Daneben führt eine Rampe zur arabischen Omarijeschule hinauf. Sie steht am Ort der Burg Antonia. In der Mamlukenzeit nach den Kreuzfahrern war hier eine Koranschule, danach Sitz des Gouverneurs von Jerusalem. In der Mitte der Südfront erlauben Fenster den Blick auf den Gebäude der Omarijeschule vom Tempelplatz aus gesehen; gut erkennbar im unteren Teil der gewachsene Fels, auf dem sich auch die Burg Antonia erhob

1/2023 9 Tempelplatz. In der Römerzeit gab es hier Treppen direkt hinunter auf den Tempelplatz, so dass die Soldaten die Möglichkeit hatten schnell einzugreifen, wenn Unruhen ausbrachen. So berichtet beispielsweise die Apostelgeschichte: Schon wollten sie ihn (Paulus) umbringen, da brachte man dem Obersten der Kohorte die Meldung hinauf: Ganz Jerusalem ist in Aufruhr! Da nahm er sogleich Soldaten und Hauptleuten hinzu und eilte zu ihnen hinunter (Apg 21,31–32). Rechts neben den Aussichtsfenstern befand sich mit der Dornenkrönungskapelle aus der Zeit der Kreuzfahrer eine dritte Kapelle auf dem vermuteten Gelände der Burg Antonia. Si e wurde be im Erdbeben von 1927 we i t- gehend zerstört; der erhaltene Chorraum dient heute als Lehrerzimmer der Schule und ist nicht öffentlich zugänglich. Wie die beiden genannten Geißelungs- und Verurtei lungs- kapellen ist auch diese Kapelle nicht als historische Festlegung zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um Devotionalkapellen, welche an einzelne Momente der Leidensgeschichte er- innern. Denkmal für Herzog Maximilian in Bayern (Vater der „Sisi“) vor dem Nationaltheater in München, Platz des ehemaligen Franziskanerklosters. Er verarbeitete seine Erlebnisse in „Wanderung nach dem Orient“, herausgegeben 1839 Flagellatio Flagellatio Wörtliche und zeilenmäßige Übersetzung des Textes der Widmungsinschrift (von Seite 5): Herzog Maximilian in Bayern Geboren am 4. Dezember 1808 Gestorben am 15. November 1888 der diese heilige Stadt Jerusalem vom 9. bis 15. Mai 1838 während der Pest besuchte der mit dankbarem Herzen zum gegeißelten Erlöser diese Kapelle zu restaurieren für die Kustodie des Heiligen Landes die Mittel bereitgestellt, in Erinnerung an die Tatsache der Katholische Arbeiterverein aus dem deutschen Volk in Jerusalem versammelt in Ehren darum errichtete im Jahre 1900

10 1/2023 Ein Stück Heiliges Land in Linz Petrus Schüler er Mariendom („Neuer Dom“) in Linz ist die größte Kirche Österreichs und nicht einmal 100 Jahre alt. Der Dom bewahrt einige Dinge, die in direktem Zusammenhang mit dem Heiligen Land stehen. Das beginnt schon mit der Grundsteinlegung des Domes, wurde doch ein Stein aus dem Heiligen Land dazu benutzt. Zunächs t seien hier die r ies igen Fens ter genannt, von denen zwei Fenster im Langhaus jeweils die „Jerusalem-Pilgerzüge“ in den Jahren 1900 und 1910 als Thema haben. Im nachfolgenden Artikel „Vom Donaustrand ins Heilige Land“ wird Prof. Ingo Mörth ausführlich von den beiden Volkswallfahrten, ihrer Entstehung, ihrem Ablauf und von einigen Besonderheiten berichten. Hier sei das erste Fenster etwas vorgestellt: wie gesagt , wir sehen im Mittelteil einen Pilgerzug vor der Kulisse des Jerusalemer Felsendomes: hinter dem Kreuzträger erscheint der Linzer Bischof Franz Maria Doppelbauer inmitten einer Dreiergruppe. Doppelbauer war Initiator dieser Wallfahrten, er besuchte schon im Jahre 1893 die heiligen Stätten. Es folgen Teilnehmer der Wallfahrt mit einer „Pilgermadonna“: es ist genau die Pilgermadonna, welche heute im Querschiff des Domes aufgestellt ist und von deren Verehrung die immer zahlreich brennenden Kerzen ein beredtes Zeugnis geben (siehe Bild Seite 15) Dass das Mitbringen einer Madonna kein singulärer Vorgang war, zeigt das Bild auf Seite 18: eine uns unbekannte, wohl deutsche Gruppe zieht mit einer Madonnenfigur in die Grabeskirche ein. Schon hier wird deutlich, wie detailgetreu in diesem Kirchenfenster die heiligen Orte dargestellt werden, wie aber auch Personen genau auszumachen sind. Gleich Ansichts - karten und wohl auch von solchen inspiriert erscheinen im unteren Teil des Fensters einige heilige Stätten: zuoberst die bekannte Ansicht der Grabeskirche, D Fenster Jerusalem-Pilgerzug I

1/2023 11 darunter die Ansicht der Hafenstadt Jaffa. Man könnte nun meinen, dass die Ansicht von Jaffa deshalb gewählt wurde, weil dieses Panorama für die ankommenden Pilger die erste Ansicht des Heiligen Landes war. Dem war aber nicht so: die Schiffe legten im nördlicheren Haifa an, ein Grund liegt in den schwierigen Bedingungen, die das Meer vor Jaffa kennzeichnet: es ist dort sehr windig und die sogenannten „Andromedafelsen“ erschweren den Landgang ganz erheblich. Oft mussten lebensgefährliche Manöver vollzogen werden, um an Land zu kommen. Einen Landgang per Boot sehen wir dann im nächsten Fenster. Aber Jaffa ist auch d a s b i b l i s che Jopp e , mehrmals in der Apostelgeschichte genannt. Kommen wir nun zum kleinen Ausschni t t im Fenster unten rechts: wir sehen eine relativ unbekannte Ansicht von Betanien, heute im arabischen „Al-Eizariya“ genannt. Wenn man genau hinhör t , kann man den Namen „Lazarus“ hier noch heraushören, eine Verballhornung des Namens „Lazarion“, Ort des Lazarus, von dem schon die Pilgerin Aetheria berichtet. Betanien ist uns natürl ich auch gut bekannt durch Martha und Maria. Eigentlich liegt dieser Ort Betanien ganz nahe an Jerusalem fast noch auf der Höhe des Ölberges – aber durch die von Israel brachial gezogene Mauer ist der noch vor weni gen Jahren noch relativ wohlhabende Ort verarmt: man muss als Besucher zuerst die Autobahn in Richtung Jericho nehmen um dann abzubiegen und mehr als vier Kilometer durch eine recht unsaubere Gegend fahren, um dann endlich wie im Fensterausschnitt weiter unten erkennbar in einer Biegung rechts der Hauptstraße das heutige Heiligtum zu erblicken. Die heutige Kirche ist noch nicht zu erkennen, sie wurde erst mehr als ein halbes Jahrhundert später von Barluzzi errichtet. Aber Mariendom Linz Mariendom Linz Ansicht Jaffa Andromeda-Felsen vor Jaffa

12 1/2023 gut sichtbar sind die Reste einer Benediktinerabtei, deren Turmreste im Fensterausschnitt oben) auch heute noch im Gelände aufragen. Es ist eine (bedauernswerte) Ironie der Geschichte, dass wegen der Mauer heute vor allem deutschsprachige Pilgergruppen wegen der etwas umständl ichen und zeitraubenden Anfahrt diesen biblischen Ort „links liegen lassen“; in früheren Zeiten war das keineswegs so. In den beiden Bildern links sehen wir zwei sehr ähnliche Darstellungen des Ortes, einmal natürlich die Darstellung vom Fenster des Linzer Domes und rechts daneben sehen wir das fast gleiche Panorama des Ortes auf einem Bild des Leipziger Fotografen Bruno Hentschel um 1900. Hingewiesen sei auch noch auf das Foto im nächsten Artikel, der uns eine berittene Pilgergruppe auf dem Weg nach Betanien zeigt. Kommen wir nun zum nächsten großen Fenster: im Mittelteil ist der Landgang von Pilgern in Haifa dargestellt, im Hintergrund erhebt sich das Karmelgebirge. Die Köpfe der Pilger wirken wie Portraits und tatsächlich sind sie das auch teilweise: rechts sieht man einen Ruderer in orientalischer Tracht – dabei handelt es sich um einen Schifffahrtsunternehmer aus Gmunden! Wir sehen darunter wieder ein Motiv, welches uns nicht bekannt scheint : der Komplex der Verkündigungskirche in Nazaret . Auch hier wurde die uns heute bekannte Kirche ja viel später (Architekt 1960–1969 Giovanni Muzio) errichtet. In der unteren Reihe begegnet uns im linken Feld das Österreichische Hospiz im Herzen der Altstadt von Jerusalem. Auf dieser Darstellung fehlt noch das obere Stockwerk, das mindert aber nicht den harmonischen Eindruck. Sehr schön ist es, dass die nächste Darstellung den See Genessaret gleich IM LAND DES HERRN Oben Ansicht Betanien im Linzer Dom, unten Ansicht Betanien auf einem Foto von Bruno Hentschel, Foto- ausstellung 2017 in der Augusta-Victoria-Kirche Jerusalem

1/2023 13 in einem Doppelfeld würdigt; liegt doch hier das „evangelische Dreieck“ – ein so großer zeitlicher wie inhaltlicher Rahmen für das öffentliche Wirken Jesu. Rechts dann wieder eine bekannte Ansicht: die Dormitio-Abtei auf dem Zion. Die Weihe dieser Kirche fällt zwar auch in das Jahr 1910, aber die Fenster des Langhauses wurden erst später, von 1913–1920 von der „Tiroler Glasmalerei“ geschaffen. In diesen riesigen Glasgemälden hat sich die Erinnerung an die diözesanen Pilgerfahrten erhalten; man kann sich gut vorstellen, dass es für beteiligte Pilger sehr interessant war, ihre Wallfahrt noch einmal (wie später in einem Fotoalbum) Revue passieren zu lassen. Dazu tragen die dargestellten Personen bei – aber auch die Darstellungen der heiligen Orte, die für den Betrachter in erkennbarer Höhe angebracht sind. Zum Schluss soll noch die Krippe des Domes Erwähnung finden, die in der Unterkirche aufgestellt ist. Hier handelt es sich um ein ganz außergewöhnliches Stück: 59 Holzfiguren in extremer Realität werden in verschiedenen Szenen aufgestellt , alles wird bekrönt von einer Gloriole, für die allein schon 50 Engel geschnitzt wurden. Künstler dieser außergewöhnlichen Krippe ist der Münchner Bi ldhauer Sebas - tian Osterrieder, der dafür knapp vier Jahre arbeitete. Er wählte den Typ der „orientalischen Krippe“ – denn auch er besuchte im Jahre 1910 das Heilige Land und kam inspiriert von Landschaft und Gegebenheiten zurück. In den letzten Jahren wurde diese Krippenlandschaft nicht nur restauriert , in einem sehr anspruchsvollen Projekt wurde jede Figur mehr als 100mal fotografiert. Nicht genug: Die Ergebnisse können in virtueller Form auch im Internet bewundert werden, es lohnt ein Blick auf die Website: www.krippendom. at. Man kommt den Figuren so nah wie man es beim reinen Betrachten nicht erfahren könnte. Empfohlene Literatur Margarethe Böhm: Die Glasfenster im MariaEmpfängnis-Dom zu Linz, Kunstverlag Peda – Passau Mariendom Linz, THE BEST KUNSTVERLAG, Wels Jerusalem-Pilgerzug II (Landung in Haifa) Mariendom Linz Mariendom Linz

14 1/2023 „Reiseverlauf: 17. April: Um 13 Uhr Abfahrt vom Hauptbahnhof Linz; die Waggons tragen Nummerntafeln, von denen jeder Teilnehmer ablesen kann, welches Coup‚ er zu besteigen hat. Zum Sonderzug kann nur in den im Fahrplan genannten weiteren Stationen zugestiegen werden. Nächtigung im Zug. 18. April : Frühstück in der Station Divacca. Ankunft in Triest um 10.35 Uhr. Einschiffung am Molo San Carlo, wo das Schiff „Tirol“ die Teilnehmer bereits erwartet. Die Abfahrt erfolgt gegen Mittag. 19.–22. April: Kreuzfahrt auf See. Fahrt entlang der dalmatinischen Küste, der ionischen Inseln (mit Anlegen in Korfu), rund um den Peloponnes, nach Kreta (Anlegen in Chania) und weiter bis Haifa. 23. April: Früh Ankunft in Haifa, Besichtigung der Stadt; gegen Mittag Bahnfahrt nach Jerusalem; Dank-Gottesdienst im hl. Grabesdom. Anschließend Einquartierung in die drei Hospize; nämlich 1. Gruppe in das österreichische Hospiz; 2. Gruppe in das Hospiz der Franziskaner in der Nähe der Antonius-Burg; 3., 4. und 5. Gruppe bei den Assumptionisten. 24. April : Vormittag Sonntagsgottesdienst in der Patriarchatskirche. Nachmittag Besuch der Omarmoschee, Jeremiasgrotte, Dominikanerkirche und der Königsgräber. 25. April : Vormittag Fahrt nach Bethlehem. Besichtigung inkl. Geburtskirche. Nachmittag zur freien Verfügung. Fakultativangebot: Ausflug nach Jericho. 26. April: Vormittag Begehung und Erklärung des Kreuzweges von der Burg Antonia bis zum hl. Grab. Nachmittag Besichtigung von Ecce-homoKirche, Geißelungskapelle, St. Annakirche, Teich Bethesda. 27. April: Vormittag Besichtigung von Mariengrabkirche, Todesangstgrotte, Bethsemani-Garten, Heiligtümer des Ölberges. Nachmittag Besichtigung des Jaffatores, der Zitadelle, Jakobuskirche, Haus des Annas und Kaiphas, Dormition, Zönakulum, Haremsmauer und Stefanstor. 28. Apri l : Vormi ttag Fahrt nach Ain Karim (St. Johann im Gebirge); Besichtigung. Nachmittag Andacht im Kloster der Sühneschwestern. 29. April: Vormittag Wanderung um die Altstadt vom Stefanstor zum Jaffatore durchs Josaphat- und Hinnomtal. Nachmittag Besichtigung der Grabeskirche und ihrer Umgebung. 30. April: Vormittag Hochamt im Grabesdom. Nachmittag zur freien Verfügung. Fakultativangebot: Ausflug ans Tote Meer. 1. Mai: Vormittag gemeinsame Prozession zur Kirche St. Anna. Dort Feier des Hochamtes mit Generalkommunion. Nachmittag zur freien Verfügung. 2. Mai. Abfahrt von Jerusalem, Einschiffung in Haifa, gegen Mittag Abfahrt. 3.–6. Mai: Auf See. 7. Mai: Gegen Mittag Ankunft in Triest, Besichtigung der Stadt; Abfahrt nach Linz mit dem Sonderzug vom Bahnhofe St. Andrä um 16.50 Uhr. 8. Mai: Ankunft in Linz um 8.30 Uhr. Gruppenweiser Einzug unter Absingung des Pilgerliedes, mit klingendem Spiel in den Mariä-EmpfängnisDom, Te Deum, Rückstellung der Pilger-Muttergottesstatue auf den Altar unter Absingung eines Marienliedes; Schlußgebet. Auflösung des Pilgerzuges. Donaustrand und Heiliges Land Ein Reiseprogramm 1904 Ingo Mörth

1/2023 15 Leistungen: Alle Fahrten und Transfers Linz–Jerusalem– Linz. Volle Verpflegung, beginnend mit dem Mittagsmahl an Bord des Schiffes und endend mit dem Frühstück ebendort. Fahrten nach Bethlehem und St.Johann. Reiseleitung. Kosten: Mit Kabine I. Klasse 390 Kronen, Kabine II. Klasse 270 Kronen. Empfehlungen und Hinweise: Tägl ich wird früh in den Hospizen eine Pilgermesse gelesen. Wir empfehlen, sich zu schonen, die freien Stunden und Nachmittage zur Erholung zu benützen, dann am Abende zeitlich zu Bette zu gehen. Wir empfehlen, in wie außer der heiligen Stadt nie allein, sondern immer nur in Gruppen zu 5 bis 10 zu gehen und den Besuch von Wirts- und Kaffeehäusern zu meiden. Kräftige Pilger und Pilgerinnen können an freien Nachmittagen in Gruppen Bethanien besuchen. Devot ional ien s ind be sonders in den ers ten Tagen hoch im Preise, daher Vorsicht beim Kaufe. Das Rauchen am Schiffe ist nur an den erlaubten Orten (auf Verdeck und im Rauchsalon) gestattet . Wir bitten diese Maßregel aufs Genaueste zu beobachten. Zur Weihe der Devotionalien (Andachtsgegens t ände ) genüg t e s , wenn das ganze verschlossene Paket , nicht aber der einzelne Gegenstand auf die betreffende hei l ige Stätte gelegt wird.“ EinVorläufer des Massentourismus Jetzt wird es endgültig klar: es handelt sich bei der hier beschriebenen Reise nicht um eine Leser-Reise der Oberösterreichischen Nachrichten im Jahre 2023. Vielmehr reisten nach diesem Pilgermadonna im Dom Linz Pilgerreise Pilgerreise

IM LAND DES HERRN 16 1/2023 Reiseprogramm 469 Teilnehmer – 290 Männer und 179 Frauen – des II. oberösterreichischen Pilgerzuges im Jahre 1904 ins Heilige Land. Nach einer ersten Blüte von Mitte des 16. bis Ende des 17. Jahrhunderts, die durch die großen kriegerischen Wirren in Europa, die Kämpfe mit den Türken und letztlich die napoleonischen Kriege unterbrochen wurde, wurden Pilgerfahrten nach Palästina seit Mitte des 19. Jahrhunderts im ganzen deutschen Sprachraum wieder als organisierte Gruppenreisen, zunächst eher für den Klerus und wohlhabende Bürger, durchgeführt. Für Linz bedeutungsvoll war bereits eine der ersten derartigen Fahrten, die 2.österreichische Pilgerfahrt im Jahre 1856. Deren Leiter, Kanonikus Strigl, brachte „weiß wie eine Lilie und gebrochen am Fuß des Ölberges, nahe dem Grab Mariens“ den Grundstein des Mariä-Empfängnis-Domes – Neuer Dom – aus Palästina mit. Im Gründungsfenster der Votivkapelle des Domes ist sein Portait noch heute zu sehen. Mit der Einführung moderner Verkehrsmittel wie Bahn und Dampfschiff wurde es möglich, große Pilgerzüge zu organisieren und einen heute fast schon wieder in Vergessenheit geratenen Vorläufer des Massentourismus zu etablieren: die Massen-Volkswallfahrt. 500 Tiroler Pilger machten 1898 den Anfang in Österreich, und am 24. April 1900 brachen 519 katholische Männer unter der Führung des damaligen Diözesanbischofs, Franz Maria Doppelbauer, als I. oberösterreichischer Pilgerzug nach Jerusalem auf. „Eine mächtige Bewegung ergri f f al le Schichten des Volkes, wie zur Kreuzfahrerzeit erweckte der Ruf ,Gott will es!‘ ein Echo in tausenden Herzen.“ Dies notierte der Chronist des Pilgerzuges, Friedrich Pesendorfer. Als Massenfahrt wurden Pilgerreisen erschwinglich. Bauern und kleine Gewerbetreibende, Bürger und Beamte aus ganz Oberösterreich kamen zusammen, um die Reise anzutreten, nur mehr 62 sog. geistliche Personen standen 307 Laien gegenüber, davon 22 aus der Stadt Linz, wie zum Beispiel: Leopold Bauer, k. k. Kassadiener; Therese Fürlinger, Hausbesitzerstochter; Johann Hamberger, Bauer in Ebelsberg; Johann Herzog, Schriftsetzer; Lechfellner Anna, Trafikantin; Franz Reder, landschaftlicher Ratstürhüter; JakobWürzl, Schneider. Die Emanzipation der Pilgerinnen Der II. oberösterreichische Pilgerzug war für das Land ob der Enns jedoch aus einem anderen Grunde etwas Besonderes: erstmals war es Frauen gestattet, an einer Volkswallfahrt teilzunehmen. Dies bedurfte Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Frauenbewegung gerade erst in den Großstädten Fuß zu fassen begann, in Oberösterreich und der katholischen Kleinstadt Linz noch einer Pilger an Bord eines Schiffes zum Heiligen Land © Dia-Archiv Kommissariat München

1/2023 17 ausführlichen Begründung, die hier im vollen Wortlaut wiedergegeben sei: „Warum beim zweiten oberösterreichischen Pilgerzug ins heilige Land auch Frauen mitgenommen werden? Im Jahre 1900 fand der erste oberösterreichische Pilgerzug ins heilige Land statt, eine großartige, herrliche Kundgebung des Glaubens, die noch in aller Erinnerung ist und welche allen Teilnehmern der Pilgerfahrt gewiß zeitlebens unvergeßlich bleiben wird. 500 stramme katholische Männer beteiligten sich an jener ersten Pilgerfahrt. Schon dazumal wurden vielfach Stimmen laut: Ja, warum dürfen denn nur Männer nach Jerusalem pilgern, sollen denn die Frauen ganz und gar von den Gnaden und Früchten einer solchenWallfahrt ausgeschlossen sein? Seitdem sind drei Jahre verflossen und heuer im Herbste wird der zweite oberösterreichische Pilgerzug ins heilige Land abgehen. Diesmal sollen auch die Frauen nicht ausgeschlossen sein und der Pilgerzug ist nach dem Muster der gemischten Tiroler Pilgerzüge ins heilige Land veranstaltet. Es ist von Interesse, zu hören, was der Leiter und Arrangeur der Volkswallfahrten nach Palästina, Oberst von Himmel, über das Mitnehmen von Frauen nach Jerusalem schreibt: ,Ich kann nur bestätigen, daß wir von der Wallfahrt der Frauen die besten Eindrücke empfangen haben. Es spricht vieles für die Wallfahrt der Frauen, nur weniges dagegen. Dagegen: daß ein ,gemischter‘ Zug komplizierter ist als ein einfacher Männerzug. Dafür aber sprechen: daß die Frauen mindestens so fromm wie die Männer sind; daß sie im Hause das wirtschaftlich sparende Element sind, das schon darum Rücksicht verdient; daß die Frauen mindestens so viel aushalten als die Männer, weil sie im allgemeinen auch diäter leben und weniger trinken; daß die Frauen mindestens so gefügig sind wie die Männer; endlich, daß es für die religiöse Erziehung und HalPilgerreise Pilgerreise Pilgerritt nach Betanien, man beachte die zahlreichen Frauen © Dia-Archiv Kommissariat München

IM LAND DES HERRN 18 1/2023 tung einer Familie beinahe wichtiger ist, wenn die Mutter, als wenn der Vater im heiligen Lande war. Eine dauernde Ausschließung der Frauen von der Wallfahrt könnte in deren Kreisen auch eine stille Opposition gegen die Wallfahrten hervorrufen, was bei der wirtschaftlichen Bedeutung der Frauen im Haushalte nicht ganz unbedenklich wäre. Aus allen diesen Gründen bin ich für die Zulassung der Frauen.‘ Nachdem jetzt der Pilgerzug vorüber ist, können wir den beteiligten Frauen auch das ehrende Zeugnis mit bestem Gewissen ausstellen, daß sie das in sie gestellte Vertrauen voll und ganz gerechtfertigt haben.“ (Pesendorfer, S. 12–14) EinVolksfest zur Verabschiedung der Pilger Werter Leser, geschätzte Leserin: begeben Sie sich im Geiste oder tatsächlich auf den Vorplatz des neuen Domes in Linz, unternehmen Sie mit mir eine Zeitreise mehr als 100 Jahre zurück und versuchen Sie, sich den im folgenden geschilderten Aufbruch der Pilgerschar vorzustellen: „Und der Himmel war den Pilgern gnädig. Der frühe Aprilmorgen verwandelte sich dank der herzerfreuenden Sonnenwärme in den Mittagsstunden schon in einen wunderschönen Frühlingstag, so recht zur Ausfahrt geeignet. Statt des Blumenstraußes am Hute trugen wir Pilger die weiße Armbinde mit dem fünffachen, roten Jerusalem-Kreuze; und auf des Dampfes Flügeln sollten wir den ganzen herrlichen Garten – ,Österreich‘ genannt – vom Heimatsland bis zum Meeresstrand blitzschnell durchstreifen. ... Ein prächtiges Bild bot das bewegte Leben und Treiben in den Straßen der Stadt Linz in den Morgenstunden des 17. April. Aus allen Vierteln unseres gesegneten Oberösterreich waren aus Stadt und Land die Pilger und Scharen des Volkes gekommen, der grüne Jägerhut, wie ihn die Salzkammergütler tragen und das schwarzseidene Kopftuch, die schmucke Nationaltracht unserer Einzug von Pilgern in die Grabeskirche Jerusalem © Dia-Archiv Kommissariat München

1/2023 19 Frauen am Lande, war auch bei der Pilgerfahrt vertreten. Vor 9 Uhr strömte alles dem im Flaggenschmucke prangenden neuen Dome zu. Hier zelebrierte am Hochaltar vor der nach Tausenden zählenden Schar der Andächtigen der hochwürdige Obmann des vorbereitenden Komitees des Pilgerzuges, P. T. Prälat Pinzger, die Pilgermesse. Die fünf Pilgergruppen hatten sich rings um den Hochaltar um ihre Gruppenbanner geschart. Diese prächtigen Banner, von Bildhauer Linzinger gefertigt, bestanden aus dem fünffachen Jerusalem-Kreuze in Rot und Gold, auf einer Stange getragen; auf jedem Kreuze war die Zahl der Gruppe deutlich ersichtlich. Unsere stramme Pilgermusik, als deren Kapellmeister Herr Reder, landschaftlicher Ratstürhüter in Linz, fungierte, trat hier zum ersten Male in Tätigkeit und spielte das weihevolle ,Hier liegt vor deiner Majestät.‘ Nach der heiligen Messe wurden, soweit dies nicht schon am Vorabend geschehen war, die Pilgerbinden verteilt. Sodann zerstreuten sich die Pilger, viele blieben noch im Dome, um die Schönheiten dieses großartigen Bauwerkes zu bewundern und bei der Pilgermadonna zu beten. Um 1/2 12 Uhr war die eigentliche Abschiedsfeier im neuen Dome. ... Es war eine herzergreifende Stunde. Majestätisch ertönten die Glocken vom Domturme herab, und mächtig verkündeten die eherenen Zungen ins weite Land, die Kreuzfahrer sind gerüstet: Auf, ins heilige Land! ... An der Spitze des Zuges ging die erste Gruppe, zuerst die Pilgerpriester, dann die Männer und zum Schluß die Frauen. So bei jeder Gruppe. Dann folgte die Pilgermusik und die Pilgerfahne. Alles entblößt jetzt ehrfurchtsvoll das Haupt; von den Schultern kräftiger Männer getragen, schwebt im himmelblauen Mantel, die goldene Krone auf dem Haupte, die Pilgermadonna durch die Straßen; lächelnd blickt ihr Gotteskind hinab auf die ungezählten Tausende, die wie bei der Fronleichnamsprozession zu beiden Seiten Spalier bilden. ... Die Prozession nahm, wie beim ersten Pilgerzug, durch die Herrenstraße und Volksgartenstraße den Weg zum Bahnhofe. Die Scharen beteten den schmerzhaften Rosenkranz, von Zeit zu Zeit ertönten die Klänge der Musik und die feierlichen Chöre des Pilgerliedes. Wie beim ersten Pilgerzug konnte man das spalier-bildende Publikum in den Straßen, ungerechnet die ungezählten Zuschauer in den Fenstern, ja sogar auf den Dächern der Häuser, auf 20.000 berechnen. Da gab’s rührende Szenen, Abschiedsgrüße, Händedrücken, manches Tränlein perlte den Scheidenden und Zurückbleibenden über dieWangen.“ (Pesendorfer, S. 34–42) Auch die Rückkehr der Pilger war für Linz ein festliches Ereignis. Mit Palmwedeln begab sich die Pilgerprozession vom Bahnhof zum neuen Dome, um abschließend dort den Schlussgottesdienst zu feiern. Uns profanen Ferienmenschen von heute mag der Zeitgeist von damals seltsam erscheinen. Doch genau in den seit Jahrhunderten immer wieder unternommenen Pilgerreisen und noch mehr in den organisierten Volkswallfahrten der Jahrhundertwende liegen wichtige Wurzeln der modernen Reisewelle und des organisierten Tourismus: mit einem ernsten Motiv im Kern – sei es, wie im hier geschilderten Falle, religiöse Erbauung, sei es, wie zum Beispiel bei den ersten Gruppenreisen deutscher und englischer Veranstalter nach Ägypten, kulturelle Bildung oder wissenschaftliche Orientierung – waren erstmals auch Angehörige mittlerer und unterer Schichten in größerer Zahl in der Lage, ohne großen Aufwand an Zeit, Geld und Selbstorganisation die Faszination mediterraner Landschaft, einer fremden Kultur und eines anderen Ambiente zu erleben. Diese Faszination spricht auch zwischen allen Zeilen der Schilderung von Reiseerfahrungen unserer oberösterreichischen Pilger vom Donaustrand ins heilige Land im zitierten Buch des Chronisten. Zitierte Quelle Friedrich Pesendorfer: Vom Donaustrand ins heilige Land. Gedenkbuch des II. Oberösterr. Pilgerzuges nach Jerusalem vom 17.April bis 8. Mai 1904, Linz 1905: Verlag des Kathol. Preßvereins Pilgerreise Pilgerreise

20 1/2023 n der Nähe des „Petrus-Hauses“ befindet sich die allen Heilig-Land-Pilgern wohlvertraute „Synagoge von Kafarnaum“ . Sie ist auf einer künstlich angelegten Plattform erbaut , die über die Umgebung herausragt und damit eine alte jüdische Vorschrift erfüllt, die besagt , dass die Synagoge „am höchsten Punkt einer Siedlung“ errichtet werden soll. Aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert ist der Ausspruch eines jüdischen Gelehrten überliefert , der mit drohendem Unterton einschärft: „Jede Stadt, deren Hausdächer höher sind als die Synagoge, wird in Zerstörung enden.“ Alltag zur Zeit Jesu Die Synagoge Sigfried Grän Synagoge Kafarnaum, das über den Wohnanlagen leicht ansteigende Bodenniveau ist zu erkennen © Igor Hollmann I

1/2023 21 Griechisch-römische Bauelemente Die Synagoge von Kafarnaum, wie sie sich heute dem Besucher darbietet, stammt leider nicht mehr aus der Zeit Jesu, sondern ist um das Jahr 400 n. Chr. entstanden. Sie ist eine Schöpfung von Baumeistern, die bei Römern und Griechen in die Schule gegangen sind und deren Formensprache übernommen haben. Der Ausgrabungsplatz, auf dem die Fragmente des Gebäudes aufgestellt sind, bietet Gelegenheit, die Ornamente und Symbole zu studieren, mit denen dieser prachtvolle Bau ausgestattet war. Unter ihnen taucht zweimal der Toraschrein auf, d. h. der Aufbewahrungsort für die bibl ischen Bücher und Schriftrollen. Die anderen Plastiken und Reliefs zeigen Darstellungen, die sich als Sinnbi lder des Lebens und der Fruchtbarkeit verstehen lassen: Die Palme mit Dattelbüschen erinnert an die uralte Vorstellung vom Lebensbaum; Weintrauben, Rankenwerk und Weinkrug s ymb o l i s i e r e n G e s und - heit, Rausch und Zeugungskraft. Mit anderen Worten: Di e Sy na goge , in der das Wort Gottes aufbewahrt und gelehrt wird, ist ein Ort , an dem Freude, Kreativität, zeitliches und ewiges Leben vermittelt werden. Vor dem Hintergrund dies e r S ymb o l i k gew i nn e n einige Jesusworte, die nach dem Johannesevangel ium in der Synagoge von Kafarnaum gesprochen wurden, einen neuen Klang: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt , wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben“ (Joh 6,35). Denken können wir in diesem Zusammenhang auch an die Bildworte: „Ich bin der wahreWeinstock“ (Joh 15,1) und „Ich bin das Licht derWelt“ (Joh 8,12). Der Evangelist Johannes – so kann man mit einem modernen Autor sagen – „konzentriert alle Leben verheißenden Symbole auf die Person Jesu. Er lässt Tempel und Synagoge in Jesu eigene Heilskraft zusammenfließen“ (W. Bühlmann). Darstellung einer Palme an der Synagoge Alltag zur Zeit Jesu Alltag zur Zeit Jesu

IM LAND DES HERRN 22 1/2023 Die Synagoge von Kafarnaum, von der es interessante Rekonstruktionsversuche gibt, die in neuester Zeit allerdings in Frage gestellt wurden (man nahm z. B. lange an, der Bau sei zweistöckig gewesen und habe eine „Frauen-Empore“ besessen; dafür scheinen die Fundamente aber zu schwach zu sein!), soll uns Anlass sein, einen kurzen Blick auf die „Geschichte der Synagoge im Judentum“ zu werfen. Anschließend wollen wir uns – im Sinn unseres Generalthemas „Alltag zur Zeit Jesu“ – mit der Frage beschäftigen: Welche Rolle hat die Synagoge im Leben undWirken Jesu gespielt? Entstehung in der Diaspora Das Judentum kennt im Grunde nur ein einziges religiöses Zentrum, nämlich den Tempel in Jerusalem. Wenn man in dessen Nähe wohnt, hat man keine Probleme, die „Wohnung Gottes unter den Menschen“ zu besuchen, dort zu beten und am Opferkult teilzunehmen. Wie aber soll man seinen Glauben pflegen und sich religiös betätigen, wenn man in der „Zerstreuung (Diaspora)“ lebt, Hunderte oder Tausende Kilometer von der Heiligen Stadt entfernt? Diese Frage wurde besonders aktuell, als eine große Zahl von Israel iten in die sog. Babylonische Gefangenschaft (587–538 n. Chr.) verschleppt wurde. Hier in der Fremde, umgeben von lauter Andersgläubigen, fühlen die frommen Juden das Bedürfnis nach einer Stätte, an der man sich zum gemeinsamen Gebet und zum Studium des Mosaischen Gesetzes versammeln konnte. Ein solcher erster Versammlungsort könnte das Haus des Propheten Ezechiel gewesen sein (vgl. Ez 8,1: „Es geschah im sechsten Jahr, am fünften Tag des sechsten Monats. Ich saß in meinem Haus, und die Ältesten Judas saßen vor mir“). Was als Notbehelf begann, entwickelte sich zu einer festen Einrichtung. Als im Jahre 515 v. Chr. der Jerusalemer Tempel wieder aufgebaut wurde und im Zusammenhang damit allenthalben eine neue Begeisterung für Kult und Gesetz erwachte, gewann die Synagoge als Ort der Gesetzespflege erhöhte Bedeutung. Ohne dass wir die Entwicklung in ihren Einzelstadien verfolgen können, stoßen wir in den Tagen Jesu (und im ersten nachchristlichen Jahrhundert) auf den Tatbestand, dass es in jeder größeren jüdischen Siedlung eine Synagoge gibt. Des- Prophet Ezechiel, Piazza Spagna Rom von C. Chelli

1/2023 23 halb kann z. B. der hl. Paulus in Kleinasien und Griechenland (in den Jahren 50 bis 60 n. Chr.) seine Missionsarbeit jeweils in einer Synagoge beginnen (vgl. Apg 17,2: „ Dort (in Thessalonich) hatten die Juden eine Synagoge. Nach seiner Gewohnheit ging Paulus zu ihnen und sprach an drei Sabbaten zu ihnen, wobei er von den Schriften ausging“). Im Grund ahmt Paulus damit seinen Meister nach, von dem wir in den Evangelien immer wieder lesen: „Er lehrte bzw. er verkündigte in der Synagoge“ (16mal erwähnen die Evangelisten die Synagoge als Wirkungsort Jesu, davon 13mal mit der eben zitierten Formel). Die Synagoge zur Zeit Jesu Wie sah die durchschnittliche Synagoge zur Zeit Jesu aus? – Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da wir aus dieser Epoche nur wenige literarische und archäologische Zeugnisse zu unseremThema haben. Aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. sind lediglich fünf Synagogenruinen ausgegraben worden. Wenn man die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit dem Material aus späterer Zeit kombiniert (und das ist insofern gerechtfertigt, als man im Judentum sehr auf Tradition hielt und bewährte Einrichtungen nicht leicht geändert hat), kann man – mit aller gebotenen Vorsicht – folgendes Idealschema für eine „Synagoge zur Zeit Jesu“ annehmen: Die Größe des Raums ist sehr variabel, da es dafür keine verbindlichen Vorschriften gibt. Die ältesten Synagogen sind ja aus Privathäusern entstanden. Ist ein Synagogenraum überdurchschnittlich groß (wie etwa die „Ur- synagoge“ von Kafarnaum, deren Grundmauern sich unter der heute sichtbaren Synagoge aus dem 4./5. Jahrhundert befinden), dann pflegt man sie durch Säulen in ein Hauptschiff und Nebenschiffe zu unterteilen. Viele Synagogen haben einen Nebenraum, den man „Geniza“ nennt und in dem man die heiligen Schriften aufbewahrt (die in Gebrauch befindlichen und die unbrauchbar gewordenen) und in dem der transportable Toraschrein steht. (Dieser Nebenraum lässt entfernt an die Sakristei einer christlichen Kirche denken.) Sakraler Mittelpunkt einer Synagoge (in etwa unserem „Hochaltar“ vergleichbar) ist der ursprünglich tragbare Schrein der Torarollen. Er wird an der Hauptwand der Synagoge aufgestellt, die in der Nachbau einer Synagoge wie zur Zeit Jesu im „Nazareth Village“ Alltag zur Zeit Jesu Alltag zur Zeit Jesu

IM LAND DES HERRN 24 1/2023 Regel nach Jerusalem hin ausgerichtet ist (so wie meisten christlichen Kirchen nach Osten „orientiert“ sind, d. h. in Richtung auf den Sonnenaufgang, der ein Symbol des auferstandenen Christus ist). In der Mitte des Raumes befindet sich eine hölzerne Plattform, auf der ein Lesepult steht, von dem aus die Verlesung der heiligen Texte erfolgt. An den Seitenwänden und an der Stirnwand (die dem Toraschrein gegenüber liegt) befinden sich treppenartig ansteigende Steinbänke als Sitzgelegenheit für die Männer der Gemeinde. – In einer weiter entwickelten Bauform erhebt sich über diesen Bänken eine Empore, die ausschließlich für die Frauen vorgesehen ist. (Bis dahin durften die Frauen nur in einem Nebenraum bzw. in einer durch Vorhänge abgeschlossenen Ecke am Synagogengottesdienst teilnehmen.) Vor dem Toraschrein stehen in einem Halbkreis „Ehrensitze“ für prominente Persönlichkeiten wie Älteste, Schriftgelehrte und Pharisäer. In bedeutenden Städten (wie etwa Alexandrien) sollen 71 vergoldete Ehrensessel aufgestellt gewesen sein; es waren Lehnstühle mit Seiten- und Rückenlehnen auf einem leicht erhöhten Podium. Einer dieser Ehrensitze trägt einen eigenen Namen: er heißt „Lehrstuhl (cathedra) des Mose“. (Vgl. dazu Mt 23,2: „Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten“.) – Bei verschiedenen Gelegenheiten hat Jesus die Ehrsucht und den Dünkel der Schriftgelehrten und Pharisäer kritisiert, mit dem sie in den Synagogen „die vordersten Sitze“ beanspruchen. (Vgl. Mk 12,38 f.: Cymbalista Synagoge (Mario Botta) im Uni-Viertel Tel Aviv, Blick zum Toraschrein Hebräische Inschrift: „Ich habe mir den Herrn beständig vor Augen gestellt“ Psalm 16,8

1/2023 25 „Nehmt euch in Acht vor den Schriftgelehrten!... Sie wollen in der Synagoge die Ehrensitze und bei jedem Festmahl die Ehrenplätze haben.“) Wenn sich in der Nähe der Synagoge ein Bach oder Brunnen befindet, dient er zur rituellen Reinigung vor dem Betreten des heiligen Raumes. Andernfalls richtet man künstliche „Wasseranlagen“ ein, d. h. man legt ein rituelles Bad (Mikwe) an oder stellt wenigstens Krüge mit Wasser am Eingang der Synagoge bereit. (Der heutige Christ denkt in diesem Zusammenhang an die Weihwasserbecken am Eingang der Kirchen bzw. an die Besprengung der Gemeinde mit Weihwasser, das sog. „Asperges“ zu Beginn des Gottesdienstes.) Mit diesen Informationen haben wir gewissermaßen den Rahmen gezeichnet, in dem sich der Synagogengottesdienst abspielt. Aus unserer Beschreibung dürfte klar geworden sein, dass die jüdischen Synagogen von ihrer Lage (errichtet auf einem erhöhten Bauplatz) und von ihrer Ausstattung her (die Gemeinden schmücken ihren religiösen Versammlungsraum in der Regel so prächtig aus wie sie nur können) zu den stattlichsten und schönsten Bauwerken einer Ortschaft zählen. Gottesdienst in der Synagoge Wie schon mehrmals hervorgehoben, war die Synagoge ein Ort, an dem man die heiligen Schriften studierte (und die Kinder im Gesetz unterrichtete). Noch stärker empfand man sie als Stätte des Gebetes, der ein gewisser „Heiligkeitscharakter“ zukam. Weniger geläufig dürfte den meisten von uns sein, dass die Synagoge auch als Gerichtsraum dienen konnte, in dem Urteile gefällt und Bestrafungen vollzogen wurden. Darauf deuten die Worte hin, die der Evangelist Matthäus Jesus in den Mund legt (Mt 10,17): „Nehmt euch aber vor den Menschen in Acht! Denn sie werden euch an die Gerichte ausliefern und in ihren Synagogen auspeitschen.“ – Diese Worte spiegeln Erfahrungen der nachösterlichen Gemeinde. Sie dürften aber insofern einen „ jesuanischen“ Kern enthalten, als sicherlich schon Jesus mit seiner Reich-Gottes-Predigt in manchen Synagogen auf Widerstand und Ablehnung gestoßen ist. Aber kehren wir zurück zum normalen „Synagogenbetrieb“. Damit in der Synagoge ein Gottesdienst abgehalten werden konnte, mussten (und müssen noch heute) wenigstens zehn Männer anwesend sein (Frauen zählen damals nicht, und z.T. ist das bis heute so geblieben!). Über den korrekten Ablauf der heiligen Handlung wachte ein Synagogenvorsteher, dem ein Synagogendiener zur Seite stand. Wenn die erfor- „Stuhl des Mose“, Sitz des Synagogenvorstehers in Chorazin, Original im Israel-Museum Alltag zur Zeit Jesu Alltag zur Zeit Jesu

IM LAND DES HERRN 26 1/2023 derten zehn Männer zur Stelle waren, fand in der Regel ein Gottesdienst an den Samstagen (Sabbat) und an den Feiertagen statt. Am Sabbat versammelte man sich übrigens gleich zweimal, nämlich am Vormittag gegen 9 Uhr und am Nachmittag gegen 16.30 Uhr, d. h. zur der Stunde, da in Jerusalem das tägliche Abendopfer dargebracht wurde. In Marktflecken und größeren Ortschaften wurden darüber hinaus am Montag und Donnerstag Synagogengottesdienste angeboten, um den Bauern, die traditionell an diesen Tagen zum Markt kamen, Gelegenheit zu geben, einmal einem „vollen Gottesdienst“ beizuwohnen; in ihren abgelegenenWohnorten hatten sie dazu oft keine Möglichkeit. Im Gottesdienst durfte grundsätzlich jeder erwachsene Israelit als Lektor fungieren. Je nach dem „liturgischen Rang“ des Tages wechselte die Zahl der Lektoren. Am Sabbatvormittag erhöhte sie sich auf sieben. Jeder Vorleser musste wenigstens drei Verse vortragen, weshalb die am Sabbat angebotene Tora-Lektion zumindest 21 Verse betrug. Da das Hebräische, in dem die heiligen Texte verfasst waren, in den Tagen Jesu längst nicht mehr Volkssprache war, mussten die Lesungen von einem geschulten Dolmetscher in die westaramäische Landessprache übertragen werden, und zwar Vers für Vers. Diese Übertragung musste frei (ohne Vorlagen) erfolgen, was sprachliches Einfühlungsvermögen und theologisches Wissen voraussetzte. Im Gottesdienst am Vormittag des Sabbats folgte auf die Tora-Lesung eine Lesung aus den pro-phetischen Büchern des Alten Testaments. Diese Lesung war von der Gottesdienstordnung nicht festgelegt. Der Vorleser (entweder der letzte Tora-Lektor oder ein Mann, der sich freiwillig meldete) konnte den Abschnitt, den er vortragen wol lte, selbst bestimmen (wobei auch hier wieder ein Dolmetscher benötigt wurde). Den letzten Teil des Gottesdienstes bildete eine Predigt, die grundsätzlich von jedem erwachsenen Teilnehmer gehalten werden konnte. Diese Predigten waren in der Regel kurz und einfach: Der Redner entwickelte kaum eigene Gedanken, sondern bekräftigte durch Vergleiche und Ausschmückungen die Aussagen der Bibel. Hatte der Prediger seine Erläuterungen beendet, schloss der Synagogendiener die Schriftrollen vor der versammelten Gemeinde in den (transportablen) Schrein (der auch „Arche“ genannt wurde) ein. Damit war der Gottesdienst abgeschlossen; die Leute gingen ohne einen besonderen Schlussritus auseinander. Mit Jesus in der Synagoge von Nazaret Wir haben schon darauf hingewiesen, dass nach Auskunft der Evangelisten Jesus sehr oft die Synagogen besucht und in ihnen gelehrt bzw. verkündigt hat. Da für die christlichen Gemeinden, an die sich die Evangelisten mit ihren Schriften richteten, der jüdische Synagogengottesdienst nicht mehr besonders wichtig und aktuell war, haben sie den Rahmen dieses Gottesdienstes nirgends ausdrücklich gezeichnet. Lediglich Lukas hat im vierten Kapitel seines Evangeliums mit wenigen Strichen diesen Rahmen angedeutet. Indem wir seinen Text zugrunde legen (und ergänzen), wollen wir uns vorstellen, dass wir mit Jesus und seinen Jüngern an einem Sabbatvormittag die Synagoge des kleinen Dorfes Nazaret besuchen.Was erleben wir hier? Der Gottesdienst beginnt mit einem liturgischen Teil. Dieser besteht aus Segenssprüchen und Gebeten, die den fünf Büchern Mose entnommen sind. Besonders eindrucksvoll ist das „Höre Israel“, eine Mahnung aus dem Mund Jahwes, die aus den Stellen Dtn 6,4–9; Dtn 13,11–21; Num 15,37–41 besteht. Inhaltlich geht es dabei um das Bekenntnis zu dem „Einen Gott Jahwe und seinen Geboten“. Ihm schließt sich das sog. „Achtzehngebet“ an, das seinen Namen von den achtzehn Lobpreisungen hat, aus denen es zusammengesetzt ist. In diesem Achtzehngebet sind Bitten enthalten, die in etwa in unserem Vaterunser wiederkehren

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