Franziskaner - Sommer 2022

3 franziskaner 2|2022 Quadratur des Kreises »Wir sind heute in einer anderenWelt aufgewacht.« Annalena Baerbock hat das gesagt am Morgen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Dieser Satz könnte vielleicht unsere gesamte Epoche kennzeichnen.Wir erleben in relativ kurzer Zeit rasante Umstürze und Veränderungen auf ganz unterschiedlichen Gebieten. Auch das haben wir ja inzwischen lernen müssen: DieWelt wird wohl niemals wieder so sein wie vor der Corona-Krise. Veränderungen verunsichern oft und können Angst machen.Was bleibt, wenn nichts bleibt? Kann es tatsächlich sein, dass das, was bis gestern galt, heute plötzlich wertlos ist? Wir brauchen doch auch Kontinuität und Verlässlichkeit. Zugleich sind viele Veränderungen dringend nötig. Mancher Reformstau schreit geradezu nach Innovation. Lebewesen sind ausgestorben, weil sie unfähig waren, sich an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen, oder auch weil ihnen dazu zu wenig Zeit blieb. Das Zusammenspiel von Beharren undWandel ist auch ein sehr persönliches Thema. Leben meint immer Wachstum und Reifung, ist ein Prozess, nichts Statisches.Wer sich der Entwicklung verweigert, erstarrt. Andererseits soll sich durch alle Veränderungen auch etwas durchtragen. Ich verliere meine Identität, wenn ich mich fortwährend neu erfinden muss oder mich nur von wechselnden Außenimpulsen fremdbestimmen lasse. Bleiben und sich verändern sind keine Alternativen. Sie gehören zusammen. Dafür steht der Geist Gottes. Er ist so etwas wie die spirituelle Quadratur des Kreises: Er erinnert und bindet an Jesus, lässt in ihm bleiben, wahrt die Treue zum Evangelium. Zugleich sprengt er bisherige Grenzen, sendet in unbekannteWelten, öffnet für neue Kulturen und spricht in vielen Sprachen. Der Heilige Geist garantiert Kontinuität und Treue ebenso wie Veränderung und Fortschritt. Da sind dann plötzlich »konservativ« und »progressiv« keine Gegensätze mehr, die Extreme fallen ineinander. Es ist im wahrsten Sinn desWortes »spannend«, sich vom Geist Gottes inspirieren zu lassen.Was dies konkret für den persönlichen Glauben und ein Engagement in Gesellschaft, Politik und Kirche bedeutet, darüber möchten wir mit Ihnen in dieser neuen Ausgabe unserer Zeitschrift ins Gespräch kommen. Vorsicht:Wer sich auf den Geist Gottes einlässt, muss mit Überraschungen rechnen! Eines aber ist sicher: Er bleibt lebendig. Cornelius Bohl OFM (Provinzialminister) © fernando meloni – unsplash.com

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