Franziskaner - Herbst 2022

Franziskaner Herbst 2022 Weitere Themen: Angst vor Inflation Ein deutsches Trauma +++ Myanmar: Ein Augenzeuge berichtet vor der UN +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de magazin für franziskanische kultur und lebensart Macht Zwischen Gestaltungsmöglichkeit und Zerstörungspotenzial

4 Nachrichten und Anregungen 6 Macht • Vom guten Umgang mit der Macht • Bei euch soll es nicht so sein • Bei uns ist es doch auch nicht anders! • Missbrauch von Macht • Synodaler Weg und der Versuch, anders mit Macht umzugehen 21 Bericht vom Provinzkapitel 23 Spiritualität Geistlicher Wegbegleiter 27 Fratelli tutti 28 Jüdisch/Christlich Brit Mila und Taufe 30 Franciscans International Myanmar 34 Aktuelle Debatte Inflation 39 Franziskaner aktuell 40 Franziskanische Familie Vivere – Leben aus franziskanischer Inspiration 42 Franziskaner werden Joaquin Garay OFM 44 Kursprogramm 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Myanmar Krieg und brutale Unterdrückung gegen die eigene Bevölkerung: Von der Situation in Myanmar erfährt dieWelt meist wenig. FI ermöglichte es einem Augenzeugen, vor der UN über die Geschehnisse in seinem Land, die Hintergründe und die internationalen Unterstützer der Militärs zu berichten. Seite 30 Angst vor Inflation Die Preise steigen rasant. Viele fürchten, Miete, Energie und Lebensmittel bald nicht mehr bezahlen zu können.Welche Maßnahmen gegen die Inflation können helfen, welche eher nicht? Dazu befragten wir den Volkswirtschaftler Professor Dr. Ulrich Klüh. Seite 34 Inhalt Der »Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100% Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 089 2 11 26-1 50, Fax: 089 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBADE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank links © everett collection - picture-alliance.de | rechts © zumapress.com – picture-alliance.com

3 franziskaner 3|2022 Liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle hat Sie seit der Frühjahrsausgabe der Zeitschrift FRANZISKANER im Jahr 2012 der Leiter unserer Ordensprovinz Cornelius Bohl begrüßt und in das jeweilige Titelthema eingeführt. Gut zehn Jahre stand er in der Verantwortung als Provinzialminister der Deutschen Franziskanerprovinz. Mit der Wahl von Markus Fuhrmann zum neuem Leitungsverantwortlichen auf dem Provinzkapitel in der Woche nach Pfingsten hat Bruder Cornelius das Amt an seinen Nachfolger weitergegeben. Ich möchte Dir, Cornelius, an dieser Stelle im Namen der Provinz, der Redaktion und unserer Leserinnen und Leser von Herzen danken für Deine inspirierenden Beiträge. Sie waren mehr als ein freundliches Willkommen. Dein Editorial war stets ein Neugierigmachen auf das, was auf den kommenden Seiten zu erwarten war, und ein inhaltliches Hineinführen in das, was wir aus unterschiedlichen Perspektiven an Themen entfaltet haben. Mit Deiner Gabe der Kunst des Wortes verstehst Du es, auch komplexe Sachverhalte in gut verständlicher Weise nahezubringen und Interesse zu wecken für unseren franziskanischen Zugang, sei es für ein kirchlich-spirituelles, sei es für ein gesellschaftlich-politisches Thema. Danke für 42 Editorials! Der Wechsel im Amt des Provinzialministers passt zur Thematik dieses Heftes. Er ist in unserer Ordensgemeinschaft fest verankert. Eine Begrenzung der Amtszeit trägt dazu bei, Machtmissbrauch zu verhindern. In einem Positionspapier des Provinzkapitels haben wir formuliert, dass wir uns diesen Umgang mit Macht als Franziskaner auch für die Gesamtkirche wünschen. In dieser Ausgabe können Sie mehr über unsere Stellungnahme erfahren, die wir unter das Motto »Kirche sein in der Freiheit der Kinder Gottes« gestellt haben. Macht ermächtigt zum Handeln. Macht macht etwas – mit dem, der sie hat, und mit denen, die von ihr profitieren oder unter ihr leiden. Denken Sie mit uns nach über die Ambivalenz der Macht, gerade auch innerhalb kirchlicher Strukturen, über All-Macht und Ohn-Macht, über Ermächtigung und Entmächtigung, über Voll-Macht und Macht-Missbrauch. Eine anregende Lektüre wünscht Stefan Federbusch OFM, Provinzialvikar und Redaktionsleiter Vielen Dank an Cornelius Bohl für 42 Editorials in dieser Zeitschrift

4 FRANZISKANER 3|2022 © oben: tunedin – stock.adobe.com Franziskanerkloster Vierzehnheiligen In diesem Jahr feiern die Franziskaner in Vierzehnheiligen in der Nähe von Bamberg Jubiläum. Eine gute Gelegenheit, um die wunderbare Basilika zu besuchen, denn es gibt allen Grund zu feiern: Vor 250 Jahren wurde die Kirche geweiht, vor 125 Jahren in den Rang einer päpstlichen Basilika erhoben. Der hier abgebildete wunderbare Privatgarten kann nicht besucht werden, aber der Pilgerweg zur Wallfahrtskirche und die Fernsicht entschädigen vollkommen. Seit 1839 betreuen die Franziskaner dieWallfahrt, zuvor waren Zisterzienser dafür zuständig. Heute leben insgesamt acht Brüder oben auf dem Berg. DieWebsite des Klosters bietet umfangreiche Informationen. Öffnungszeiten der Basilika imWinter (1. Okt.–30. Apr.) von 7.30–17.00 Uhr Führungsanfragen +4995 71 9508-0 >> www.vierzehnheiligen.de Tauwetter Die aktuelle »Tauwetter«-Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema »ZEIT für die Zeit« Wir Menschen leben in Raum und Zeit. Anders können wir uns nicht verstehen. Erst die »Ewigkeit« – was auch immer das sein mag – wird uns diesen Dimensionen entbinden. Die Zeitschrift kann kostenfrei unter tauwetter@franziskaner.de bestellt werden. Download-Alternative: 33 www.franziskaner.de/tauwetter Klosterorte entdecken

5 franziskaner 3|2022 © oben: maxfrost – stock.adobe.com | unten: angela kröll 25. –27. November 2022 Heilende Klänge – heilende Gesänge Klänge undGesänge können heilendeWirkung auf Körper und Geist haben. An diesemWochenende sollen die Stimmen gepflegt und zumKlingen gebracht werden. Bei dem Workshop wird unter anderem mit verschieden großen tibetischen Klangschalen gearbeitet. In der Meditation kann ihre belebendeWirkung erfahren werden. Referent:innen Kathleen Fritz und Helmut Schlegel OFM Ort Exerzitienhaus Hofheim Kursübersicht auf Seite 44 Einer unserer Kurse Franziskaner Mission Die Ausgabe 3/2022 der »Franziskaner Mission« ist erschienen. Sie kann kostenfrei bestellt werden: in Dortmund, E-Mail: info@ franziskanermission.de oder in München, E-Mail: muenchen@ franziskanermission.de Katja Kipping in der Suppenküche der Franziskaner Berlin • Zum wiederholten Male war die Suppenküche der Franziskaner in Berlin-Pankow der gastgebende Ort für ein Werkstattgespräch der Berliner Caritas. Caritasdirektorin Prof. Ulrike Kostka sprachmit der Sozialsenatorin und früheren Vorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping, über die für denHerbst drohendeVerschärfung der Lage für armeMenschen. Die Suppenküche als Ort, an demtäglichHunderteMenschen gesättigt werden, bot dabei den bestmöglichen Rahmen für das sehr engagierte und konstruktive Gespräch mit dem zahlreich anwesenden Publikum. Die Berliner Sozialsenatorin und die Caritasdirektorin befürchten eine neue »Armutsspirale« imWinter angesichts stark steigender Energie- und Lebensmittelpreise. Politik und Gesellschaft müssten raschgegensteuern, forderten sie, uminBerlindie schlimmstenAuswirkungender Armut imWinter zu vermeiden. Die Linken-Politikerin schlug vor, gemeinsamals Stadtgesellschaft eineArt »Netzwerk derWärme« zu stiften, wo man sich austauschen und etwa über Hilfeleistungen informieren könnte. Dazu könnten sich Stadtteilzentren, Suppenküchen sowie kulturelleOrte zusammenschließen. Auchdie Religionsgemeinschaften sollten mit ins Boot. Erzbischof Heiner Koch und die Franziskaner haben dazu bereits ihre Zustimmung signalisiert. Der Winter könne in Erinnerung bleiben zu der Zeit, »wo man nicht nur gefrorenhat, sondernwoman auch zusammengerückt ist«. 33 www.franziskaner.de Stefan Federbusch Von der Zärtlichkeit Gottes Eine Theologie der Berührung Echter-Verlag, September 2022, 104 Seiten, 9,90 Euro, ISBN 978-3-429-05805-0 Neuer INFAG-Vorstand gewählt Ellwangen• Auf derMitgliederversammlungder Interfranziskanischen Arbeitsgemeinschaft (INFAG) wurde Sr. EdithMariaMagar, GeneraloberinderWaldbreitbacher Franziskanerinnen, zur neuenVorsitzenden für den Bereich Deutschland, Luxemburg, Belgien gewählt. In den neuen Vorstand wurden des Weiteren gewählt: Sr. Anette Chmielorz (Franziskusschwester der Familienpflege Essen), Br. Markus Fuhrmann (Provinzialminister der Deutschen Franziskanerprovinz), Sr. Tobia Hartmann (Franziskanerin von Reute) sowie Regina Postner (Ordo Franciscanus Saecularis).

6 franziskaner 3|2022 Vom guten Umgang mit Das Schwert galt nicht nur in antiken und mittelalterlichen Kulturen als Symbol der Macht. In der Sage von König Artus heißt es, dass nur der wahre und gerechte Herrscher das Schwert aus dem Stein herausziehen könne. Nur der redliche Herrscher setzt seine Macht zum Guten ein, statt Zerstörung zu bringen. So weit die Sage, doch wie sieht ein guter Umgang mit Macht heute aus? Thomas Meinhardt

7 franziskaner 3|2022 Das Thema Macht ist in diesen Tagen bedrückend aktuell: Die brutale militärische Machtanwendung wähnten wir – zumindest in unseren Breiten – auf demMüllhaufen der Geschichte. Und die Kehrseite der Macht – die Erfahrung von Ohnmacht und Angst – bezieht sich nicht nur auf den russischenAngriffskrieg gegen dieUkraine. Zu nennen sind auch die Folgen des Krieges, wie die stark steigende Inflation, der drohende Energiemangel imkommendenWinter, die Befürchtung einer Insolvenzwelle bei vielen kleineren und mittleren Unternehmen oder die unterbrochenen industriellen Lieferketten. Stark verunsichernd wirkt auch die nicht endenwollende Covid-19-Pandemie. All dies führt uns die Grenzen des Machbaren vor Augen. Wut und Ohnmachtsgefühle bei den einen und ein »Kopf in den Sand«- oder »Nach mir die Sintflut«-Verhalten bei den anderen lösen die mittlerweile für alle erlebbaren katastrophalen Auswirkungen der Klimaerhitzung aus. Hier wissen wir eigentlich, was jetzt dringend zu tun wäre in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft. Handlungsempfehlungen auch für jede und jeden Einzelnen gibt es genug. Doch gefangen in unseren Gewohnheiten fehlen uns offensichtlichderWilleunddasVermögenendlichadäquat zuhandeln. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass eine aktuelle Umfrage des Instituts Civey im Auftrag des »Spiegel« (16.–23.9. 2022) eine massive Veränderung der Gefühlslage der Deutschen zutage gefördert hat: Negative Gefühlsbeschreibungenwie Unsicherheit (42%), Wut (41%), Kontrollverlust/Machtlosigkeit (33%) oder Hoffnungslosigkeit/Angst (26%) sind in den letzten zwei Jahren und noch einmal in den letzten vier Monaten stark angewachsen. Sie überflügeln die deutlich positiven Emotionen wie Zuversicht (23%), Dankbarkeit (17%) oder gar Freude (7%) umLängen. Ähnliche Befunde lassen sich vermutlich auch in vielen anderen Ländern unseres Globus erheben. Das alles sind keine guten Ausgangspunkte dafür, konstruktive gesellschaftliche und politische Strukturen zu etablieren, in denenMacht benutzt wird, umdasWohl aller zu fördern, und die zudem kontrolliert und zeitlich begrenzt sind. Stattdessen breiten sich autoritäre Machtstrukturen auf unserem Globus aus, die immer weniger demokratisch kontrolliert werden können und zumeist nur demWohle und der Herrschaftssicherung weniger dienen. Auch in den parlamentarischenDemokratienwie aktuell in Schweden und Italien wächst der Anteil der Menschen, die autoritären Führungsfiguren und rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien anhängen. Auch wenn diese offensichtlich keinerlei Lösungsangebote für die komplexen Probleme des 21. Jahrhunderts haben, wünschen sich viele, gegen besseres Wissen, einfache Antworten, die von sogenannten starken Männern und mittlerweile auch Frauen ohne zu viel Rücksichtnahme durchgesetzt werden. Für Christinnen und Christen kommt noch der immer offensichtlicher werdende strukturelle Machtmissbrauch vor allemdurch sexuelle und geistlicheMisshandlung von Kindern und Jugendlichen in den Kirchen hinzu. Was nicht nur einenmassiven Vertrauensverlust vor allemgegenüber der katholischen Kirche zur Folge hat, sondern auch eine fortdauernde Austrittswelle. Schmerzlich tritt an dieser Stelle das berühmte Wort Jesu »Bei euch aber soll es nicht so sein …« in den Sinn. Was es mit dieser Forderung nach einem grundlegend anderen UmgangmitMacht auf sich hat, beleuchtet Andreas Brands OFM in seinem einführenden Beitrag. Ob die franziskanischen Orden anders mit Macht umgehen und welches Beispiel sie für Kirche und Gesellschaft eventuell geben können, berichtet AndreasMurkOFMConv auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen. Franz Richardt OFM wiederum, beschreibt was Geistliche Begleitung sein soll, wo hier die Gefahren des Geistlichen Missbrauchs liegen, und was beachtet werdenmuss. Er zeigt an Beispielen, was ein gelungener und ein missbräuchlicher Umgang mit geistlicher Macht ist. Zum Abschluss der Titelstrecke habenwir zwei Mitglieder des Synodalforums »Macht und Gewaltenteilung in der Kirche …« danach gefragt, welche Schlüsse Bischöfe, Ordensleute und Vertreter:innen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken beim SynodalenWeg inDeutschland ziehen, umeinen besserenUmgang mit Macht in der katholischen Kirche in Deutschland zu etablieren. macht © diy13 – stock.adobe.com

»Bei euch aber soll es nicht so sein!« – Der Satz aus dem Markusevangelium (Mk 10,43) ist vertraut – seine radikalen Konsequenzen werden aber meist verdrängt. Was Jesus seinen Jüngern mitgibt, ist die Aufforderung, den Umgang miteinander grundlegend zu verändern – die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen oder vielleicht besser vom Kopf auf die Füße. Das betrifft insbesondere diejenigen, denenMacht zugesprochen wird, oder die danach gieren, sie zu erhalten. In einer Zeit, die durch und durch geprägt ist von der Frage nachMacht und Machmissbrauch in der Kirche, ist dieses Thema hochaktuell. Eingebettet ist der Satz in eine Jüngergeschichte. Jesus ist mit seinen Freunden auf demWeg, als siemiteinander ins Gespräch kommen und zwei von ihnen einen besonderen Platz erbitten. Und schon kommt das ganze Gebinde der Beziehungen ins Ungleichgewicht. Waren bisher alle Jünger in vergleichbarer Position, nehmen sich jetzt zwei von ihnen heraus, herausgehoben zu werden. Ein bekanntes menschliches Verhalten. Wer von uns könnte die beiden Jünger nicht verstehen. Da hatten sie alle Zelte hinter sich abgebrochen und waren Jesus gefolgt. Dieser hatte schon mehrmals angekündigt, dass bald seine Herrschaft für alle anbrechen wird: so etwas wie eine Neuorganisation von Himmel und Erde – gründlich, allumfassend. Da wollen die beiden Jünger dabei sein. Sie bitten Jesus um die Anerkennung ihres Einsatzes, ihrer Treue und Gefolgschaft. Rechts und links vom Chef zu sitzen, das bedeutet nicht nur Anerkennung, sondern auch Einfluss, Macht, Herrschaft. Da ist man schon wichtig, da hat man schon etwas zu sagen, mitzureden und mitzubestimmen. Das hat was. Jesus scheint demAnsinnen der Jünger auszuweichen. Auf die Bitten seiner zwei Jünger sagt er weder Ja noch Nein. Er fragt erst einmal zurück, ob denn die Jünger wirklich wissen, um was sie da bitten. Ob sie bereit sind, das, was Jesus bevorsteht und auch ihnen bevorstehen wird, durchzustehen. Jesus wird denWeg ans Kreuz gehen. Sind sie dafür gewappnet? Johannes und Jakobus, so die Heiligenerzählungen, sind später den Märtyrertod gestorben. Sie haben also durchgehalten! Und Jesu Antwort? Diese Entscheidung, so sagt er, steht allein Gott zu. Das gehört auch zu den Bedingungen, auf die sich die Jünger einlassenmüssen. Er macht keine Zusage, wer denn nun in Gottes Reich auf die besten Posten gesetzt wird. Indem er so reagiert, verweist er seine Jünger auf den Boden dieser Welt: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein. Sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.« (Mk 10,42–43) ein neues denkmodell Das Prinzip von oben und unten gilt in dieser Welt. Es gilt unter Staaten, und es gilt in den Gesellschaften und im Geschlechterverhältnis. Es gilt in der Kirche ebenso wie in allen Organisationen. Es ist abgesichert durch wirtschaftliche Abhängigkeit und Statussymbole und unter Staaten durch strukturelle (wirtschaftliche) Gewaltverhältnisse. Der Vorteil ist, es funktioniert – nicht immer gut, aber es funktioniert. Der Nachteil ist: Menschen nehmen in diesem System Schaden.Manche drohenherauszufallen. DieAuswirkungen reichen vonmaterieller und seelischerNot bis zumZerbrechenmenschlicher Beziehungen. Manch andere stehen in der Gefahr, sich und andere kaputtzumachen, um nach oben zu kommen. Jesus bietet für den Umgang untereinander Anstöße für ein neues Denkmodell. Er holt seine Jünger mit ihrem Begehren auf den Boden der Welt zurück. Hier ist der Ort, an dem sie sich bewähren und wir uns bewähren sollen. Unser Miteinander, ob im Staat, in der Gesellschaft, in der Kirche oder anderswo, soll auf eine Basis gestellt werden, die Menschen gerecht wird. Der Vollmacht der Jünger wird gleichzeitig ihre eigene Ohnmacht vor Augen gestellt. Macht ist allgegenwärtig. Überall gibt es Machtstrukturen. Unser Leben, unser Alltag, unsere Beziehungen, unsere Arbeit, unsere Kirche sind davon geprägt. Macht, im besten Sinn gebraucht, verliehen und kontrolliert, ist eine positive Kraft. Sie strukturiert, hilft uns zu entwickeln und ist eine der Natur innewohnende Kraft. Mit Andreas Knapp stimme ich ein in den Hymnus über die Macht: Macht macht mir vieles möglich … Macht ist Potenz, Möglichkeit. Macht ist die Fähigkeit zu gestalten. Macht bedeutet ein Vermögen, ein Können, eine Kraft, die bewegt und gestaltet. Wirkmächtig zu sein, ist einer der großenWünsche, Andreas Brands OFM Bei euch soll es nicht 8 franziskaner 3|2022

9 der in vielenMenschen wohnt. Macht in ihrer letzten Dimension öffnet den Raum für das DU, auf den sich das Machthandeln bezieht. was ist macht? Zwei Formen von Macht lassen sich definieren: Zum einen ist sie nach Platon, eine Werdekraft, die allem Sein zugrunde liegt. Was Potenzial besitzt, kann sich entfalten und wachsen, wie eine Pflanze, wie ein Baum. Zumanderen zeigt sichMacht immer in sozialen Bezügen und nimmt durch Kommunikation Einfluss auf das Verhalten eines anderen Menschen. Das Beispiel, das dies am besten verdeutlicht, ist der Einfluss von Eltern auf ihre Kinder. Keine Erziehung geschieht ohneMacht. Das Wort Macht kommt aus dem althochdeutschen mugan und lässt sich auf zwei ähnlich lautende indogermanische Wurzeln zurückführen: 1. mag = kneten, formen und 2. magh = machen im Sinne von können, vermögen, fähig sein. Die erste Wurzel weist auf ein Werkzeug hin. Die zweite Wurzel verweist darauf, dass Menschen, die mit Macht ausgestattet sind, über andere Menschen verfügen können. MaxWeber hat denmodernenMachtbegriff definiert: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.« (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921/22, Kap I, §16) So zu sehen in der aktuellen Politik Russlands gegenüber der Ukraine. »Die Einflussnahme erfolgt mittels möglicher Strafandrohung, wobei auf die Zielpersonen ein unterdrückender Zwang ausgeübt wird, sich zu fügen. Für Personen, die absolute Macht ausüben, ist es nicht erforderlich, ein Kompromiss einzugehen, sollten die Zielpersonen gegensätzliche oder unvereinbare Interessen haben. In diesemFall sind dieweitgehend deckungsgleichen Begriffe Macht und Einfluss voneinander abzugrenzen, mögen die Übergänge auch fließend sein. Die beiden Bedeutungsfelder werden auch als ›Macht über … haben‹ und ›Macht zu tun‹ umschrieben.« (Wikipedia, Macht) Hannah Arendt beschreibt Macht als die Fähigkeit, »sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen miteinander zu handeln«. Ein Staat löst sich auf, wenn er keine Macht wahrnimmt und es deshalb zu einer Situation von Ohnmacht kommt. Es ist die Macht, »welche die öffentliche Sphäre am Leben erhält«, so Hannah Arendt. Politik und Kultur sind nicht denkbar ohne Personen, die Einfluss haben auf den öffentlichen Diskurs. Macht ist nicht grundsätzlich negativ. Für Platon kennzeichnet sie die Fähigkeit, das Gute und Schöne zu wollen. die schattenseite Macht ist ein heißes Eisen, wenn ihr Maß und Mitte fehlen. Nach Aristoteles pervertiert Macht, wenn sie sich von der Sehnsucht nach dem guten Leben für sich selbst und andere losgesagt hat. Dann kommt es zumMachtmissbrauch, wie wir ihn seit zehn Jahren schmerzlich im Raum von Kirche und anderen gesellschaftlichen Gruppen erleben müssen. Damit es nicht zu einer Perversion von Macht kommt, braucht es nach Aristoteles einerseits die Erziehung zur Tugend und zu moralischer Integrität, andererseits bedarf sie einer ständigen Überprüfung oder externen Kontrolle durch einen institutionellen Rahmen. macht macht dir vieles möglich allmacht vermag fast alles liebe aber Ist nicht machbar machtlos stehst du der freiheit des anderen gegenüber solche ohnmacht nur macht für das du empfänglich Andreas Knapp* t so sein … *aus: Andreas Knapp, Tiefer als das Meer. Gedichte zum Glauben, © Echter Verlag,Würzburg, 6. Auflage 2018, S. 12. macht

wie mit macht umgehen? Macht ist überall: in der Politik, auf meiner Arbeitsstelle, im Familiensystem, bei mir selbst. Es gibt kein Leben ohneMachtstrukturen. Die Hauptfrage ist: Wie wirdmit ihr umgegangen? Sie kann machtvoll eingesetzt werden für das Gelingen und Schaffen von Gerechtigkeit und die hehren Ziele der Menschheit. Sie braucht dafür Begleiter: Maß und Mitte, positive Ziele, Wünsche nach Veränderung, Weiterentwicklung. Die Erfahrung zeigt: Macht wird nicht in diesem Sinne eingesetzt. Egoistische Kräfte undMachtsteigerung zuungunsten anderer greifen nach ihr, bemächtigen sich ihrer. Machtmissbrauch wird auf das Schärfste angeprangert – zu Recht. Die aktuellen Debatten beim Synodalen Weg über das Thema Macht und Machtmissbrauch zeigen deutlich, dass es an mindestens zweierlei fehlt: »praktisch« an der Kontrolle von Macht und »moralisch« an der Aneignung des jesuanischen Machtbegriffs. Biblisch gibt es ein Ideal von Macht: Sie wird eingesetzt zum Wohl aller Menschen. Sie ist ein Mittel, mit dem gute Ziele erreicht werden können. Doch auch in der Schöpfung, selbst bei den von Gott ausgewählten Männern und Frauen, gibt es Machtmissbrauch, Ungezügeltes, Gier. Wie kannMacht begrenzt werden? Welche Kontrollinstanzen gibt es dafür? Jesu Bild von Macht zeigt die Umkehrung der Verhältnisse. Seine Perspektive: ZumWohl der Menschen soll sie eingesetzt werden, damit alle in gleicher Weise von ihr profitieren. Aber dann heißt Macht auch Machtbeschränkung, Machtverlust. Das Urbild heißt Dienen. Nur: Dieses Bild widerstrebt dem menschlichen Impuls, Macht für sich allein zu nutzen. Lässt sich lernen, Macht zumWohl derMenschen einzusetzen, oder bleibt das eine Utopie? Was braucht es heute, umMacht zu kanalisieren? Macht rückt neu ins Bewusstsein – jedoch über ihre negativste Seite: denMachtmissbrauch, sexuell wie geistlich, die Frage der Kirche nach Macht, die menschenverachtendeAusübung vonMacht durchkriegstreibendeNationen, die Macht von Menschen über Menschen. Gerade weil diese Seite die Schlagzeilen bestimmt, gilt es, die Realität vonMacht anzuschauen. Es gibt keine Welt ohne Macht. Macht und Machtverhältnisse prägen die Menschheitsgeschichte von Anfang an. Wer Macht hat, kann machen, ist tatkräftig, kann etwas bewirken, trägt Verantwortung, entscheidet. Macht – von ihrer positiven Seite her betrachtet und angewandt – bedeutet Verantwortung für, Fortschritt zu, Fürsorge über. Erst in ihrer Umkehrung bedeutet Macht despotisches Handeln und Tyrannei. Umdieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken, bedarf es zweier Bedingungen: Kontrolle und Begrenzung, zeitlich wie inhaltlich. wissen ist macht Inmeiner Schulzeit kursierte dasWortspiel: »Wissen istMacht. Wir wissen nichts. Macht nichts.« Ein Wortspiel, das auf der sprachlichen Ebene etwas miteinander verbindet, was logisch nichts miteinander zu tun hat. Und dennoch drückt es eine Wahrheit aus, die sich zumindest im ersten Satzteil belegen lässt: Wissen ist Macht. Wer Wissen hat, hat damit die Möglichkeit, dieses Wissen anzuwenden und für seine Zwecke zu nutzen. Ohne Machtverhältnisse geht es nicht in dieser Welt und in diesem Leben. Macht ist mehr oder weniger an allen Formen des menschlichen Zusammenlebens beteiligt und bedingt auf unterschiedliche Weise das Entstehen von Sozialstrukturen. Jede Gesellschaft, jede Gruppe, jedwede Institution lebt davon, dass es Menschen gibt, die machen im Sinne von können und zupacken – und in der Konsequenz auch die Verantwortung für die Resultate übernehmen (sollen). »Macht definiert den Umfang der physischen und psychischenHandlungsmöglichkeiten einer Person oder Personengruppe. Die Nutzung dieser Handlungsmacht ist in positivem wie auch negativem Sinne, bezogen auf deren Auswirkungen, möglich. Bei negativen Auswirkungen und unter Voraussetzung einer bewusst möglichen Entscheidung für diese wird von Machtmissbrauch gesprochen.« (Wikipedia, Macht) christliches ideal Bei euch soll es nicht so sein – ist die alternative Ausübung des »Wie«. Nicht Macht an sich wird von Jesus infrage gestellt, sondern wenn Macht nicht zum Wohle anderer eingesetzt oder wenn sie nicht eingegrenzt wird. Die Machtverhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu waren klar geordnet. Die politische Macht lag bei den Römern. Die religiöse Macht im Judentum, bei den Schriftgelehrten und Pharisäern, bei den Tempeldienern und beim Hohepriester. Wer der Erste sein will, soll der Diener aller sein. Diener – in unserer Zeit veralltäglicht und immer wieder im kirchlichen Sprachgebrauch als Verweis auf den »letzten Platz« herangezogen ist es ein Begriff, der jedoch nicht eingelöst wird. Von daher gibt es einen Widerwillen, ihn zu hören, weil er nicht stimmt. Weil dienen »dienen« heißt und das bedeutet, sich in den Dienst nehmen zu lassen. Stattdessen wurden die Amtsträger Herren über den Glauben anderer Menschen. Richtiger Umgang mit Macht bedeutet, dass sie nicht Selbstzweck ist, sondern denMitmenschen dient. Personen, die mit Machtbefugnissen ausgestattet sind, müssen gegebenenfalls unpopuläre Entscheidungen treffen, um das langfristige Gedeihen der ihnen Anvertrauten zu gewährleisten. Aber was heißt das? Wer beurteilt dies? Wer kontrolliert dies? Fragen, die immer neu gestellt und beantwortet werden müssen. macht macht 10 franziskaner 3|2022

11 franziskaner 3|2022 Moment mal … Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein … Bibel, Einheitsübersetzung, Markusevangelium 10,43 © picasa – stockadobe.com © stefan federbusch

12 franziskaner 3|2022 Bei uns ist es doch auch nicht anders! Andreas Murk OFMConv Jetzt hast du aber Karriere gemacht! Einen Satz, den ich in meiner bald 20-jährigen Ordenslaufbahn schon häufiger gehört habe. Als ich 2011 zum Leiter unseres Bildungshauses gewählt wurde und vier Jahre später zusätzlich zum Guardian, als ich Provinzsekretär wurde und schließlich Provinzialminister oder als ich imMai dieses Jahres den Vorsitz der Deutschen Ordensoberenkonferenz übernahm: Jetzt hast du ordentlich Karriere gemacht! Und wenn von Karriere die Rede ist, dann natürlich immer auch von Ruhm und Ehre, von Einfluss und Macht – von etwas, das wohl irgendwie zu den menschlichen Sehnsüchten gehört. Mein Noviziatsunterricht scheint ganz gut und nachhaltig gewesen zu sein. Denn wenn ich Worte wie Macht und Karriere höre, winke ich nahezu automatisch ab: In der Ordensausbildung wurde uns beigebracht, dass es in der Nachfolge Jesu und zumal in den Fußspuren des heiligen Franziskus nicht um die »Karriere nach oben«, sondern um jene »nach unten« ginge. Jeder Schritt auf der Karriereleiter nach oben ist, franziskanisch betrachtet, irgendwie verdächtig. Zumal über mir nun, da ich Leitungsverantwortung anvertraut bekam, wie ein Damoklesschwert ein christlich-franziskanischer Anspruch steht: Biblisch lässt dieser sich schön mit einer häufig zitierten Paradestelle illustrieren: »Bei euch aber soll es nicht so sein …« (Mk 10,43) Jesus macht hier unmissverständlich klar: »Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.« (Mk 10,43f.) Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass der so schrifttreue Franz vonAssisi versucht, diesen biblischen Anspruch konkret auf seine Gemeinschaft zu übersetzen. Da wird Leitung zeitlich befristet, diewesentlichenDingewerden bei den regelmäßigen Kapitelsversammlungen entschieden. Und in den Amtsbezeichnungen »Guardian« (Wächter) oder »Minister« (Diener) kommt zum Ausdruck, dass es hier nicht um Brüder geht, denen ein hierarchischer Vorrang eingeräumt wird, sondern um Brüder, die an ihre Dienstfunktion jedes Mal erinnert werden sollen, wenn sie mit ihrem Titel angesprochen werden. Was strukturell angelegt ist, bringt seine tatsächliche Relevanz dann im Biografisch-konkreten noch einmal deutlicher zum Ausdruck. Die Minister, so schreibt es Franziskus im 5. Kapitel seiner ersten Regel, sollen sich Franziska Passek OSF (1962–2018) arbeitete von 2006 bis 2016in der Obdachlosenseelsorge in Köln, bei der auch Markus Fuhrmann OFM ab 2010 tätig war. Der Name des Projektes war »Gubbio – Kirche für Menschen auf demWeg« und ist eine Einrichtung des Stadtdekanats im Erzbistum Köln für die Obdachlosenseelsorge © natanael ganter ofm

13 franziskaner 3|2022 hüten, »wegen der Sünde oder dem schlechten Beispiel eines anderen in Verwirrung oder Zorn zu geraten, denn der Teufel will durch die Sünde eines Einzelnen viele verderben. Vielmehr sollen sie, so gut sie können, dem, der gesündigt hat, geistlichen Beistand leisten; denn nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.« Die Oberen, die Mächtigen: Sie sollen nicht herrschen, sondern dienen. Und noch eindrücklicher schreibt es Franziskuswohl einem Minister, der sich in seiner Leitungsnot an den Gründer gewandt hatte, und dann zur Antwort bekommt: »Und daran will ich erkennen, ob du denHerrn undmich, seinen und deinenKnecht, liebst, wenn du Folgendes tust, nämlich: Es darf keinen Bruder auf der Welt geben, mag er auch gesündigt haben, so viel er nur sündigen konnte, der deine Augen gesehen hat und dann von dir fortgehenmüsste ohne deinErbarmen, wenn er Erbarmen sucht. Und sollte er nicht Erbarmen suchen, dann frage du ihn, ob er Erbarmen will. Und würde er danach auch noch tausendmal vor deinen Augen sündigen, liebe ihn mehr als mich, damit du ihn zumHerrn ziehst. Und mit solchen habe immer Erbarmen.« Was von heutigerWarte aus vielleicht allzu sehr nach verklärten franziskanischen Gründungsidealen klingt, versuchen Konstitutionen und Statuten von Schwestern- und Brüdergemeinschaften in heutige Sprache und Praxis zu übersetzen. Für das Ordensleben ganz allgemein hat sich im Jahr 2008 die Ordenskongregation zu Wort gemeldet. In der Instruktion »Der Dienst der Autorität und der Gehorsam« heißt es im Abschnitt 12: »Die zum Dienst der Autorität bestellte Person muss wissen, dass sie diesen nur erfüllen kann, wenn sie sich selbst zuerst auf jene Pilgerschaft begibt, die zur ernsthaften und aufrichtigen Suche nach Gottes Willen führt. (…) Wer Autorität innehat, muss so handeln, dass die Mitbrüder oder Mitschwestern erkennen können, dass er, wenn er befiehlt, dies einzig tut, umGott zu gehorchen.« Damit wird der Ausübung einer falsch verstandenenMacht ein eindeutiger Riegel vorgeschoben. Die vatikanische Behörde unterstreicht, dass das Befehlen und das Gehorchen gegenseitig aufeinander verwiesen sind: »Im Bestreben, den Willen Gottes zu tun, sind Autorität und Gehorsam also keine voneinander verschiedenen oder gar entgegengesetzten Realitäten, sondern zwei Dimensionen einer Wirklichkeit, die im Evangelium fußt, ein und desselben christlichen Geheimnisses.« (ebenda, Nr. 12) Ein solches Konzept von Leitung und Macht klingt gut. Da ist Karrieredenken außen vor. Es geht nicht um herrschen und beherrschen, nicht um blinden Gehorsam oder eine willenlose Existenz, sondern um das Miteinander Hören auf das, was Gott in konkreten Situationen des Lebens von uns will – und was er von uns will zu unseremGlück, bei aller Unsicherheit, ob man den göttlichen Willen je erfassen kann. Und tatsächlich: Wenn ich auf mein Ordensleben zurückblicke, dann fallenmir viele Situationen ein, wo wir in Gemeinschaft um eine gute und vielleicht richtige Entscheidung miteinander gerungen haben. Das mag eine Weile gedauert haben, da mögen Lieblingsideen ordentlich abgeschliffen worden sein, aber am Ende steht nicht mehr nur ein Einzelmensch mit seiner Idee hinter einer Entscheidung, sondern eine Gemeinschaft mit ihrer ganzen Kraft. Was mit einem anfing, das ist unseres geworden. Und es hat die Chance, auch unseres zu bleiben, selbst wenn die damaligen Verantwortungsträger längst nicht mehr an der Macht sind. Freilich: Ein Konzept, das gut klingt und das hier und da funktioniert und vielleicht sogar Vorzeigecharakter hat, ist nicht automatisch ein Selbstläufer. Einfaches Beispiel: Die Amtszeiten von franziskanischen Hausoberen sind begrenzt. Vielleicht sind ein, zwei Wiederwahlen möglich, doch dann ist Schluss. Weil es aber in der Wirklichkeit eben Brüder gibt, die Hausobere sein »müssen«, und solche, die partout keine sein wollen oder können, wird ein Bruder eben im nächsten Kloster Guardian – und steht doch mitunter sein halbes Ordensleben lang an der Spitze. Also: Was heute gern der Kirche als Exportschlager des Ordenslebens verkauft wird – die Begrenzung von Amtszeiten –, muss nicht automatisch und überall funktionieren, und manchmal ist es auch frommer Etikettenschwindel. Vor wenigen Monaten hat Papst Franziskus – endlich und nach langem Drängen – die Hürden deutlich niedriger gesetzt: Laienbrüder, also Ordensmitglieder ohne Priesterweihe, können nun sehr viel einfacher zum Guardian Andreas Murk OFMConv (Mitte), Provinzial der Deutschen Provinz der Franziskaner-Minoriten und Vorsitzender der Deutschen Ordensoberenkonferenz, zusammen mit dem Provinzial der deutschen Kapuziner, Helmut Rakowski OFMCap (links), und dem ehemaligen Provinzial der deutschen Franziskaner, Cornelius Bohl OFM (rechts) © tobias rauser

14 franziskaner 3|2022 wird –, lässt mich persönlich einigermaßen skeptisch zurück. Kann »gute«Machtausübung überhaupt funktionieren? Und wenn man den Blick weitet in die Politik hinein, die Wirtschaft, den Sport oder die jüngsten Skandale rund um die Ex-RBB-Intendantin Patricia Schlesinger betrachtet, dannwird die Skepsis an »guter« Macht schnell ziemlich grundsätzlich. Vor Jahren habe ich mit einer Person in Leitungsverantwortung über Macht philosophiert. In Anlehnung an den britischenHistoriker Lord Acton (»Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely«) habe ich darauf insistiert, dass Macht korrumpiert. Ich wollte damit gar nicht werten, sondern einfach nur wahrnehmend beschreiben: Macht verändert. Meine Diskussionspartnerin hat massiv widersprochen. Nein, sie würde dieMacht nicht verändern. Sie wäre dagegen immun. Undmit einemSchlag wurde mir bewusst: Bei der musst du aufpassen! Seit etwas über zehn Jahren bin ich selbst in Leitungsfunktionen unterwegs. Und auch wenn ichmich regelmäßig biblisch-franziskanisch und anmeinen eigenen Idealen überprüfe: Ich bin sicher, dass mich die Macht korrumpiert und dass siemich verändert – nicht immer nur zum Guten. Wahrscheinlich werde ich Brüder finden, die mit meinem Leitungsstil zufrieden sind, – aber ganz bestimmt auch solche, die sich zu wenig eingebunden und wertgeschätzt oder vielleicht sogar übergangen und ungerecht behandelt fühlen. Und manch einer wird in mir wohl auch einen Karrieristen oderMachtmenschen sehen, auchwenn ichmich noch so sehr dagegen wehre. Es fällt mir schwer, eine christlich-franziskanische Vision von Macht zu entwickeln, zumal gerade in diesemAugenblick der Geschichte, wo täglich neueMachtmissbrauchstaten offenbar werden. Ich behelfe mich mit einer ordentlichen Portion Skepsis: denen gegenüber, denen Macht übertragen ist, ganz gleich in welchem Bereich – und auch mir selbst gegenüber. Mein Schweizer Mitbruder Josef Imbach, dem2002 in einem undurchsichtigen Verfahren »wegen seiner Lehrtätigkeit imAllgemeinen« ein weltweites Lehrverbot erteilt worden war, hat in seinem 2005 erschienenen Buch über Macht in der Kirche die Hoffnung ausgedrückt, »dass dieMachthaber irgendwann doch noch begreifen, dass sie – im eigentlichen Wortsinn – Dienst-Boten sind«. Es ist nun fast 20 Jahre später. Die Hoffnung hat ihren Anlass noch nicht verloren. Und vielleicht kann man eines Tages dann tatsächlich behaupten und alltäglich erfahren, dass es bei uns anders ist. macht macht Buchmalerei um 1260: hl. Elisabeth von Thüringen wird von ihrem Beichtvater Konrad von Marburg mit einer Rute gegeißelt gewählt werden, und unter gewissen Bedingungen auch das Amt des Provinzialministers übernehmen. In einemOrden, dessen Gründer so viel Wert darauf gelegt hat, dass alle gleichberechtigt Brüder sind, ein längst überfälliger Schritt zurück zu den Ursprüngen. Allerdings ganz bestimmt kein Allheilmittel, dass die Macht nun gerechter verteilt wäre oder besser ausgeübt würde. Auf kirchliche Strukturveränderungen heute übertragen: Nur weil ein Hauptabteilungsleiter kein Domkapitular mehr sein muss oder eine Amtschefin große Aufgabenbereiche eines Generalvikars übernimmt, ist die Machtausübung nicht plötzlich biblisch inspiriert oder entspricht gar einem modernen demokratischen Verständnis. Was in den letzten Jahren an kirchlichem Machtmissbrauch ans Licht gekommen ist – immer noch kommt undwohl auch noch länger kommen © akg-images – picture-alliance.de

Geistlicher Machtmissbrauch ZumWesen der Geistlichen Begleitung Nach christlicher Überzeugung lebt in jedemMenschen eine Idee von Gott her, die diesen Menschen einmalig und unverwechselbar macht und ihn mit unantastbarer Würde ausstattet. Es ist der »göttliche Funken im Menschen« (Meister Eckhart), »die ihm innewohnende Gnade« (Wüstenväter), »der Geist Gottes« (Neues Testament), mit dem er in Taufe und Firmung bleibend begabt wird. Dieser Geist Gottes ist der eigentliche Geistliche Begleiter des Menschen. Er hilft demMenschen, seinwahres Selbst zu erkennen und in diesem Prozess über sich selbst hinauszuwachsen. Um in diesem Wachstumsprozess den Anruf Gottes zu erkennen und die Geister der unterschiedlichen Stimmen zu unterscheiden, ist es hilfreich, sich im Spiegel eines Geistlichen Begleiters zu vergewissern, ob der gewollte Weg der richtige ist und was sinnvolle Schritte sein können, dem Ruf Gottes zu folgen. Die wesentliche Aufgabe der Geistlichen Begleitung ist es, zuzuhören und im gemeinsamen Hören auf die Eingebungen des Geistes Gottes denWegsuchenden darin zu begleiten, die Kraft seiner Entwicklungsmöglichkeiten zu entdecken. Auf Dauer kann der Mensch nur wollen, was ihn echt macht und mit sich selbst identisch werden lässt. Deswegen darf die Geistliche Begleitung »gut-gläubig« sein. Das heißt, sie darf darauf vertrauen, dass Gottes Geist im suchenden Menschen wirkt, dass die »innere Gnade« das Ihre tut. Diese Reifung und Erkenntnis, auf dem richtigen Weg zu sein, verspürt der Mensch als »Tröstung« (Ignatius), als stille stärkende Kraft. Das, was von Gott kommt und sich zuinnerst mit den Talenten und Erfahrungen des Menschen verbindet, schafft im Menschen eine Kraft, die sich entfalten will. Es ist das Fundament, auf demdie Sehnsucht aufruht, sein Leben zu ordnen und in das »Mehr« des Lebens voranzuschreiten. Zuallererst ist für jede Geistliche Begleitung wichtig zu realisieren, dass wir nie einen direkten Zugang zu Gott haben. Deswegen sprach Karl Rahner von dem »Geheimnis, das wir Gott nennen«. Gott ist immer größer und anders, als wir denken und aussagen können. Der Mensch mag »Gott« ahnungsweise »als überwältigende Fülle, als sich entziehendes Geheimnis oder als forderndenWillen« (Bernhard Langemeyer) erleben. Und dennoch: Gott ist immer auch größer, tiefer, anders, als diese Annäherungsversuche nahelegen. machtmissbrauch Abgründe tun sich auf, wenn Geistliche Begleiter glauben und beanspruchen, anderenMenschen sagen zu können, was Gott von ihnen will. Deswegen ist Machtmissbrauch in der Geistlichen Begleitung alles, was die Autonomie des anderen, seine spirituelle und geistliche Entwicklung einschränkt. In der Clearing-Gruppe zum Geistlichen Machtmissbrauch, der ich imBistumOsnabrück angehöre und die der Aufarbeitung des Geistlichen Machtmissbrauchs dient, haben wir uns auf folgende Definition für unsere Arbeit verständigt: Geistlicher Machtmissbrauch besteht in »Handlungen, die als spirituelle Manipulation oder willensbeeinflussende Einflussnahme andereMenschen in ihrer Suche nach geistlicher Orientierung unterdrücken oder ausnutzen, um sie für eigene Zwecke oder Ziele gefügig oder empfänglich zu machen. Dabei werden religiöse Werte und Symbole, ethische Begriffe oder theologische Ansätze zur Untermauerung der eigenen Sichtweise oder eigenen Machtposition eingesetzt, entstellt, verurteilt, emotionale Abhängigkeiten geschaffen, Drucksituationen aufgebaut und damit direkt oder auch indirekt auf die freie Entscheidung des anderen oder dessen Lebensführung Einfluss genommen.« Da die begleitete Person »Gott« näherkommen möchte und ihr Leben mehr nach demWillen Gottes ausrichten möchte, ist es für die Geistlichen Begleiter wichtig, im Gespräch über »Gott« äußerst achtsam zu sein. begleitung durch den heiligen franziskus Zwei Beispiele aus der franziskanischen Tradition können diese Überlegungen erhellen: Franziskus ist mit seinem Bruder Leo unterwegs. AmEnde des Gesprächs sagt er ihm: »Alle Worte, die wir auf demWeg gesprochen haben, fasse ich kurz in dieses Wort und diesen Rat, und danach ist es nicht mehr Franz Richardt OFM 15 franziskaner 3|2022

16 franziskaner 3|2022 Franz Richardt OFM war 18 Jahre Geistlicher Direktor der Bildungsstätte Haus Ohrbeck. Heute lebt und arbeitet er weiter in Ohrbeck bei Osnabrück. nötig, wegen eines Rates zu mir zu kommen, weil ich dir so rate: Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Gott, dem Herrn, zu gefallen und seinen Fußspuren und seiner Armut zu folgen, so tue es mit dem Segen Gottes, des Herrn, und mit dem Gehorsam gegen mich. Und wenn es dir um deiner Seele oder deines sonstigen Trostes willen notwendig ist und du zu mir zurückkommen willst, so komm.« (Berg/ Lehmann, 2009, 107) Das ist ein Zeugnis Geistlicher Begleitung, das darauf vertraut, dass der Begleitete seinenWeg zu Gott finden wird, und gleichzeitig ist es ein Zeugnis dafür, dem anderen völlige Freiheit zu lassen. missbrauch der heiligen elisabeth Ein nicht gelungenes Beispiel haben wir in der Begleitung der heiligen Elisabeth von Thüringen durch den Geistlichen Konrad von Marburg. Konrad war mit Zustimmung der päpstlichen Kurie zum Geistlichen Begleiter der heiligen Elisabeth eingesetzt worden. Dieser Mann mit einem düster-strengen Rigorismus verschrieb sich dieser Aufgabe zumTeil mit blutigemErnst. Er wollte Elisabeth, die von sich aus tief frommwar, mit allenMitteln zu einemHöchstmaß von Frömmigkeit führen. Nachdem ihr Mann beim fünften Kreuzzug zu Tode gekommen war, wurde Konrad zumkirchlichen und rechtlichen Vormund der zwanzigjährigen Elisabeth mit kompletter Verfügungsgewalt über all ihre Belange und ihren Besitz. Er verlangte ihr ein Gelübde ab, das sie zu unbedingtem und uneingeschränktem Gehorsam ihm gegenüber verpflichtete. Er unterwarf Elisabeth einer strengen Askese, kontrollierte ihre Essgewohnheiten, verweigerte ihr das Gelübde der Armut, zwang sie zur Lossagung von ihren Kindern, zur Trennung von ihren Vertrauten Guda und Isentrud von Hörselgau und strafte sie mehrfach hart, um ihren Willen zu brechen. Ihre bisherigen Vertrauten Guda und Isentrud von Hörselgau durften nach ihrer Umsiedlung nach Marburg nicht mehr mit ihr zusammenleben. ImHeiligsprechungsverfahren äußerten diese: »Diese Anordnung traf Magister Konrad aber aus wohlgemeintemEifer und mit Absicht. Er fürchtete nämlich, wir würdenmit ihr über ihren früheren Glanz sprechen, und sie könnte dadurch in Versuchung geraten und ihm nachtrauern. Um sie zur Anhänglichkeit zu Gott allein zu führen, entzog er ihr jeglichen menschlichen Trost, den sie aus unserer Nähe hätte schöpfen können.« M. Werner 1981) Man könnte Konrad seine Verantwortung zugutehalten, Elisabeth vor dem Zugriff ihrer Verwandten auf ihr Erbe zu bewahren. Vielleicht stand auch die Absicht dahinter, das Ideal der Frömmigkeit, die sich imDienst amNächsten verzehrte, in der politischen Führungselite des Reiches salonfähig zu machen. Dennoch: Diese und viele andere Beispiele belegen den Geistlichen Missbrauch. Es geht aus heutiger Sicht nicht an, zugleich Vormund, Begleiter und Beichtvater zu sein. Es geht nicht an, Machtmittel, Strafen, körperliche Züchtigungen anzuwenden, um die zu begleitende Person zur Vollkommenheit führen zu wollen. Nur sie selbst kann diesenWeg suchen und gehen. Geistliche Begleitung darf sich nicht mit wirtschaftlichen Machtinteressen verbinden, selbst wenn dies aus guter Absicht geschieht. Sie muss frei und unabhängig bleiben. macht macht macht

17 franziskaner 3|2022 Teilung der Macht Selbstverständlich für die Gesellschaft – revolutionär für die katholische Kirche Die schockierenden Ergebnisse der MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche führten im Frühjahr 2019 zur Vereinbarung eines gemeinsamen »SynodalenWeges« durch die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Im Forum 1, das von Dr. Claudia Lücking-Michel und Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck geleitet wird, standen die Themen »Macht, Partizipation und Teilhabe« imMittelpunkt. Es ging darum, Beschlussvorlagen zu den zentralen strukturellen Veränderungen der katholischen Kirche in Deutschland vorzubereiten. Hierüber sprach unser Redakteur Thomas Meinhardt Anfang September mit Frau Dr. Lücking-Michel. I nterview und Bearbeitung Thomas Meinhardt © maximilian von lachner – synodaler weg

18 franziskaner 3|2022 Am 21. Juli wurde eine Erklärung aus dem Vatikan zum Synodalen Weg in Deutschland veröffentlicht, die Bischöfe und Laien ausdrücklich warnt, eigenmächtig Reformen zu beschließen. Was sagt dieses vatikanische Schreiben und die Art undWeise seiner Veröffentlichung überMacht undUmgangmitMacht in der katholischen Kirche aus? Lücking-Michel: Sie legen den Finger in die Wunde. Denn wer vonMacht und Gewaltenteilung spricht und sich als erwachsene Christen und Katholiken begreift, kannüber ein solches Schreibennur denKopf schütteln. Ich sage in meinen Vorträgen immer: »Nicht auf jeder Postkarte aus Romsteht gleich einunfehlbaresDogma.« DieseArt derKommunikationüber einanonymes Schreiben ist für mich ein Zeichen von Schwäche, von Angst davor, bestimmte Themen nicht mehr auf Dauer mit einemTabubelegenzukönnen. Ich sehe solcheVersuche, Veränderungen irgendwie aufzuhalten, eher entspannt. Denn: Veränderungen passieren anders. Veränderung geschieht von unten. In den diversenGesprächsprozessen seit 2010 und jetzt beimSynodalenWeg ist schon so viel in Bewegung geraten in der Kommunikation, im Ringenmiteinander, durch die klare Formulierung von »Hier werden Bastionen geräumt, die bis vor Kurzem noch mit Kanonen verteidigt wurden« Am 21. Juli wurden in einer Erklärung des Vatikans – ohne Absender und Unterschrift – die deutschen Bischöfe und Laien davor gewarnt, eigenmächtig und ohne Abstimmung mit der Weltkirche Reformen umzusetzen. Diese Forderung irritierte, da bereits in Satzung und Geschäftsordnung des Synodalen Weges festgelegt ist, dass Beschlüsse der Synodalversammlung von sich aus keine Rechtswirkung entfalten. Auch steht dort, dass die Vollmachten der einzelnen Bischöfe unberührt bleiben und Beschlüsse zu Themen, die einer gesamtkirchlichen Regelung vorbehalten sind, dem Apostolischen Stuhl als Voten übermittelt werden. Vor diesem Hintergrund reagierte die große Mehrzahl der Delegierten auf der Synodalversammlung einschließlich des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, verärgert auf den Brief aus Rom, da er vor Eigenmächtigkeiten warnt, die niemand beansprucht hatte. In Medien und Kirche wurde das Schreiben als Warnung verstanden, überhaupt bestimmte Themen zu diskutieren, geschweige denn in Abstimmungen deutlich werden zu lassen, wie Bischöfe und Laien bei zentralen kirchlich umstrittenen Themen denken. Verantwortungsvoller, gemeinsamer Umgang mit Macht: Dr. Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und des Synodalen Weges, im Gespräch mit Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und Präsident des Synodalen Weges © maximilian von lachner – synodaler weg

19 franziskaner 3|2022 Veränderungsbedarf auf vielen Ebenen, dass dies auch durch autoritäreDenk- undVeränderungsverbote nicht aufzuhalten seinwird. Was bereits an Texten und Beschlussvorlagen offen und klar formuliert ist und von deutlichen Mehrheiten auch innerhalb der Gruppe der Bischöfe gefordert wird, hätte ich vor fünf Jahren nicht für möglich gehalten. Und das nimmt uns keiner mehr. Frau Lücking-Michel, Sie sind gemeinsammit Bischof Overbeck Vorsitzende des Forums 1, das die Themen Macht, Gewaltenteilung und Teilhabe am Sendungsauftrag der Kirche bearbeitet. Es gibt aus Ihrem Forumnun ja schon einige Texte, die sich für die deutsche Gesellschaft mittlerweile selbstverständlich, für die katholische Kirche aber fast revolutionär anhören. Welche davon halten Sie für besonders geeignet, um reale Veränderungen in der katholischen Kirche in Deutschland auf den Weg zu bringen? In den vier Foren stehen schon wirklich sehr zentrale Sachen zur Debatte, wobei die Forderung nach Aufhebung des Pflichtzölibats noch mit das Harmloseste ist. Dazu kommen Texte zu sexuellen Identitäten, gleichgeschlechtlichen Beziehungen, der kirchlichen Grundordnung usw. Hier werden Bastionen abgeräumt, die vor Kurzem noch mit Kanonen verteidigt wurden. Den Text des Forums 2 »Frauen in Diensten und Ämtern« finde ich beispielsweise sehr klug, weil er gestaffelte Angebote macht. Ich war in demMoment zufrieden, wo eine Mehrheit keinen Zweifel daran gelassen hat, dass am Ende die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Diensten und Ämtern in der Kirche kommen muss und wir jetzt nur unterschiedlicher Meinung darüber sind, wie viel Zwischenschritte da noch möglich sind und wie die Weltkirche überzeugt werden kann. Das war während meiner gesamten Lebensspanne bisher alles andere als selbstverständlich. In unserem Forum »Macht und Gewaltenteilung« klingen für viele die Texte dagegen naturgemäß eher etwas dröge. Die größte Hebelwirkung, größer als all die einzelnen materiellen Texte, hat für mich die Einrichtung eines ständigen gemeinsamen Synodalen Rates von Bischofskonferenz und Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wenn dies ernst gemeint umgesetzt wird, dann ist das eine grundlegendeWeichenstellung, die nicht nur für den Synodalen Weg, sondern weit darüber hinaus Wirkung haben wird. Die sehr großeMehrheit – auch in der Teilgruppe der Bischöfe – für die EinsetzungeinesAusschusses, der dieErrichtungeines gemeinsamen Synodalen Rates vorbereiten soll, ist für mich ein sehr hoffnungsvollesZeichen, dass der gemeinsameWeg konstruktivweitergehenwird.Denndann bleiben die Beschlüsse der Synodalversammlung am Ende des Synodalen Weges imnächstenFrühjahr nicht nur letztlichunverbindlicheEmpfehlungen.Dann gibt es ein auf Dauer eingerichtetes leitendes Gremiumaus Bischöfen und Laien, das ihre Umsetzung überprüft und einfordert. Texte undDiskussionen in den Foren und der Synodalversammlung zielen ja auf eine – biblisch begründete – grundlegende DemokratisierungundTeilhabe allerGetauften. Die vorliegenden Dr. Claudia Lücking-Michel, hier im Interview mit dem ZDF während der vierten Synodalversammlung, ist Geschäftsführerin des Fachdienstes der deutschen Katholiken für internationale Zusammenarbeit Agiamondo e. V. Die Theologin und Historikerin ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Sie war Bundestagsabgeordnete (2013–2017) und von 2005 bis 2021 ehrenamtlich Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. © maximilian von lachner – synodaler weg Strukturveränderungen orientieren sich an der Rechtsordnung und Gewaltenteilung einer parlamentarischen Demokratie. Nun ist ja nicht nur die derzeitige hierarchische und klerikal bestimmte Verfasstheit der Kirche damit wenig kompatibel. Auch die demokratische Legitimation des ZdK und der diözesanen und pfarrlichen synodalen Gremien sowie die praktische Partizipation der Gläubigen sind sicher noch ausbaufähig.Müsste nicht nur die Amtskirche, sondern auch der deutsche Laienkatholizismus die Vertretung und reale Teilhabe der Katholik:innennochdeutlich ausbauenund intensivieren, damit wirkliche Teilhabe aller Getauften am Sendungsauftrag der Kirche auch praktische Realität werden kann? Im ZdK und in den diözesanen synodalen Gremien erlebe ich gerade intensiveDebatten zuFragen vondemokratischer Legitimation und Partizipation die – und auch in Bezug auf einen einzurichtenden gemeinsamen Synodalen Rat. Wie soll er zusammengesetzt werden? Wie ist wer legitimiert? Welche Entscheidungskompetenzen muss er haben – und einiges mehr. Für das ZdK möchte ich aber auch eine Lanze brechen. Dies gilt für seine Zusammensetzung wie dafür, wie die Mitglieder gewählt werden und wer sich beteiligen kann. Das ist schon mal nicht schlecht. Ich will nicht sagen icht verbesserungsfähig, aber jedenfalls international einmalig, was die Repräsentation und Legitimation der Laien in der katholischen Kirche angeht. Das gilt auch für die synodalen Strukturen in den Diözesen und auf Pfarreiebene. Wobei wir hier die Situation haben, dass diese in den verschiedenenDiözese nicht nur jeweils anders »Wir stehen an einem Kipppunkt«

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