3/2024 29 geht weit über die Zuständigkeit des Menschen hinaus. Vergossenes Blut lässt sich nicht zuschaufeln. Es schreit zum Himmel empor und erhebt Anklage vor dem Gott des Lebens. Die Strafe Ähnlich wie Adam muss auch Kain einen Richterspruch Gottes über sich ergehen lassen, der nicht nur seine Person betrifft, sondern seine ganze Existenz, die in seine bäuerliche Umwelt hineinverwoben ist: Die Erde hat durch seine Tat Bruderblut trinken müssen. Zur Strafe soll sie dem Mörder künftig ihre Segenskraft vorenthalten. Kain soll auf der mütterlichen Erde in Zukunft heimatlos sein. Was ihm noch bleibt, ist ein unstetes und flüchtiges Leben. Kain wird vom Acker, seiner eigentlichen Lebenswelt, verbannt. Unter der Wucht dieses Fluches bricht Kain zusammen. Er erkennt mit aller Klarheit und mit tiefem Entsetzen: Ein Leben fern von Gott ist ein Leben, das Gott nicht mehr schützt. Und über einen Menschen, von dem Gott seine Hand zurückgezogen hat, werden bald alle herfallen. Das Kainsmal Überraschenderweise schließt unsere Geschichte aber nicht mit dem Bild des von seinen Mitmenschen hingerichteten Brudermörders. Das letzte Wort in diesem Drama spricht kein Mensch, sondern Gott. Und der stellt das Leben, das Kain verwirkt hat, unter seinen persönlichen, strengen Schutz. „Er machte Kain ein Zeichen, dass ihn unerschlagen lasse, wer ihn fände“, sagt unser Text. Über dieses Zeichen, das Kainsmal, ist viel spekuliert worden. Die meisten Erklärer nehmen an, dass der Verfasser an ein Stammeszeichen dachte, an eine Tätowierung, wie sie damals bei den Beduinen öfter vorgekommen ist. Im Falle Kains ist dieses Zeichen allerdings kein Stammeszeichen, das den Träger einer größeren Gemeinschaft zuordnet, sondern ein individuelles Zeichen, das Kain isoliert und die Gemeinschaft gewissermaßen vor ihm warnt. Umgekehrt wird der ausgestoßene Kain durch sein Mal tabuisiert und der Willkür der Gruppe entzogen: keiner darf Hand an ihn legen. Wichtiger als die soziale Bedeutung des Schutzzeichens ist die theologische Vorstellung, die hinter ihm steht. Das Leben ist und bleibt Gottes Eigentum. Zwar muss Kain zur Strafe rastlos durch die Welt ziehen. Aber auch dieses fluchbeladene Leben gehört dem Schöpfer und nicht der menschlichen Willkür. – Das Land „Nod“ übrigens, „östlich von Eden“, in das Kain zunächst auswandert, kann nicht lokalisiert werden. Es ist einfach eine bildhafte Umschreibung für Kains Heimatlosigkeit und Ruhelosigkeit (das hebräische Wort nad bedeutet „flüchtig“). Die Keniter Die Fachleute der Bibelwissenschaft weisen darauf hin, dass es sehr hilfreich ist, bei der Auslegung unserer Erzählung einen Blick auf den Stamm der „Keniter“ zu werfen. – Als die ersten Israeliten im Land Kanaan sesshaft wurden, erlebten sie in ihrer Nachbarschaft den relativ kleinen und unbedeutenden Nomadenstamm der Keniter, der ihnen theologisch einige Rätsel aufgab. Die Keniter verehrten denselben Gott Jahwe wie sie, sie hatten sich sogar eine Zeitlang der Wüstenwanderung Israels angeschlossen. Sie gehörten offenbar aber nicht zu der von Jahwe erwählten Bundesgemeinde. Es schien für sie kein „Land der Verheißung“ zu geben, d. h. sie schafften es nicht, sesshaft zu werden und Ackerbau zu betreiben. Stattdessen zogen sie ruhelos an den Rändern des Kulturlandes umher und lebten gelegentlich vom Raub. Als ihren Ahnherrn verehrten diese Nomaden den Kain, und vielleicht dokumentierten sie ihre Zugehörigkeit zu Jahwe durch eine Tätowierung. – Natürlich wollte der Verfasser unserer Erzählung von Kain und Abel nicht die Stammesgeschichte der Keniter beschreiben, sondern ein urmenschliches Ereignis, das zeigt, welchen Weg eine Menschheit einschlägt, die aus Kain und Abel Kain und Abel
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