Im Land des Herrn | 78. Jahrgang | 2024 - 4

4/2024 21 ihn auf ihre Schultern, gingen rückwärts und bedeckten die Blöße ihres Vaters. Sie hatten ihr Gesicht abgewandt, so dass sie die Scham ihres Vaters nicht sahen. Als Noach aus dem Rausch erwachte und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte, sagte er: Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern ...“ – Sem und Jafet aber wurden von Noach gesegnet. – Und dann schließt die Noach-Geschichte mit der Bemerkung: „Noach lebte nach der Flut noch dreihundertfünfzig Jahre. Die gesamte Lebenszeit Noachs betrug neunhundertfünfzig Jahre. Dann starb er“ (vgl. Gen 9,18–29). Zur Auslegung Der eben zitierte Textabschnitt verbindet sich nicht ohne weiteres mit der Sintflutgeschichte. In dieser sind z.B. die Söhne Noachs verheiratet, hier aber leben sie offenbar noch unverheiratet mit dem Vater in einem Zelt. Man hat versucht, unsere Episode zeitlich vor die Sintflut zu versetzen. Dann wäre aber (was nur schwer denkbar ist) der verfluchte Ham mit in der Arche gewesen. – Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass der Sammler und Redakteur unserer Erzählung keinen besonderen Wert darauf gelegt hat, alle geschilderten Details genau aufeinander abzustimmen. Die einleitend schon erwähnte Verheißung, die im Namen „Noach“ mitschwingt („er wird Ruhe und Trost spenden“) erfüllt sich in dem Augenblick, als Noach nach der Flut den Weinbau „erfindet“. Im alten Israel galt der Weinstock als das edelste aller Gewächse. Einen Weinberg zu besitzen, seine Früchte zu genießen und im Frieden seines Schattens ruhen zu dürfen, war für einen Juden der Inbegriff eines glücklichen und gesegneten Daseins. – Noach allerdings muss als Erfinders des Weinbaus das Geheimnis der wunderbaren Früchte erst erkunden, und er wird zunächst von der Kraft des unbekannten Getränkes überwältigt. Dass er in seinem Rausch von seinem Sohn Ham irgendwie sexuell attackiert wird (unser Text spricht zwar nur vom „Anschauen“ des entblößten Vaters, Noach aber ist anschließend empört über das, „was ihm sein jüngster Sohn angetan [!] hat“, könnte mit sehr urtümlichen Vorstellungen zusammenhängen). Es gibt in der antiken Welt Mythen über Weinbau und Fruchtbarkeit, in denen von Königen erzählt wird, die rituell entmannt, bzw. getötet und zerstückelt werden müssen. Denn nur durch dieses Opfer kann die weitere Fruchtbarkeit der Erde garantiert werden. Vielleicht haben solche Ideen auf unseren Text eingewirkt. Etwas klarer sehen wir, worum es in der Verfluchung Hams bzw. Kanaans geht. Die Leute von Kanaan galten den Israeliten, die deren Land erobert und dort Wohnung genommen hatten, als sexuell besonders verderbt. So gab es bei ihnen z.B. die Einrichtung der kultischen Prostitution. Die Juden waren der Meinung: Die Bewohner von Kanaan sind Nachfahren des unkeuschen Ham, und weil von Noach her schon immer ein Fluch auf ihnen liegt, können wir sie leicht unterwerfen. Denn wir sind Nachkommen des keuschen Sem, dem Noach die Herrschaft über Ham zugesagt hat. (Unter den Nachkommen des ebenfalls keuschen Jafet hat man wohl die Philister zu verstehen, mit denen sich Israel den Besitz des Gelobten Landes teilen musste.) Noach und die Sintflut in moderner Sicht In der katholischen Messliturgie begegnet uns Noach am ersten Fastensonntag des Lesejahres B, Antike Weinpresse im Nationalpark Avdat, Negev Noach, der Erbauer der Arche Noach, der Erbauer der Arche

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