Franziskaner - Winter 2021

10 franziskaner 4|2021 sinn.los.frei? © alea horst Ich will vor mir selbst bestehen können Z u Silvester 2015 stellte ich mir die Frage, was ich im nächsten Jahr erreichen möchte und wie es mit mir weitergehen soll. Ich hatte mittlerweile das geschafft, was ich mir vorgenommen hatte, war »GermanWedding Master« geworden, und meine Selbstständigkeit als Fotografin lief sehr gut.Was nun? Ich fragte mich, wie ich auf mein Leben zurückblicken möchte, wenn ich alt bin, und was ich mir selbst für 2016 raten würde, wenn ich noch mal Teenager wäre. Die Beschäftigung mit diesen beiden Fragen hat für mich viel Klarheit gebracht. Ich erinnerte mich an meine Großeltern, die nicht aktiv gegen die Ungerechtigkeit im ZweitenWeltkrieg vorgegangen waren. Und dass ich mir schon als Jugendliche vorgenommen hatte, dass meine Kinder und Kindeskinder mich nicht mal fragen sollten, warum ich nichts getan habe gegen Umweltverschmutzung, Armut, Ungleichheit … Noch am gleichen Abend buchte ich einen Flug auf die griechische Insel Lesbos, um bei den dort gestrandeten Flüchtlingen Nothilfe zu leisten. Damals wusste ich nicht, dass das mein Leben für immer verändern würde … Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich auf Menschen mit Todesangst traf; eiskalte, nasse und unterkühlte Kinder trug; im Gefängnis von Moria Kleiderspenden sortierte und trotzdem zu wenig hatte für all die nassen Menschen, die die Überfahrt übers Mittelmeer mit dem Schlauchboot gewagt hatten. Ich musste Familien zusammenpferchen wie die Tiere, damit so viele Menschen wie möglich in den Containern schlafen konnten und nicht draußen liegen mussten. Wenn die Kapazität erreicht war, kontrollierte ich im Januar draußen auf dem Betonboden schlafende Kinder, weil in der Woche vorher ein Kind erfroren war. Noch heute erinnere ich mich an die Begegnungen, höre dasWeinen der Menschen und rieche die Mischung aus Angstschweiß, Urin und Salzwasser … Niemals zuvor hatte sich meine Arbeit so sinnvoll angefühlt. Ich arbeitete wie in Trance, funktionierte 18 Stunden am Stück, half, wo ich konnte. Bei der Abreise am Gate kamen Nachrichten von neu ankommenden Booten; die Heimreise fiel nie so schwer wie von dort.Wieder zu Hause angekommen wurde mir klar, dass ich nicht mehr in mein normales Leben zurückkonnte und -wollte. Seither habe ich über 25 Länder besucht und unzählige soziale Projekte vor Ort unterstützt. Als Fotografin, Menschenrechtsaktivistin und Nothelferin möchte ich eine Brücke bauen zwischen Betroffenen und Menschen, die Alea Horst (r.) mit anderen Freiwilligen im Januar 2016 wenige Tage nach ihrer Ankunft im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos Alea Horst, Hochzeitsfotografin aus Reckenroth Ihre Bilder helfen, die Situation der notleidenden Menschen und ungerechte

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