Franziskaner - Herbst 2022

»Bei euch aber soll es nicht so sein!« – Der Satz aus dem Markusevangelium (Mk 10,43) ist vertraut – seine radikalen Konsequenzen werden aber meist verdrängt. Was Jesus seinen Jüngern mitgibt, ist die Aufforderung, den Umgang miteinander grundlegend zu verändern – die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen oder vielleicht besser vom Kopf auf die Füße. Das betrifft insbesondere diejenigen, denenMacht zugesprochen wird, oder die danach gieren, sie zu erhalten. In einer Zeit, die durch und durch geprägt ist von der Frage nachMacht und Machmissbrauch in der Kirche, ist dieses Thema hochaktuell. Eingebettet ist der Satz in eine Jüngergeschichte. Jesus ist mit seinen Freunden auf demWeg, als siemiteinander ins Gespräch kommen und zwei von ihnen einen besonderen Platz erbitten. Und schon kommt das ganze Gebinde der Beziehungen ins Ungleichgewicht. Waren bisher alle Jünger in vergleichbarer Position, nehmen sich jetzt zwei von ihnen heraus, herausgehoben zu werden. Ein bekanntes menschliches Verhalten. Wer von uns könnte die beiden Jünger nicht verstehen. Da hatten sie alle Zelte hinter sich abgebrochen und waren Jesus gefolgt. Dieser hatte schon mehrmals angekündigt, dass bald seine Herrschaft für alle anbrechen wird: so etwas wie eine Neuorganisation von Himmel und Erde – gründlich, allumfassend. Da wollen die beiden Jünger dabei sein. Sie bitten Jesus um die Anerkennung ihres Einsatzes, ihrer Treue und Gefolgschaft. Rechts und links vom Chef zu sitzen, das bedeutet nicht nur Anerkennung, sondern auch Einfluss, Macht, Herrschaft. Da ist man schon wichtig, da hat man schon etwas zu sagen, mitzureden und mitzubestimmen. Das hat was. Jesus scheint demAnsinnen der Jünger auszuweichen. Auf die Bitten seiner zwei Jünger sagt er weder Ja noch Nein. Er fragt erst einmal zurück, ob denn die Jünger wirklich wissen, um was sie da bitten. Ob sie bereit sind, das, was Jesus bevorsteht und auch ihnen bevorstehen wird, durchzustehen. Jesus wird denWeg ans Kreuz gehen. Sind sie dafür gewappnet? Johannes und Jakobus, so die Heiligenerzählungen, sind später den Märtyrertod gestorben. Sie haben also durchgehalten! Und Jesu Antwort? Diese Entscheidung, so sagt er, steht allein Gott zu. Das gehört auch zu den Bedingungen, auf die sich die Jünger einlassenmüssen. Er macht keine Zusage, wer denn nun in Gottes Reich auf die besten Posten gesetzt wird. Indem er so reagiert, verweist er seine Jünger auf den Boden dieser Welt: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein. Sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein.« (Mk 10,42–43) ein neues denkmodell Das Prinzip von oben und unten gilt in dieser Welt. Es gilt unter Staaten, und es gilt in den Gesellschaften und im Geschlechterverhältnis. Es gilt in der Kirche ebenso wie in allen Organisationen. Es ist abgesichert durch wirtschaftliche Abhängigkeit und Statussymbole und unter Staaten durch strukturelle (wirtschaftliche) Gewaltverhältnisse. Der Vorteil ist, es funktioniert – nicht immer gut, aber es funktioniert. Der Nachteil ist: Menschen nehmen in diesem System Schaden.Manche drohenherauszufallen. DieAuswirkungen reichen vonmaterieller und seelischerNot bis zumZerbrechenmenschlicher Beziehungen. Manch andere stehen in der Gefahr, sich und andere kaputtzumachen, um nach oben zu kommen. Jesus bietet für den Umgang untereinander Anstöße für ein neues Denkmodell. Er holt seine Jünger mit ihrem Begehren auf den Boden der Welt zurück. Hier ist der Ort, an dem sie sich bewähren und wir uns bewähren sollen. Unser Miteinander, ob im Staat, in der Gesellschaft, in der Kirche oder anderswo, soll auf eine Basis gestellt werden, die Menschen gerecht wird. Der Vollmacht der Jünger wird gleichzeitig ihre eigene Ohnmacht vor Augen gestellt. Macht ist allgegenwärtig. Überall gibt es Machtstrukturen. Unser Leben, unser Alltag, unsere Beziehungen, unsere Arbeit, unsere Kirche sind davon geprägt. Macht, im besten Sinn gebraucht, verliehen und kontrolliert, ist eine positive Kraft. Sie strukturiert, hilft uns zu entwickeln und ist eine der Natur innewohnende Kraft. Mit Andreas Knapp stimme ich ein in den Hymnus über die Macht: Macht macht mir vieles möglich … Macht ist Potenz, Möglichkeit. Macht ist die Fähigkeit zu gestalten. Macht bedeutet ein Vermögen, ein Können, eine Kraft, die bewegt und gestaltet. Wirkmächtig zu sein, ist einer der großenWünsche, Andreas Brands OFM Bei euch soll es nicht 8 franziskaner 3|2022

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=