Franziskanische Zeitschrift für das Heilige Land 78. Jahrgang 2024 / Heft 4
Auf dem Umschlagbild der neuen Zeitschrift sehen Sie ein Bild von der Heiligsprechung der „Märtyrer von Damaskus“ am 20. Oktober 2024 auf dem Petersplatz in Rom. Es war ein großes Freudenfest, besonders natürlich für die Christen des Nahen Ostens, die momentan ein anderes Martyrium zu bestehen haben. So war die Festfreude überlagert von den Nachrichten des Krieges, der mittlerweile auch den Libanon erfasst hat und von neuem auch Syrien. Gerade vielen libanesischen Christen war es nicht möglich, nach Rom zu kommen. Ich hatte die Gelegenheit, mit Mitbrüdern aus dem Heiligen Land, aus Syrien und dem Libanon zu sprechen: die Lage der Menschen dort wird immer verzweifelter und hoffnungsloser und wir können als Franziskanerkustodie schon länger nicht mehr alle Erwartungen erfüllen, die die Menschen in uns haben. In unserer Reihe über Heilige Stätten am See von Tiberias kommen wir in dieser Ausgabe nach Kafarnaum, die Stadt Jesu. Sehr viele biblische Erinnerungen sind mit diesem Ort verbunden und die Synagoge wird zu Recht die „Königin der Synagogen in Galiläa“ (Stanislaus Loffreda) genannt. Durch die jahrzehntelangen Ausgrabungen der Franziskaner des „Studium Biblicum“ sind wir nicht nur über das „Petrus-Haus“ gut unterrichtet; der Sehr verehrte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Heiligen Landes! Pilger kann auch einiges über das Alltagsleben zur Zeit Jesu anhand der nun sichtbaren Siedlungsstrukturen erfahren. In die Zeit des Alten Testamentes führt uns der Artikel zum Erzvater Noach. Ein wenig bekanntes Heiliges Grab in Mittelhessen, in Weilburg, soll unseren Lesern vorgestellt werden. Alte (liturgische) und neue Stoffe („Kufija“) sind Mittelpunkt weiterer Artikel aus der Lebenswelt des heutigen Heiligen Landes. Es will bei uns auch in diesem Jahr keine rechte Weihnachtsstimmung aufkommen, wenn wir an den schrecklichen Krieg denken und an seine Auswirkungen, die wohl noch über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zu spüren sein werden. Man mag nicht das Kind in der Krippe anschauen, ohne an die Kinder zu denken, die ohne Rücksicht um ihr Leben kommen. Vergessen wir das Heilige Land und seine Bewohner nicht! Im Namen der deutschsprachigen Kommissare des Heiligen Landes wünschen wir Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und alles erdenklich Gute für das kommende Jahr 2025,
4/2024 3 Inhalt Kafarnaum – „Die Stadt Jesu“ Heinrich Fürst OFM/Gregor Geiger OFM Biblische Gestalten Lebensbilder aus dem Alten Testament Noach, der Erbauer der Arche und Erfinder des Weinbaus Sigfried Grän OFM Die Heiliggrabkapelle in Weilburg an der Lahn Petrus Schüler OFM Ein symbolisches Stück Stoff: die Kufiya – das „Palästinensertuch“ Cécile Lemoine Stich für Stich – Das Heilig-Land-Museum im Dienste der Textilrestaurierung Lucie Mottet Das sogenannte Schwert des Gottfried von Bouillon Benoît Constensoux Sensationsfund in der Grabeskirche? Petrus Schüler OFM Buchempfehlungen Sonderbriefmarke zu Ehren des Heiligen Engelbert Kolland Titelbild: Heiligsprechung der Märtyrer von Damaskus, Petersplatz Rom © CTS Rückseite: Anbetung der Könige, Lateinische Pfarrkirche Zababdeh, Westbank Alle Fotos in der Zeitschrift (wenn nicht anders angegeben) © Petrus Schüler Seite 4 Seite 16 Seite 25 Seite 23 Seite 29 Seite 31 Seite 35 Seite 38 Seite 36
4 4/2024 er Ort Kafarnaum wird im Alten Testament nicht erwähnt, obwohl erste Siedlungsspuren bis in die Mittlere Bronzezeit zurückreichen. Dagegen nimmt die Stadt im Neuen Testament eine herausragende Stellung ein. Jesus ist mit Kafarnaum so verbunden, dass der Evangelist Matthäus es seine Stadt nennt (Mt 9,1). Er schlug hier seinen Wohnsitz auf: Als Jesus hörte, dass Johannes ausgeliefert worden war, kehrte er nach Galiläa zurück. Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali. Denn es sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Das Land Sebulon und das Land Naftali, die Straße am Meer, das Gebiet jenseits des Jordan, das heidnische Galiläa: Das Volk, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen. Von da an begann Jesus zu verkünden: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe (Mt 4,12–17). Nach einer Blüte in byzantinischer Zeit wurde Kafarnaum im 8. oder 9.Jahrhundert aufgegeben und nie mehr besiedelt. Die wenigen Pilger aus dem Mittelalter, die bis hierher vorgedrungen waren, beschreiben die Stadt als Ruinen oder als Wohnort einzelner Beduinen; so notiert der Dominikaner Burkard vom Berg Zion am Ende der Kreuzfahrerperiode: „Es ist ganz ärmlich; kaum sieben Hütten von armen Fischern stehen dort.“ Mehrere Besucher des Mittelalters sehen daher das Drohwort Jesu gegen die Stadt, „bis zur Unterwelt wirst du hinabsteigen“ (Mt 11,23), in Erfüllung gegangen. Im 17.Jahrhundert war die Erinnerung an den Ort ganz verloren gegangen, man suchte ihn weiter westlich, z.B. in Chirbet al-Minje. Erst im 19.Jahrhundert gab es Versuche, die Ruinen – die Araber nannten sie Tell Hum, was als Kurzform von Kafarnaum erklärbar ist – Kafarnaum – „Die Stadt Jesu“ Heinrich Fürst OFM/Gregor Geiger OFM D Übersichtsplan 1 – Kirche über dem Haus des Petrus 2 – Häuserstrukturen 3 – Synagoge 4 – Franziskanerkloster 5 – Statue des hl. Petrus 6 – Architekturteile © Studium Biblicum Franciscanum Chirbet al-Minje
4/2024 5 Kafarnaum Kafarnaum als Kafarnaum zu identifizieren. Dem 20.Jahrhundert war es vorbehalten, die Überreste, die so deutlich an das Leben Jesu und der ersten Jünger erinnern, wieder ans Licht zu bringen und dem Besucher zugänglich zu machen. Im Nachhinein war es ein Glücksfall, dass die Stadt Jesu als Stadt zu existieren aufgehört hatte. Die Ruinen wurden nie überbaut oder als Steinbruch genutzt und blieben so über anderthalb Jahrtausende überraschend gut erhalten. Der Sabbat von Kafarnaum (Mk 1,21–39), der durch die Berufung der ersten Jünger am See Gennesaret eingeleitet wird (Mk 1,16–20), ist eine der schlichtesten und eindrucksvollsten Erzählungen aus der Frühzeit des Evangeliums, die gut und gerne auf Kreise um Petrus zurückgehen mag – beispielsweise wird Petrus hier noch mit seinem ursprünglichen Namen Simon bezeichnet. Dieser Bericht lautet: Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihre Netze auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Und sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm nach. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. Sogleich rief er sie und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach. Sie kamen nach Kafarnaum. Am folgenden Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Und die Menschen waren voll Staunen über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten. In ihrer Synagoge war ein Mensch, der von einem unreinen Geist besessen war. Der begann zu schreien: Was haben wir mit dir zu tun, Jesus von Nazaret? Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes. Da drohte ihm Jesus: Schweig und verlass ihn! Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. Da erschraken alle und einer fragte den andern: Was ist das? Eine neue Lehre mit Vollmacht: Sogar die unreinen Geister gehorchen seinem Befehl. Und sein Ruf verbreitete sich rasch im ganzen Gebiet von Galiläa. Sie verließen sogleich die Synagoge und gingen zusammen mit Jakobus und Johannes in das Haus des Simon und Andreas. Die Schwiegermutter des Simon lag mit Fieber im Bett. Sie sprachen sogleich mit Jesus über sie und er ging zu ihr, fasste sie an der Hand und richtete sie auf. Da wich das Fieber von ihr und sie diente ihnen. Am Abend, als die Sonne untergegangen war, brachte man alle Kranken und Besessenen zu Jesus. Die ganze Stadt war vor der Haustür versammelt und er heilte viele, die an allen möglichen Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus. Und er verbot den Dämonen zu sagen, dass sie wussten, wer er war. In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Berufung des Petrus und seines Bruders Andreas, Griechisch-orthodoxe Kirche Kafarnaum
6 4/2024 IM LAND DES HERRN Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen. Und er zog durch ganz Galiläa, verkündete in ihren Synagogen und trieb die Dämonen aus (Mk 1,16–39). Kafarnaum musste aber auch die ernste Drohung Jesu anhören: Dann begann er den Städten, in denen er die meisten Machttaten getan hatte, Vorwürfe zu machen, weil sie nicht Buße getan hatten: Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! Denn wenn in Tyrus und Sidon die Machttaten geschehen wären, die bei euch geschehen sind – längst schon wären sie in Sack und Asche umgekehrt. Das sage ich euch: Tyrus und Sidon wird es am Tag des Gerichts erträglicher ergehen als euch. Und du, Kafarnaum, wirst du etwa bis zum Himmel erhoben werden? Bis zur Unterwelt wirst du hinabsteigen. Wenn in Sodom die Machttaten geschehen wären, die bei dir geschehen sind, dann stünde es noch heute. Das sage ich euch: Dem Gebiet von Sodom wird es am Tag des Gerichts erträglicher ergehen als dir (Mt 11,20–24). Die Synagoge Bereits 1838 vermutete der amerikanische Orientreisende E. Robinson in diesen Ruinen eine Synagoge. Dies bewog die Franziskaner, in siebenjährigen Verhandlungen mit vielen Rückschlägen 1886–1893 das Grundstück zu erwerben – in der Hoffnung, dort Kafarnaum zu finden. Noch vor dem Ersten Weltkrieg bemühte sich der deutsche Franziskanerbruder Wendelin Hinterkeuser, einige Ordnung in die vielen Ruinenteile zu bringen. In den Jahren 1921 unternahm der aus Nazaret stammende Franziskaner Gaudenzio Orfali eine teilweise Wiederherstellung des monumentalen Gebäudes. Diese Rekonstruktion wurde mit dem Enthusiasmus und den archäologischen Methoden der damaligen Zeit vorgenommen; sie macht leider nicht kenntlich, welche Bauelemente tatsächlich vorgefunden und welche ergänzt wurden. Vor allem die angedeutete Rekonstruktion einer Empore nach dem Vorbild mittelalterlicher europäischer Synagogen lässt sich heute nicht mehr aufrecht erhalten. Die Pionierarchäologen bis zum beginnenden 20.Jahrhundert waren zumeist überzeugt, die Synagoge aus der Zeit Jesu gefunden zu haben. Die deutschen Archäologen Heinrich Kohl und Carl Watzinger erforschten 1905–1916 die Ruinen und datierten sie auf die Zeit um 200n.Chr. Da also die Synagoge nicht die Synagoge aus der Zeit Jesu sein konnte, bemühten sich die Franziskaner 1968–1990 mit der gebotenen Vorsicht darum herauszufinden, ob sich nicht unter der heute sichtbaren Synagoge eine frühere befände. Eine erste Überraschung war dabei, dass man im Fußboden der jetzigen Synagoge mehr als 30.000(!) Münzen aus der Zeit von 383–395n.Chr. fand. Solche Münzschätze sind inzwischen auch bei anderen Synagogen gefunden worden – wohl die Kasse der betreffenden Synagoge. Tatsächlich fand man andersartige Grundmauern unter der sichtbaren Synagoge. Das Ergebnis der beiden Franziskaner Virgilio Corbo († 1991, hier begraInnenraum der Synagoge © Igor Hollmann
4/2024 7 ben) und Stanislao Loffreda, das im Detail noch diskutiert wird, ist folgendes: Die weiße Synagoge ist weit jünger, als man vor hundert Jahren angenommen hatte; sie dürfte aus dem ausgehenden 5.Jh.n.Chr. stammen. Darunter fand man Reste mehrerer Vorgängerbauten: zuunterst einfache Häuser vom 13.Jh.v.Chr. bis in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte; darüber ein öffentliches Gebäude aus der Zeit Jesu, das wahrscheinlich– einen archäologischen Beweis gibt es dafür nicht– die Synagoge aus der Zeit Jesu war. Ein interessantes und auch für den Laien sichtbares Detail ist die Baufuge zwischen den Basaltgrundmauern des Vorgängerbaus und der weißen Kalksteinsynagoge. Betrachtet man die westliche Außenmauer (von der baumbestandenen Sitzgruppe aus), erkennt man, dass die oberste Schicht von Basaltsteinen leicht geneigt ist; beim Neubau der Synagoge hat man sie nicht eingeebnet, sondern man hat die Kalksteine sorgfältig auf diese Neigung hin behauen. Außerdem ist an der Eingangstreppe eine der Kalksteinstufen so behauen, dass sie eine alte Basaltstufe überwölbt, ohne sie zu zerstören. Es gibt dafür keine architektonische Erklärung. War der Vorgängerbau erhaltungs- weil verehrungswürdig? Als Synagoge Jesu? Dies wirft freilich eine weitere Frage auf: Warum sollten Juden im 5.Jahrhundert die Spuren Jesu verehrt haben? Hier findet sich eine aufschlussreiche Parallele in der jüdischen Gemeinde – oder sollte man sie judenchristlich nennen? – von Nazaret: dort rühmten sich zumindest die Jüdinnen der Verwandtschaft Mariens. Sollten die Juden von Kafarnaum noch einen Schritt weitergegangen sein und die Erinnerung an Jesus in Ehren gehalten haben? Eine weitere Möglichkeit wird gegenwärtig diskutiert: Gehörte die byzantinische Synagoge überhaupt zu einer existierenden jüdischen Gemeinde? Oder war sie vielmehr eine christliche Erinnerungsstätte an die Synagoge Jesu? Wie auch immer, die zum Teil wieder aufgerichtete Synagoge von Kafarnaum (23x17m) gilt als eine der schönsten, die im Land anzutreffen sind. Schon dass sie nicht aus dem örtlichen schwarzen Basalt wie ihre Vorgängerinnen und viele andere Synagogen in Galiläa erbaut worden ist, sondern aus Kalkstein, der von auswärts beigebracht werden musste, zeigt ihren besonderen Rang. Wie bei den Synagogen in Galiläa üblich, ist ihre Fassade nach Süden, nach Jerusalem hin, ausgerichtet. Wenn die Synagoge also heute in die byzantinische Zeit datiert wird und 30m entfernt ein erstrangiges christliches Heiligtum stand (siehe im Folgenden), werden auch bisherige Vorstellungen über die Religionspolitik des byzantinischen Reiches brüchig. Es fragt sich ja: Wie war es möglich, dass unmittelbar neben einer Kirche eine so stattliche, geradezu prächtige jüdische Synagoge neu errichtet werden konnte? Die jüdische Gemeinde von Kafarnaum muss über beträchtlichen Einfluss verfügt haben, anscheinend konnte das byzantinische Regime durchaus tolerant sein. Selbst wenn die Christen von Kafarnaum Judenchristen waren, bleibt der Befund bemerkenswert; wir wissen anderswo von scharfen Spannungen gerade zwischen juden- und heidenchristlichen Gemeinden bis in die byzantinische Zeit hinein. Wie immer es gewesen sein mag, Baufuge der Außenmauer der Synagoge Kafarnaum Kafarnaum
IM LAND DES HERRN 8 4/2024 das enge Gegenüber von Kirche und Synagoge in Kafarnaum wirkt bis heute wie ein Symbol für ein Nebeneinander unterschiedlicher religiöser Gruppen. Ältestes Zeugnis für dieses erstaunliche Gegenüber ist der Reisebericht der Aetheria aus dem Jahr 383n.Chr. Darin heißt es: In Kafarnaum ist aus dem Haus des Apostelfürsten eine Kirche geworden; die Wände stehen bis heute so, wie sie waren. Dort heilte der Herr den Gelähmten. Dort steht auch die Synagoge, in der der Herr den Besessenen heilte, zu der man über viele Stufen hinaufsteigt. Die Synagoge ist aus quadratischen Steinen errichtet. Mehrere Erzählungen aus den Evangelien sind mit der Synagoge von Kafarnaum verbunden, siehe z.B. den oben erwähnten „Sabbat von Kafarnaum“ (Mk 1,21–39) oder die folgende Heilungsgeschichte: Nachdem Jesus alle seine Worte dem Volk zu Gehör gebracht hatte, ging er nach Kafarnaum. Ein Hauptmann hatte einen Diener, den er sehr schätzte, der war krank und lag im Sterben. Als der Hauptmann aber von Jesus hörte, schickte er jüdische Älteste zu ihm mit der Bitte, zu kommen und seinen Diener zu retten. Sie gingen zu Jesus und baten ihn inständig. Sie sagten: Er verdient es, dass du seine Bitte erfüllst; denn er liebt unser Volk und hat uns die Synagoge gebaut. Da ging Jesus mit ihnen. Als er nicht mehr weit von dem Haus entfernt war, schickte der Hauptmann Freunde und ließ ihm sagen: Herr, bemüh dich nicht! Denn ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach einkehrst. Deshalb habe ich mich selbst auch nicht für würdig gehalten, zu dir zu kommen. Aber sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund. Denn auch ich muss Befehlen gehorchen und ich habe selbst Soldaten unter mir; sage ich nun zu einem: Geh! , so geht er, und zu einem andern: Komm!, so kommt er, und zu meinem Diener: Tu das!, so tut er es. Jesus war erstaunt über ihn, als er das hörte. Und er wandte sich um und sagte zu den Leuten, die ihm folgten: Ich sage euch: Einen solchen Glauben habe ich in Israel nicht gefunden. Und als jene, die der Hauptmann geschickt hatte, in das Haus zurückkehrten, stellten sie fest, dass der Diener gesund war (Lk 7,1–10). Dem entspricht das Kafarnaum des Johannesevangeliums in eigener Weise. Johannes bringt von den Taten Jesu nur eine kleine Auswahl und räumt dafür der Verkündigung umso mehr Platz ein. Gerade darin aber kommt die Synagoge von Kafarnaum zu der besonderen Auszeichnung als Ort der großen Brotrede nach der Speisung der Menge in der Wüste. Diese Rede wird zu einem Höhepunkt der Predigt Jesu in Galiläa. Ihr erster Teil spricht unter dem Bild des Brotes allgemein von der Heilsbedeutung des Glaubens an Jesus. Erst der letzte Teil der Rede ist eindeutig eucharistisch zu verstehen. So kommt es zu einer Scheidung unter den Anhängern Jesu. Diese Brotrede in der Synagoge von Kafarnaum lautet: Von Tiberias her kamen andere Boote in die Nähe des Ortes, wo sie nach dem Dankgebet des Herrn das Brot gegessen hatten. Als die Leute sahen, Hauptmann von Kafarnaum, Griechisch-orthodoxe Kirche
4/2024 9 dass weder Jesus noch seine Jünger dort waren, stiegen sie in die Boote, fuhren nach Kafarnaum und suchten Jesus. Als sie ihn am anderen Ufer des Sees fanden, fragten sie ihn: Rabbi, wann bist du hierhergekommen? Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird! Denn ihn hat Gott, der Vater, mit seinem Siegel beglaubigt. Da fragten sie ihn: Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen? Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. Sie sagten zu ihm: Welches Zeichen tust du denn, damit wir es sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? Unsere Väter haben das Manna in der Wüste gegessen, wie es in der Schrift heißt: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen. Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben. Da baten sie ihn: Herr, gib uns immer dieses Brot! Jesus antwortete ihnen: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben. Aber ich habe euch gesagt: Ihr habt gesehen und doch glaubt ihr nicht. Alles, was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen; denn ich bin nicht vom Himmel Kafarnaum Kafarnaum Brotrede, Bad Nauheim, St. Bonifatius-Kirche
10 4/2024 IM LAND DES HERRN herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, sondern dass ich sie auferwecke am Jüngsten Tag. Denn das ist der Wille meines Vaters, dass je der, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben hat und dass ich ihn auferwecke am Jüngsten Tag. Da murrten die Juden gegen ihn, weil er gesagt hatte: Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Und sie sagten: Ist das nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie kann er jetzt sagen: Ich bin vom Himmel herabgekommen? Jesus sagte zu ihnen: Murrt nicht! Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht; und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Bei den Propheten steht geschrieben: Und alle werden Schüler Gottes sein. Jeder, der auf den Vater hört und seine Lehre annimmt, wird zu mir kommen. Niemand hat den Vater gesehen außer dem, der von Gott ist; nur er hat den Vater gesehen. Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt. Da stritten sich die Juden und sagten: Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben? Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst und sein Blut nicht trinkt, habt ihr das Leben nicht in euch. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag. Denn mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise und mein Blut ist wahrhaft ein Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich bleibe in ihm. Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird jeder, der mich isst, durch mich leben. Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Es ist nicht wie das Brot, das die Väter gegessen haben, sie sind gestorben. Wer aber dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit. Diese Worte sprach Jesus, als er in der Synagoge von Kafarnaum lehrte. Viele seiner Jünger, die ihm zuhörten, sagten: Diese Rede ist hart. Wer kann sie hören? Jesus erkannte, dass seine Jünger darüber murrten, und fragte sie: Daran nehmt ihr Anstoß? Was werdet ihr sagen, wenn ihr den Menschensohn aufsteigen seht, dorthin, wo er vorher war? Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben. Aber es gibt unter euch einige, die nicht glauben. Jesus wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten, und wer ihn ausliefern würde. Und er sagte: Deshalb habe ich zu euch gesagt: Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist. Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher. Da fragte Jesus die Zwölf: Wollt auch ihr weggehen? Simon Petrus antworLateinische Inschrift zu Ehren von P. Gaudentio Orfali © Raynald Wagner
4/2024 11 tete ihm: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes (Joh 6,23–69). Auf einer Säule an der Nordwand der Synagoge befindet sich eine antike griechische Inschrift: „Herodes, Sohn des Monimos, und Justus, sein Sohn, zusammen mit ihren Kindern stifteten diese Säule“. Auf einer weiteren Säule wurde in der Neuzeit eine lateinische Inschrift angebracht. Sie erinnert an den Franziskaner Gaudenzio Orfali (†1926 bei einem Autounfall) und seine Synagogenrekonstruktion. Das Petrushaus Schon in den 1920er Jahren hatte man näher zum See hin ein Achteck bemerkt, ihm aber keine größere Beachtung geschenkt, weil man es für eine byzantinische Taufkapelle hielt. Erst als 1968–1984 die Franziskaner das ganze Areal gründlich erforschten, wurde es zur Gewissheit, dass es sich um drei Perioden einer christlichen Gottesdienststätte handelt, von denen die älteste in das Jahrhundert Jesu zurückreicht und in einem ganz normalen Haus eingerichtet war – ähnlich den zahlreichen weiteren Häusern der unmittelbaren Umgebung. Gegen Ende des 1.Jh.n.Chr. wurde einer der Räume des Hauses umgestaltet, indem man die Wände verputzte und einen Kalkfußboden einbrachte. Dieser Raum hatte die bescheidenen Ausmaße von 5,80x6,50m. Man fand Gefäßbruchstücke, die mit einem Kreuz verziert waren, und entdeckte Graffiti, „Kritzeleien“, in Griechisch, Lateinisch, Aramäisch und Syrisch – die letzten beiden ein Hinweis auf judenchristlichen Hintergrund –, u.a. mit den liturgischen Worten Kyrie eleison und Amen, in denen neben dem Herrn und dem Allerhöchsten auch Christus angerufen wird. Die meisten von ihnen sind auf das 3. oder 4.Jahrhundert datierbar. Im 4.Jahrhundert wurde der ganze Bereich umgestaltet. Einige der Nachbargebäude wurden abgebrochen, man schuf einen ummauerten heiligen Bezirk (27x30m). Dagegen blieb der kleine verehrte Raum unverändert, man zog nur einen Steinbogen ein, um eine stabilere Decke tragen zu können. Davon berichtet die Pilgerin Aetheria: In Kafarnaum wurde aus dem Haus des Apostelfürsten eine Kirche gemacht. Seine Mauern sind geblieben, wie sie einst waren. Im 5.Jahrhundert wurde dieses Gebäude zum großen Teil abgetragen, man errichtete an seiner Stelle eine achteckige Kirche – in der byzantinischen Zeit war das Achteck eine typische Form für ein Gotteshaus, das an einem heiligen Ort errichtet war (vgl. z.B. die Himmelfahrtskirche oder der Felsendom in Jerusalem). So ist der Schluss nahezu unausweichlich, dass diese aus bescheidensten Anfängen entstandene Hauskirche von Kafarnaum im Haus des Simon Petrus und seiner Familie eingerichtet worden sein muss. Papst Paul VI. ließ es sich nicht nehmen, diese sensationelle Entdeckung höchstpersönlich der Kirche und der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. Es war klar, dass dieses einzigartige Zeugnis der Anfänge des Christentums am See Gennesaret besonderer Sorgfalt bedurfte: Es sollte bewahrt und geschützt werden, aber auch sichtbar bleiben Ausgrabung des Petrushauses © CTS Kafarnaum Kafarnaum
12 4/2024 und die Eucharistiefeier ermöglichen. Zudem sollte die Konstruktion die nahe Synagoge nicht mehr als nötig beeinträchtigen. Gemäß diesen Erfordernissen wurde nach den Plänen des italienischen Architekten Ildo Avetta von einer israelischen Firma mit Spezialisten der Technischen Universität Haifa eine kühne, flache, moderne Konstruktion errichtet. Die Grundsteinlegung erfolgte 1982 mit einem Marmorstück aus der Umgebung des Petrusgrabes im Vatikan, die Weihe der Kirche am Fest Peter-und-Paul (29. Juni) 1990. Diese neue Kirche überwölbt auf Stelzen wie eine umgestürzte Barke (nach anderen: wie ein UFO) die Reste des Petrushauses. Sie nimmt mit ihren schwarzen und weißen Steinplatten die Materialien der nahen Synagogen und mit ihrer achteckigen Form das byzantinische Achteck des Untergrunds auf. Dabei ist sie mit Rücksicht auf die nahe Synagoge extrem flach: Den etwa 32m Länge und Breite steht eine Höhe von nur 7m gegenüber! Das überraschend geräumige Innere bezieht durch große Glasflächen die ganze Landschaft des Sees von Gennesaret ein. Acht Flachreliefs aus Lindenholz an den acht Stützpfeilern illustrieren das Wirken Jesu. Sie zeigen, links vom Eingang beginnend: Den Auftrag an Petrus, die Herde Christi zu weiden (Joh 21,15–18), und die Werke der geistlichen Barmherzigkeit; – die Heilung der Schwiegermutter des Petrus und anderer Kranker (Mk 1,29–34); die Berufung des Apostels Matthäus und das Zöllnergastmahl (Mt 9,9–13); – die Kreuzigung (sie stellt die Beziehung zum Altar her); „Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte“ (Mt 18,4) als Inbegriff der Bergpredigt; – die Heilung des Gelähmten, der vom Dach hinabgelassen wird (Mk 2,1–12); die Erweckung der Tochter des Jaïrus und die Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,21–24.35–43); – Maria als Tochter Israels und die Werke der leiblichen Barmherzigkeit. Die beiden mehr theologischen Darstellungen beim Eingang stammen von Raul Vistoli, die beiden entgegengesetzten hinter dem Altar von Giovanni Dragonesi; sie wurden schon 1990 angebracht. 1996 kamen die vier mehr szenischen Begebenheiten an den Seiten hinzu, die der deutsche Franziskaner Laurentius Englisch (Vossenack/ Eifel) zusammen mit Burkard Gehrmann (Iserlohn) geschaffen hat. Das Altarmosaik von Enzo Rossi nimmt mit dem alttestamentlichen Manna in der Wüste und der Speisung der Menge in der Einöde durch Jesus die Eucharistie in den Blick. Ein Mittelfenster im Boden (6x6m) stellt den Kontakt mit den darunterliegenden ehrwürdigen Resten des Petrushauses her, das zum Haus des Herrn und der Urchristengemeinde wurde. Der oben erwähnte „Sabbat von Kafarnaum“ hat sich zum Teil im Haus des Petrus zugetragen. Er wird ergänzt durch ein anderes Stück von großem theologischen Gewicht, das ebenfalls in Kafarnaum spielt. Es handelt von der Vollmacht der Kirche, auf Erden Sünden zu vergeben, und lautet: Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im IM LAND DES HERRN Haus des Petrus unter der modernen Kirche © Raynald Wagner Blick von der Kirche in die Ruine des Petrushauses
4/2024 13 Hause war. Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und er verkündete ihnen das Wort. Da brachte man einen Gelähmten zu ihm, von vier Männern getragen. Weil sie ihn aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, deckten sie dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Liege durch die Öffnung hinab. Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! Einige Schriftgelehrte aber, die dort saßen, dachten in ihrem Herzen: Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott? Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich dachten, und sagte zu ihnen: Was für Gedanken habt ihr in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben! oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Liege und geh umher? Damit ihr aber erkennt, dass der Menschensohn die Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben– sagte er zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Liege und geh nach Hause! Er stand sofort auf, nahm seine Liege und ging vor aller Augen weg. Da gerieten alle in Staunen; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen (Mk 2,1–12). Die übrigen Ausgrabungen und Fundstücke Die Franziskaner haben 2001 die Ausgrabungen wieder aufgenommen. Anstoß für die neuen Ausgrabungen war eine Aufforderung Johannes Pauls II. bei seinem Besuch in Kafarnaum, die er an den Franziskanerarchäologen Stanislao Loffreda richtete, als dieser den Papst durch die Ruinen begleitete: Continuate gli scavi! –„Macht weiter mit den Ausgrabungen!“ Den weitaus größten Teil des Ausgrabungsareals nehmen Privathäuser ein. Diese sind aus unbeKafarnaum Kafarnaum Inneres der Kirche © Igor Hollmann
14 4/2024 IM LAND DES HERRN hauenen Basaltsteinen errichtet, wie sie an Ort und Stelle zuhauf zu finden sind. Die Häuser bestehen normalerweise aus drei Räumen, die sich um einen offenen Innenhof gruppieren. Diese Räume waren sowohl Wohn- und Arbeitsräume als auch Ställe für die Haustiere. Die Mauern sind nicht sehr dick, woraus man schließen kann, dass es kein zweites Geschoss und keine schwere Dachkonstruktion gab. Die Dächer waren mit einem Gemisch von Zweigen, Stroh und Erde gedeckt, wovon nichts erhalten ist. So wird die eben zitierte Stelle aus dem Markusevangelium (Mk 2,4) deutlich: …deckten sie dort, wo Jesus war, das Dach ab, schlugen die Decke durch und ließen den Gelähmten auf seiner Liege durch die Öffnung hinab. Der große Platz nach dem Eingangsbereich, westlich von Kirche und Synagoge, wurde 2013 von einer Südtiroler Firma neugestaltet. So konnte dem steigenden Besucheransturm Rechnung getragen werden: Auch wenn eine größere Zahl von Gruppen im Areal sind, finden sie Platz, ohne sich gegenseitig zu stören. Unter den links vom Eingang ausgestellten Bauteilen verdienen einige besondere Beachtung. Interessant sind Dekorationselemente: Zweige und Früchte, wie sie beim Laubhüttenfest getragen werden; zwei siebenarmige Leuchter (Menorot); der sechszackige „Davidstern“, der später zum Symbol für Israel schlechthin wurde; der fünfzackige „Salomostern“, dem manchmal magische Bedeutung zugeschrieben wird; ein geschlossener Wagen, der gewöhnlich als beweglicher Toraschrein für die Aufnahme der Handschriften der Heiligen Schrift angesehen wird – nach anderen könnte es sich dabei auch um eine Darstellung der Bundeslade im Jerusalemer Tempel handeln. Eine aramäische Inschrift auf einer Säule (5.Jahrhundert) lautet: „Alphäus, der Sohn des Zebedäus, des Sohnes des Johannes, stiftete diese Säule. Möge sie ihm zum Segen sein“ und bezeugt somit, wie sich die Namen der Apostel hier am See durch Jahrhunderte gehalten haben (vgl. Mt 10,2). An der Ecke steht ein römischer MeiAusgrabungen der Wohnhäuser, im Hintergrund die Grundmauern der Synagoge
4/2024 15 lenstein von der Via Maris, dessen Inschrift den Kaiser Hadrian (117–138), den Sohn des Kaisers Trajan und Enkel des „göttlichen“ Nerva rühmt. Er wurde 1975 nordöstlich der Ruinen entdeckt. Darüber hinaus sind vielerlei haus- und landwirtschaftliche Geräte, wie Olivenpressen, Mühlsteine und Mörser, ausgestellt. Auf dem Platz vor der Kirche liegt eine Kopie des Mosaiks der achteckigen byzantinischen Petruskirche mit einem Pfau, einem alten Symbol für die Auferstehung. Vom Seeufer her grüßt eine monumentale Petrusstatue der amerikanischen Künstler T. und C.I. Madden. Auf dem erhöhten Ufer wurden mehrere schattige Plätze geschaffen, die dazu einladen, die Ruinen der Stadt Jesu nicht nur als Reste der Vergangenheit zu betrachten, sondern die Ereignisse aus dem Leben Jesu zu meditieren oder im Gottesdienst zu feiern. 200m nördlich der Synagoge wurde ein römisches Mausoleum entdeckt, das aus den ersten Jahrhunderten nach Christus stammen dürfte und fünf weiße Sarkophage enthielt, aber schon im Altertum geplündert wurde. Dieses Mausoleum war Teil des Friedhofs, der immer außerhalb der Stadt liegen musste. Eine ganze Reihe weiterer Episoden aus dem Leben Jesu, v.a. aus dem Markus- und Matthäusevangelium, sind in Kafarnaum angesiedelt, so der Besuch der erzürnten Verwandten Jesu (Mk3,21.31–35), der Rangstreit der Jünger und einige Mahnungen Jesu (Mk 9,33–50), die Diskussion über die Tempelsteuer (Mt 17,24–27) oder auch die Fernheilung des Sohnes des königlichen Beamten von Kana. Sie können hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden. Die griechisch-orthodoxe Kirche hat Ende des 19.Jahrhundert den östlichen Teil der Ruinen von Kafarnaum erworben. 1978–1984 sind auch auf diesem Gelände Ausgrabungen vorgenommen worden, die aber nicht zugänglich sind. Sie haben ergeben, dass etwa ein Drittel des alten Kafarnaums auf diesem Grundstück lag. Das Herzstück der gepflegten Anlage ist die Kirche, deren rote Kuppeln weithin zu sehen sind. Sie wurde 1925 erbaut, lag 1948–1967 im unzugänglichen Grenzgebiet zu Syrien und wurde 1995– 2000 renoviert. Beachtenswert ist vor allem die Innenausmalung; die Wände werden fast völlig von Darstellungen aus dem Wirken Jesu in dieser Gegend eingenommen. Im südlichen (rechten) Arm des Querschiffs findet sich in der unteren Reihe: Jesus gebietet dem Wind (Mt 8,23–27), heilt einen besessenen Stummen (Mt 9,32–34), heilt einen Mann mit einer verdorrten Hand (Mt 12,9–14), heilt einen Blinden (Mk 8,22–26). In der oberen Reihe: Jesus heilt einen Aussätzigen (Lk 5,12–16), heilt die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31), heilt die blutflüssige Frau (Mk 5,24–34), heilt zwei Blinde (Mt 9,27–31). Im nördlichen (linken) Querschiff, untere Reihe: Jesus er weckt die Tochter des Jaïrus (Mk 5,21– 24.35–43), Jesus gibt das Vierdrachmenstück als Tempelsteuer (Mt 17,24–27), der wunderbare Fischfang (Lk 5,1–11, Joh 21,1–8), das Mahl nach dem Fischfang (Joh 21,9–14). Obere Reihe: Jesus segnet die Kinder (Mk 10,13–16), heilt den mondsüchtigen Knaben (Mt 17,14–20), befiehlt dem unreinen Geist zu schweigen (Mk 1,23–28), heilt den Knecht des königlichen Beamten (Mt 8,5–13). Blick zur Griechisch-orthodoxen Kirche Kafarnaum Kafarnaum
16 4/2024 er Mann, mit dem wir uns nun beschäftigen wollen, steht am Wendepunkt zweier Zeitalter. Er ist der Letzte in der Reihe der mit Adam beginnenden zehn „Urväter“, deren Epoche mit der Sintflut endet, und als Überlebender dieser weltweiten Katastrophe der Erste einer neuen Menschheitsfamilie, deren Epoche sich bis Abraham erstreckt. Ein bedeutungsvoller Name Noach stammt aus der Sippe des Kain. Sein Vater war Lamech, der mit 182 Jahren einen Sohn zeugte, den er Noach, d.h. „Ruhe“ nannte. Dabei sprach er: „Er wird uns aufatmen lassen von unserer Arbeit und von der Mühe unserer Hände um den Ackerboden, den der Herr verflucht hat“ (Gen 5,29). – Hier ist offenbar auf die Tatsache angespielt, dass Noach eines Tages den Weinbau erfunden und einer geplagten Welt als Trost den Wein geschenkt hat, „der das Herz des Menschen erfreut“ (Ps104,15) und den Verbitterten hilft, „ihre Armut und Mühsal zu vergessen“ (Spr 31,6). Moderne Bibel-Ausleger weisen darauf hin, dass Noach nicht nur als erste Winzer der Menschheit „Ruhe und Trost“ schenkt, sondern dass er in den Wirren seiner Zeit, in den chaotischen Zuständen einer Gesellschaft, deren „Sinnen und Trachten immer nur böse war“, so etwas wie einen „ruhenden Pol“ der Rechtschaffenheit darstellt. – Ein ruhender Pol ist er übrigens auch für seine nächsten Angehörigen und für die Tiere in den Stürmen der alles vernichtenden Sintflut. Textprobleme Wer Näheres über Noach wissen will, wird zu seiner Bibel greifen und bei Gen 6 zu lesen beginnen. Wenn er aufmerksam liest, wird er bald so manche Ungereimtheit feststellen. Alle wichtiNoach mit der Arche und dem Ölzweig, Fresko in der Pfarrkirche Zell am Ziller, der Taufkirche des Heiligen Engelbert Kolland D Biblische Gestalten Lebensbilder aus dem Alten Testament Noach, der Erbauer der Arche und Erfinder des Weinbaus Sigfried Grän OFM
4/2024 17 Noach, der Erbauer der Arche Noach, der Erbauer der Arche gen Schritte der Noach-Geschichte, die weitgehend eine Sintflut-Erzählung ist, werden nämlich (ohne dass ein Grund dafür erkennbar ist) doppelt geschildert: Die Verderbtheit der Menschen – Gottes Entschluss, sie zu vernichten – die Ankündigung der Flut – der Befehl Gottes, in die Arche zu gehen – das Steigen des Wassers – das Umkommen der Lebewesen – das Ende der Flut – die Verheißung Gottes, keine Flut mehr über die Erde zu bringen. Auffällig ist auch, dass abwechselnd von „Gott“ (Elohim) und „Herr“ (Jahwe) gesprochen wird. Am meisten aber dürften den heutigen Leser gewisse Widersprüche irritieren, die der vorliegende Bibeltext enthält: So soll Noach z.B. einmal von reinen Tieren sieben Paare und von den unreinen jeweils nur ein Paar in die Arche mitnehmen. Ein andermal aber von allen Tieren unterschiedslos nur ein Paar. – Auch die Zeitangaben stimmen nicht überein. Einmal heißt es: Die Flut dauerte vierzig Tage, dann wieder: das Wasser schwoll hundertfünfzig Tage lang auf der Erde an. Diese Doppelungen und Widersprüche rühren daher, dass in unserem Text zwei SintflutErzählungen kunstvoll miteinander verflochten wurden. Mit einiger detektivischer Begabung kann man – selbst in der deutschen Übersetzung – die Erzählfäden beider Geschichten voneinander trennen. – Die ältere Sintfluterzählung stammt von einem Theologen, der den Gottesnamen „Jahwe“ gebraucht, und den die Fachleute deshalb den „Jahwisten“ genannt haben. Er hat um 950 v.Chr. unter König Salomo gewirkt. – Die zweite Erzählung ist rund 400 Jahre jünger. Sie verwendet den Gottesnamen „Elo-him“, und ist von schriftgelehrten Priestern im Babylonischen Exil verfasst worden. – Dabei ist zu bemerken, dass weder der Jahwist, noch die „Priesterschrift“ den Inhalt ihrer Geschichten erfunden haben (wie das ein moderner Romanschriftsteller tut). Sie bedienen sich vielmehr uralter Materialien, wie sie damals im ganzen Vorderen Orient verbreitet waren. – Bei der Rekonstruktion unserer Noach-Geschichte werden wir uns vorwiegend vom Jahwisten führen lassen. Engelehen und Riesen Das Kapitel über Noach und die Schlechtigkeit der Welt (Gen 6) beginnt mit einem sehr urtümlichen Motiv: Die Geister des himmlischen Bereichs („Gottessöhne“ genannt) entbrennen eines Tages in sexuellem Verlangen nach den schönen Menschentöchtern. Sie steigen auf die Erde herab und verbinden sich mit den attraktiven Frauen. Aus dieser Verbindung gehen Wesen hervor, die unser Text „Helden der Vorzeit“ (Gen6,4) nennt. Man kann auch von Übermenschen, Halbgöttern oder Riesen sprechen (weil sie an Körpergröße ihre Mitmenschen weit überAuszug aus der Arche, Nachfolge F.I. Stainhart, Elfenbein um 1710 © Bayerisches Nationalmuseum München
18 4/2024 ragten). – In bildhafter Sprache wollte der Autor unserer Geschichte sagen: Ähnlich wie im Paradies, als sie nach der verbotenen Erkenntnis griffen, wollten die Menschen wieder einmal „sein wie Gott“, indem sie sich mit übermenschlichen Geistern verbanden. In den Augen Gottes war damit nicht nur die menschliche Gemeinschaft, sondern die ganze Schöpfung bedroht. Die Grenze, die der Schöpfer zwischen der himmlischen Geisterwelt und dem Bereich des Menschen gezogen hatte, schien sich aufzulösen. Die Ordnung des Universums war in Frage gestellt. Diese Rebellion konnte sich Gott nicht bieten lassen. Er beschloss, ein schreckliches Strafgericht über die Welt und die Menschheit zu verhängen. – Unser Text gebraucht an dieser Stelle ein Wortspiel: Weil die Menschheit „verdorben“ war, wollte Gott sie „verderben“. Die Sintflut Damit alle Leser gegenwärtig haben, worum es in der Noach-Erzählung im Einzelnen geht, bringen wir zunächst eine Zusammenfassung der vom Jahwisten geschilderten Vorgänge: Als Gott die Vernichtung aller Wesen aus Fleisch und Blut ins Auge fasste, war nur Noach vor ihm gerecht und untadelig. Gott beschloss, ihn mit seiner Sippe vor der allgemeinen Strafe zu bewahren. Er kündigte ihm die bevorstehende Flut an und befahl ihm, eine Arche zu bauen, deren Maße und Ausstattung er ihm genau vorschrieb. Das „Schiff“ sollte einhundertfünfzig Meter lang, dreigeschoßig und überdacht sein. In dieses schwimmende Haus sollte er seine Frau, seine drei Söhne Sem, Ham und Jafet mit ihren Frauen, sowie von allen unreinen Tieren (die zur Nahrung dienten) je sieben Paare samt einem großen Lebensmittelvorrat mitnehmen. Noach, der übrigens an keiner Stelle das Wort ergreift, befolgte schweigend diese Weisung und kümmerte sich nicht um die Verwunderung und den Spott der Nachbarn. – Als das Werk vollendet war, ging Noach mit seiner Familie und den Tieren in die Arche, und Gott selbst schloss hinter ihm das Eingangstor zu. Nun ließ Gott vierzig Tage hindurch einen so gewaltigen Regen auf die Erde niedergehen, dass selbst die höchsten Berge vom Wasser bedeckt wurden und alle Menschen und Tiere in den Fluten umkamen. Die Arche aber trieb auf dem Wasser dahin, bis sie auf dem Berg Ararat aufsetzte, der wie eine Insel aus dem großen Meer herausragte. Nachdem die Wassermassen sich verlaufen hatten, ließ Noach einen Raben ausfliegen, der feststellen sollte, ob die Erde schon trocken war. Der Rabe aber kehrte wieder um, ebenso eine Taube, die er anschließend ausschickte. Als er die Taube eine Woche später wieder ausfliegen ließ, kam sie mit einem frischen Olivenzweig im Schnabel zurück. Jetzt war die Erde bewohnbar, und Noach verließ mit seinen Angehörigen und den Tieren die Arche, baute einen Altar und brachte Gott zum Dank für seine Rettung von allen reinen Tieren und Vögeln ein Opfer dar. Gott versprach darauf hin, nie mehr eine Sintflut über die Erde zu verhängen. Denn die Sünde sei so tief im Menschen verwurzelt, dass man überhaupt keinen am Leben lassen dürfte, wollte man das Böse in der Schöpfung radikal ausrotten. Eine palästinensische Tradition lokalisiert das Grab des Noach in Dura, wenige Kilometer von Hebron entfernt. Das überlange Grab spielt wohl auf die „Riesen“ der Überlieferung an. IM LAND DES HERRN
4/2024 19 Wie einst das Menschenpaar, so segnete Gott nun Noach und seine Sippe mit dem Auftrag, sich zu vermehren und die Erde zu bevölkern. Hatten sich Mensch und Tier im Paradies rein vegetarisch ernährt, so erlaubte Gott jetzt (wohl als Zugeständnis an die allgemeine Sündhaftigkeit) das Töten von Lebewesen und den Fleischgenuss. Um jedoch einen letzten Funken Ehrfurcht vor dem tierischen Leben zu erhalten, verbot er den Genuss des Blutes (das in der Alten Welt als Sitz des Lebens galt). – Durch das Böse wurde übrigens auch (wie wir heute zu sagen pflegen) die „Lebensqualität“ des Menschen gemindert. Vor der Sintflut wurden die Menschen im Normalfall viele hundert Jahre alt (Noach selbst war beim Bau der Arche sechshundert Jahre alt und starb mit neunhundertfünfzig Jahren). Nach der Flut nahm die Lebenszeit fortschreitend ab, bis sie durchschnittlich nur noch einhundertzwanzig Jahre betrug. Sein oben schon erwähntes Versprechen, nie mehr die Strafe eine Sintflut zu verhängen, bekräftigte Gott schließlich mit einem förmlichen Bündnis. Er setzte als Zeichen dieses Bundes den Regenbogen ans Firmament, der mit seinen Strahlen das drohende Dunkel der Gewitterwolken erhellt und eine Brücke schlägt zwischen Himmel und Erde. Vom Sinn der Fluterzählungen Wohl jeder Gebildete weiß heute, dass die Geschichte von Noach und der Sintflut keine einmalige Erscheinung in der jüdisch-christlichen Vorstellungswelt ist, sondern dass es Fluterzählungen rund um den Erdball gibt. Die Frage drängt sich auf: Warum ist dieses Motiv so verbreitet? Warum ist es gewissermaßen „Allgemeingut der Menschheit“? Natürlich können wir auf diese Frage keine eindeutige Antwort geben, sondern nur Vermutungen äußern. – Es gibt Autoren, die davon ausgehen, dass die Welt und die Menschheit beim ersten Schöpfungsakt noch nicht gelingen konnten. Der göttliche Schöpfer musste quasi experimentieren und notfalls nachbessern. In dieser Sicht hätte die Flut den Zweck, die Riesen und Ungeheuer (denken wir an gewisse Dinosaurier) einer unfertigen Welt zu vertilgen. Man kann darüber spekulieren, ob Knochenfunde von ausgestorbenen Riesentieren die menschliche Phantasie beflügelt haben. Daneben finden wir Sagen und Mythen, die ganz auf der Linie der Bibel liegen: Sie erzählen von Göttern, die als Bettler auf die Erde kamen, um die Gastfreundschaft und das Mitgefühl der Menschen zu testen. Sie werden tief enttäuscht und beschließen in ihrem Zorn, die unbarmherzigen Geschöpfe durch eine Flut zu vertilgen. Irgendwo aber gibt es eine Witwe oder einen gütigen alten Mann, die es ver- Die Sintflut, Mailand, S. Maurizio Noach, der Erbauer der Arche Noach, der Erbauer der Arche
20 4/2024 IM LAND DES HERRN dienen, vor dem drohenden Strafgericht gewarnt und gerettet zu werden. – Andere Gelehrte, die sich mit unserem Thema befasst haben, sagen: Die Sintflut-Erzählungen enthalten eine bemerkenswerte Aussage über Gott bzw. das Göttliche. Diese höchste Macht wird in den Fluterzählungen als widersprüchlich und doppeldeutig dargestellt. Der Schöpfer liebt auf der einen Seite seine Schöpfung und seine selbstbewussten Menschenkinder, auf der anderen Seite aber ist er von ihnen irritiert und lehnt sie ab. Anders gesagt: Er will seine Ebenbilder teils vernichten, teils erhalten. Die Flutgeschichten sind also Ausdruck eines innergöttlichen Konfliktes. – Sehr schön erkennen wir diesen Zug in der NoachErzählung. Gott lässt ohne weiteres Tausende von Lebewesen im Wasser umkommen, aber um Noach und seine Sippe ist er rührend besorgt: Er begleitet sie auf ihrem Weg in die Arche, und als sie alle (zusammen mit den Tieren) drinnen sind, sperrt er eigenhändig die Türe zu, damit ihnen keine Macht der Welt schaden kann. – Der Gott Noachs ist also nicht nur ein Richter und Bestrafer, sondern auch ein fürsorglicher Vater. Wie immer man die Fluterzählungen im Einzelnen deutet, sie sind auf jeden Fall nicht nur Geschichten, die vergangene Schuld aufrechnen und sühnen, sondern enthalten auch Theologie, die in die Zukunft gerichtet ist. Es kommt in ihnen immer ein neuer Stammvater vor, der für die Menschheit einen Neuanfang ermöglicht. Noach ist, wie wir einleitend gesagt haben, der „Erste einer neuen Menschheitsfamilie“. Erfinder des Weinbaus Es bleibt noch nachzutragen, was wir weiter oben, bei der zusammenfassenden Darstellung der Noach-Geschichte, ausgespart haben. Noach übersteht nicht nur die Sintflut und bringt nach seiner Rettung dem Schöpfer ein Brandopfer dar. Er wird auch beiläufig zum Erfinder des Weinbaus. Der biblische Text erzählt das ganz schmucklos: „Noach wurde der erste Ackerbauer und pflanzte einen Weinberg. Er trank von dem Wein, wurde davon betrunken und lag entblößt in seinem Zelt ...“ (Gen 9,19f.) – Wenn wir heute von einem Betrunkenen hören oder lesen, dass er sich ungebührlich benimmt, sind wir gleich bereit, ihn moralisch zu beurteilen, bzw. zu verurteilen. Für Noach gilt diese Regel nicht. Er hat sich nicht aus Übermut oder Leichtsinn betrunken, sondern aus Unwissenheit. Er kannte die Wirkung des Weinbaus einfach nicht und wurde von ihr überrascht. An dieser Tatsache wäre nichts Aufregendes (schließlich hat jeder von uns einmal seine ersten Erfahrungen mit dem Alkohol machen müssen), aber der betrunkene und entblößte Noach war für einen seiner Söhne offenbar eine Herausforderung oder Versuchung. Unser Text sagt: „Ham, der Sohn Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und erzählte davon draußen seinen Brüdern. Da nahmen Sem und Jafet einen Überwurf, legten Noach mit Sem, Ham und Jafet unter einem riesigen Weinstock Dom Zwickau, Chorgestühl
4/2024 21 ihn auf ihre Schultern, gingen rückwärts und bedeckten die Blöße ihres Vaters. Sie hatten ihr Gesicht abgewandt, so dass sie die Scham ihres Vaters nicht sahen. Als Noach aus dem Rausch erwachte und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte, sagte er: Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern ...“ – Sem und Jafet aber wurden von Noach gesegnet. – Und dann schließt die Noach-Geschichte mit der Bemerkung: „Noach lebte nach der Flut noch dreihundertfünfzig Jahre. Die gesamte Lebenszeit Noachs betrug neunhundertfünfzig Jahre. Dann starb er“ (vgl. Gen 9,18–29). Zur Auslegung Der eben zitierte Textabschnitt verbindet sich nicht ohne weiteres mit der Sintflutgeschichte. In dieser sind z.B. die Söhne Noachs verheiratet, hier aber leben sie offenbar noch unverheiratet mit dem Vater in einem Zelt. Man hat versucht, unsere Episode zeitlich vor die Sintflut zu versetzen. Dann wäre aber (was nur schwer denkbar ist) der verfluchte Ham mit in der Arche gewesen. – Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass der Sammler und Redakteur unserer Erzählung keinen besonderen Wert darauf gelegt hat, alle geschilderten Details genau aufeinander abzustimmen. Die einleitend schon erwähnte Verheißung, die im Namen „Noach“ mitschwingt („er wird Ruhe und Trost spenden“) erfüllt sich in dem Augenblick, als Noach nach der Flut den Weinbau „erfindet“. Im alten Israel galt der Weinstock als das edelste aller Gewächse. Einen Weinberg zu besitzen, seine Früchte zu genießen und im Frieden seines Schattens ruhen zu dürfen, war für einen Juden der Inbegriff eines glücklichen und gesegneten Daseins. – Noach allerdings muss als Erfinders des Weinbaus das Geheimnis der wunderbaren Früchte erst erkunden, und er wird zunächst von der Kraft des unbekannten Getränkes überwältigt. Dass er in seinem Rausch von seinem Sohn Ham irgendwie sexuell attackiert wird (unser Text spricht zwar nur vom „Anschauen“ des entblößten Vaters, Noach aber ist anschließend empört über das, „was ihm sein jüngster Sohn angetan [!] hat“, könnte mit sehr urtümlichen Vorstellungen zusammenhängen). Es gibt in der antiken Welt Mythen über Weinbau und Fruchtbarkeit, in denen von Königen erzählt wird, die rituell entmannt, bzw. getötet und zerstückelt werden müssen. Denn nur durch dieses Opfer kann die weitere Fruchtbarkeit der Erde garantiert werden. Vielleicht haben solche Ideen auf unseren Text eingewirkt. Etwas klarer sehen wir, worum es in der Verfluchung Hams bzw. Kanaans geht. Die Leute von Kanaan galten den Israeliten, die deren Land erobert und dort Wohnung genommen hatten, als sexuell besonders verderbt. So gab es bei ihnen z.B. die Einrichtung der kultischen Prostitution. Die Juden waren der Meinung: Die Bewohner von Kanaan sind Nachfahren des unkeuschen Ham, und weil von Noach her schon immer ein Fluch auf ihnen liegt, können wir sie leicht unterwerfen. Denn wir sind Nachkommen des keuschen Sem, dem Noach die Herrschaft über Ham zugesagt hat. (Unter den Nachkommen des ebenfalls keuschen Jafet hat man wohl die Philister zu verstehen, mit denen sich Israel den Besitz des Gelobten Landes teilen musste.) Noach und die Sintflut in moderner Sicht In der katholischen Messliturgie begegnet uns Noach am ersten Fastensonntag des Lesejahres B, Antike Weinpresse im Nationalpark Avdat, Negev Noach, der Erbauer der Arche Noach, der Erbauer der Arche
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