Franziskaner - Herbst 2022

46 franziskaner 3|2022 © artak etrosyan – unsplash.com »Wir aber hatten gehofft (…). Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist.« In Analogie zu den Emmausjüngern lassen sich derzeit angesichts der multiplen Krisen zahlreiche Stoßseufzer formulieren: Wir aber hatten gehofft, dass die Corona-Krise vorbei ist. Dabei ist heute schon das dritte Jahr, in demdie Pandemie wütet. Wir aber hatten gehofft, dass sich mit den Erfahrungen der Pandemie unsere Konsummuster nachhaltig verändern. Doch wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir aber hatten gehofft, dass wir die notwendige große Transformation zielstrebig gestalten. Doch wir Menschen halten lieber an Bewährtem fest. Wir aber hatten gehofft, dass die Klimakrise zu bewältigen ist. Dabei ist heute schon das siebte Jahr seit demPariser Klimaschutzabkommen. Wir aber hatten gehofft, dass mit der Festschreibung des 1,5-Grad-Zieles endlich durchgreifende Maßnahmen umgesetzt werden. Doch die Menschheit stößt mehr CO₂ aus denn je. Wir aber hatten gehofft, dass die »Fridays for Future«-Bewegung die Politik zum Handeln zwingt. Doch der scheint die Luft auszugehen. Wir aber hatten gehofft, dass der Frieden in Europa dauerhaft bleibt. Dabei ist heute schon der siebte Monat, seit Russland die Ukraine völkerrechtswidrig überfallen hat.Wir aber hatten gehofft, dass sich Konflikte durch Verhandlungen lösen lassen. Doch hat Russland seit acht Jahren die Krim annektiert. Wir – beziehungsweise die Politiker:innen – hatten gehofft, dass sich Russland durch Sanktionen in die Knie zwingen lasse. Doch signalisiert Wladimir Putin bislang keinerlei Einlenken. Wir aber hatten gehofft, dass die Kirchen einen maßgeblichen Beitrag zum Frieden leisten. Dabei erleben wir, wie Patriarch Kyrill das unrechtmäßige Handeln des russischen Präsidenten rechtfertigt und unterstützt. Wir aber hatten gehofft, dass Krieg keinMittel zur Konfliktlösung mehr ist und dass sich das Geld für Rüstung zunehmend für Entwicklungshilfe ausgeben lässt. Dabei erleben wir, dass von einem Tag auf den anderen ohne gesellschaftliche Diskussion Milliarden Euro für die Bundeswehr und für Rüstungsprojekte zur Verfügung stehen. Wir aber hatten gehofft … und müssen erleben, dass in der Kombination und Folge dieser Krisen die Preise für Energie und Nahrungsmittel explodieren, die Inflationsrate steigt und der Staat ein Hilfspaket nach dem nächsten schnürt. Wir aber hatten gehofft, dass Wandel durch Handel geschieht. Dabei hat sich gezeigt, dass bloßerWarenaustausch nicht vorMenschenrechtsverletzungen und Krieg schützt. Wir aber hatten gehofft, dass sich eine gerechtere Welt gestalten lässt. Doch die Folgen des Kapitalismus zeigen zunehmende Ungleichheit und Vernichtung biologischer Vielfalt. Wir aber hatten gehofft, dass der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche zu wirklichen Reformen führt. Doch ist heute schon das zwölfte Jahr, ohne dass grundlegende Veränderungen der Strukturen erfolgt sind. Der Begriff Krise entstammt der griechischen Sprache und verweist auf den Höhe- und Wendepunkt eines Krankheitsgeschehens: Entweder führt die Krankheit in die Katastrophe, den Tod oder aber zur Besserung. Krisis bedeutet im Griechischen auch Entscheidung. Wir müssen uns entscheiden, in welche Richtung wir agieren wollen. Sowohl dieCorona- als auch die Klimakrise, sowohl der Krieg als auch die Kirchenkrise stellen uns vor die Herausforderung, die Krise(n) als Wendepunkt(e) zu gestalten, um nicht imTod zu enden, sondern das Leben zu erhalten. Dabei erfahrenwir eine permanente Zuspitzung der Lage und ein zunehmendes Maß an Unsicherheit und Hilflosigkeit. Wir aber hatten gehofft, die Krise(n) zu bewältigen…Doch welcher Weggefährte wird uns den Sinn all dessen erläutern und die Augen öffnen für den richtigen Weg? Wir aber hatten gehofft Stefan Federbusch OFM kommentar

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