Franziskaner - Winter 2022

Franziskaner Winter 2022 Weitere Themen: Franziskanisch unterwegs ImWohnmobil mit Bruder Gabriel +++ Ghana: Konzept zum Umweltschutz +++ Geistlicher Wegbegleiter durch denWinter www.franziskaner.de magazin für franziskanische kultur und lebensart Wohnen Verwirklichung eines Grundrechtes

4 Nachrichten und Anregungen 6 Wohnen • Verwirklichung eines Grundrechts • Die Einwohnung Gottes unter den Menschen • OFM=Ohne Feste Matratze • Wie wollen wir künftig wohnen? • Eine Zukunftsaufgabe: Wohnraum für alle – bezahlbar und klimaneutral 21 Geistlicher Wegbegleiter 25 Fratelli tutti 26 Franziskanisch unterwegs ImWohnmobil mit Gabriel Zörnig OFM 30 Jüdisch/Christlich Bar Mitzwa und Firmung 32 In memoriam 34 Franciscans International Ghana – ein franziskanisches Konzept zum Schutz der Umwelt 37 Abschiedsrede des heiligen Josef Schließung des Exerzitienhauses in Hofheim 38 Franziskaner aktuell 40 Kursprogramm 41 Bruder Rangel kocht 42 Kommentar 43 Impressum und Germanicus auf Reisen Inhalt Der »Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100% Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 089 2 11 26-1 50, Fax: 089 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBADE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank Liebe Leserin, lieber Leser, die Redaktion der Zeitschrift hatte sich erhofft, Sie vor Heiligabend mit dieser Ausgabe zu erreichen. Das hat leider aus verschiedenen Gründen nicht geklappt, was wir sehr bedauern. So bleibt uns nur, Ihnen ein frohes neues Jahr zu wünschen. Möge 2023 ein friedlicheres werden als das zu Ende gehende Jahr. Bleiben Sie behütet!

3 franziskaner 4|2022 Einen Ort zum Leben haben »Ohne Ort kein Glück«, schreibt der Schriftsteller Peter Handke. Hinter dieser Aussage steckt die Überzeugung, dass jeder Mensch einen Ort braucht, an dem sie oder er sich zu Hause fühlen kann. Dazu gehört mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Menschen brauchen vertraute Orte, wo sie sich sicher und wohlfühlen und wohin sie sich zurückziehen können – Orte der Geborgenheit. Aus einer solchen Geborgenheit heraus kann ein Mensch hoffnungsfroh sein Leben gestalten, kann kreativ sein und auch mal mutig etwas Neues wagen. Als Mensch möchte ich mich willkommen fühlen. Es tut mir gut, wenn ab und zu mal jemand zu mir sagt: »Schön, dass du da bist!« – Wo das geschieht, fühle ich mich wohl. Da kann ich wachsen, mich weiterentwickeln. Solche wohnlichen Orte sind lebenswichtig. Möbelhäuser und Baumärkte gelten seit der Corona-Pandemie als »systemrelevant«. Ganz offensichtlich sind dies Orte, in denen Menschen in unserer Zeit besonders gerne ihre Träume vom schönen Wohnen und wohl auch von einem guten Leben verwirklichen. In denWochen des Lockdowns hieß es: »Bleiben Sie zu Hause!« – In einer derartigen Extremsituation kann mir selbst in einer liebevoll gestalteten Wohnung schon mal die Decke auf den Kopf fallen. Und irgendwann gehen mir sogar meine eigentlich wohlmeinenden Mitbewohnerinnen und Mitbewohner kräftig auf die Nerven. Aus der Perspektive derjenigen, die überhaupt keine Wohnung haben, wie etwa Obdachlose und Flüchtlinge, sind das eher Luxusprobleme. Wie sollen sie zu Hause bleiben, wenn sie doch kein Zuhause haben? »ImHausemeines Vaters gibt es vieleWohnungen«, heißt es im 14. Kapitel des Johannesevangeliums. Dieser Satz steht für die Überzeugung, dass Gott niemanden vergisst, dass jede und jeder einen Platz hat in seinem Herzen. Bei Gott dürfen wir Wohnung nehmen, sind wir geborgen. Diese Zusage lässt mich leben. Und sie kann mich achtsammachen für die Frage: Wie wohnlich haben es eigentlich meine Mitmenschen? Denn Wohnen bedeutet einen Ort zum Leben haben. Welche Konsequenzen diese Einsicht für Menschen und ihr Engagement in Kirche, Politik und Gesellschaft hat, lesen Sie in diesem Heft. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre in hoffentlich wohnlicher Atmosphäre! Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister) © natalialeb – stock.adobe.com

4 FRANZISKANER 4|2022 © bild oben © smileus – istock.com | aufnahme frauenberg © arnulf müller Tauwetter Der Rifkrieg (1921–1927) Die aktuelle »Tauwetter«-Ausgabe blickt in Zeiten des Krieges in Europa auf einen weithin unbekannten Krieg zurück, auf den Krieg Spaniens gegen die Berber Marokkos vor 100 Jahren. In ihm wurde eine Form von Kriegsführung praktiziert, zu der der Einsatz von Giftgas gehörte, an dessen Lieferung Deutschland beteiligt war. Die Zeitschrift kann kostenfrei unter tauwetter@franziskaner.de bestellt werden. Download-Alternative: 33 www.franziskaner.de/tauwetter Franziskanerkloster Frauenberg 400 Jahre Franziskaner auf dem Frauenberg in Fulda wird im Jahr 2023 gefeiert werden. Fürstabt Johann Bernhard Schenk zu Schweinsberg hatte den Frauenberg imMärz 1623 feierlich an die Franziskaner übergeben. Seit der Zeit wirkt die Ordensgemeinschaft dort. Der weithin sichtbare Frauenberg ist für die Fuldaer Bevölkerung und die Menschen des Umlands ein gerne besuchter Beichtort, wird aber auch wegen der herrlichen Sicht über die Stadt und die Rhön geschätzt. Heute leben sieben Brüder auf dem Frauenberg; sie sind vor allem in der Seelsorge tätig. 2016 ging die Deutsche Franziskanerprovinz eine enge Kooperation mit »antonius – Netzwerk Mensch« ein. Die in Fulda ansässige Bürgerstiftung richtete in den Klostergebäuden ein inklusivesWohnprojekt für Menschen mit und ohne Behinderung ein, übernahm das Gästehaus und eröffnete das »flora Klostercafé«. Ein Besuch auf dem Frauenberg, der zudem einen schönen Klostergarten hat, lohnt daher nicht nur im Jubliäumsjahr. Die einzelnen Termine der Veranstaltungsreihe anlässlich der 400-jährigen Geschichte der Franziskaner auf dem Frauenberg sind ab Frühjahr auf der Website des Klosters zu finden. Franziskanerkloster >> www.fulda.franziskaner.net Tagungshotel antonius >> www.frauenberg-fulda.de Klosterorte entdecken

5 franziskaner 4|2022 © bild oben: kara – stock.adobe.com 5.–9. April 2023 Kar- und Ostertage 2023 Ein Angebot – in Richtung Auferstehung – für Erwachsene, junge Erwachsene und Familien mit Kindern. GestaltetwerdendieTageauf unterschiedlichenWegen in Kleingruppen. Begleitung Thomas Abrell OFM, Franziska Birke-Bugiel, Andreas Brands OFM, Dr. Uta Zwingenberger Musik Stefanie und Dominic Lübbers Ort Haus Ohrbeck, Bistum Osnabrück Kursübersicht auf Seite 40 Einer unserer Kurse Starte dein Freiwilligenjahr in Europa ... Du weißt noch nicht, was Du nach dem Schulabschluss, Deiner Ausbildung oder Deinem Studiummachen möchtest? Du willst neue Erfahrungen sammeln und Deinen Horizont erweitern, neue Kulturen und neue Länder kennenlernen? Also einfachmal für ein Jahr raus und etwas vollkommen Neues erleben? Die Einsatzorte für Dein Freiwilligenjahr befinden sich alle in europäischen Ländern: • Bilbao – Spanien • Genf – Schweiz • Visoko – Bosnien-Herzegowina • Slavonski Brod – Kroatien • Vlora – Albanien Zur intensiven Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung bieten wir sechs Seminareinheiten an. Franziskanisches Bildungswerk e.V. Niederwaldstraße 1, 63538 Großkrotzenburg E-Mail: info.fee@fbw.kreuzburg.de >> www.franziskanische-erfahrung.eu

6 franziskaner 4|2022 Wahrnehmung eines Grundrechts Wohnen grafik © archjoe freepik.com Zum Jahresanfang die Renovierung derWohnräume zu planen und im Frühjahr nicht nur einen Großputz, sondern eventuell gleich einen Umzug ins Auge zu fassen, war in früheren Jahren an der Tagesordnung. Davon zeugen auch heute noch die Saisonangebote der Discounter. Gegenwärtig steht das Thema »Wohnen« weniger für Aufbruch und Frühlingsgefühle, vielmehr stellt es sich für zunehmend mehr Menschen als außerordentlich belastender Problemfall dar. Tag für Tag erreichen uns Nachrichten, die eine Vorstellung davon entstehen lassen, was es bedeutet, kein Dach über dem Kopf zu haben oder ohne Strom und Heizung in halbzerstörtenHäusern undWohnungen bei Minusgraden auszuharren. Noch fürchterlicher als die Bilder aus der Ukraine sahen vor wenigen Jahren die Bilder aus dem syrischen Aleppo oder den Vorstädten von Damaskus aus. Man konnte sich kaum vorstellen, dass Menschen unter solchen Bedingungen hausen müssen. Von einer solchen Situation ist das, was wir hier in Deutschland erleben, zweifellos Lichtjahre entfernt, und dennoch: Nach neuesten Zahlen leben knapp 40.000 Menschen auf der Straße, insgesamt 263.000 Menschen haben kein Obdach. Das ist eine gewaltige Zahl. Zum Vergleich: Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden hat nur 15.000 Einwohner:innen mehr. Diese Problemlage ist gewiss nicht nur dem Wohnungsmarkt geschuldet, aber er trägt seinen Teil dazu bei. Die Mieten sind in den letzten Jahren fortwährend überproportional gestiegen, und nach übereinstimmenden Angaben fehlten bereits im Herbst 2021 1,5 bis 2 Millionen Mietwohnungen in Deutschland, hauptsächlich in Groß- und Universitätsstädten. Lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen selbst für einfache Wohnungen in weniger begehrten Lagen sind eine Folge. In Uni-Städten werden auch dunkle Kellerzimmer zuQuadratmeterpreisen vermietet, die noch vor wenigen Jahren für teure Appartements aufgerufen wurden. Große Wohnungsbaugesellschaften enteignen? Wie ernst die Lage für Menschen in Großstädten ist, zeigt auch der erfolgreiche Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co enteignen« in Berlin im September 2021. Obwohl sich bis auf die Partei »Die Linke« alle Parteien gegen den Volksentscheid aussprachen, kam eine klare Mehrheit zustande – ein Votum für Enteignung von Privateigentum, was gerade in Deutschland bis vor Kurzem kaum jemand für möglich hielt. Die Ursachen für diese für sehr viele Menschen schwierige Situation liegen vor allem in einer verfehlten Wohnungsbaupolitik in den letzten Jahrzehnten. In der irrigen Annahme, es gäbe in Thomas Meinhardt Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenenWohnraum. Das Menschenrecht auf Wohnen ist Teil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard, wie es in Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verbrieft ist. Das Recht auf Wohnen beinhaltet mehr, als nur ein Dach über dem Kopf zu haben. Der Wohnraummuss laut dem UN-Sozialpakt angemessen sein. Ob er angemessen ist, bemisst sich an sieben Kriterien: gesetzlicher Schutz der Unterkunft (zum Beispiel durch einen Mietvertrag), Verfügbarkeit von Diensten (unter anderem Trinkwasser, Energie zum Kochen, Heizen und Beleuchten), Bezahlbarkeit des Wohnraums, Bewohnbarkeit der Räume (unter anderem Schutz vor Kälte, Hitze, Regen, Wind), diskriminierungsfreier Zugang zu Wohnraum, geeigneter Standort (zum Beispiel Nähe zu Gesundheitsdiensten, Schulen usw.) und kulturelle Angemessenheit (zum Beispiel bestimmte Baumaterialien oder Raumaufteilungen).

7 franziskaner 4|2022 Deutschland dauerhaft keinenWohnraummangel mehr, wurden der soziale Wohnungsbau massiv reduziert und große gemeinnützigeWohnungsbaugesellschaftenanprivate Investorenverkauft. Der sogenannte freie Markt würde alles schon zur Zufriedenheit aller regeln. Kritiker:innen dieses neoliberalen Glaubenssatzes halten dagegen, dass gerade auf demWohnungsmarkt zu besichtigen sei, was es bedeutet, wenn in zentralen Bereichen der Daseinsfürsorge die erzielbare Rendite entscheidend sei und nicht die Erfüllung der Grundbedürfnisse der Menschen. Den sozialen Sprengstoff, den der große Wohnungsmangel bei gleichzeitig massiv steigenden Mietpreisen in den Groß- und Kleinstädten erzeugt, hatte insbesondere die SPD erkannt. Das Versprechen, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen und davon mindestens 100.000 mit Sozialbindung in Deutschland errichten zu lassen, wurde zu einem ihrer zentralenWahlversprechen bei der letzten Bundestagswahl. Und tatsächlich wurde wieder einMinisterium für »Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen« gebildet und der Bau von 400.000 Wohnung jährlich, davon 100.000 mit Sozialbindung, sowie die Förderung von gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften imKoalitionsvertrag der Ampel festgelegt. Waren diese Ziele schon imHerbst 2021 sehr ambitioniert, so hat der Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen sowie die andauernde Corona-Pandemie mit ihren weltweiten wirtschaftlichen Auswirkungen ihre Realisierung – zumindest kurzfristig – unmöglich gemacht. Explodierende Bau- und Energiepreise, immer wieder unterbrochene Lieferketten und der weiter anwachsende Mangel an Fachkräften im ganzen Bausektor führten stattdessen im Jahr 2022 zu einer starken Reduzierung der Bautätigkeit. Insbesondere bei privaten Investoren würde die erforderliche Refinanzierung über Vermietung zu derart hohen Quadratmeterpreisen führen, dass selbst in der gegenwärtigenWohnraummangellage kaum jemand sie würde bezahlen können. In der Folge wurden viele Projekte erst mal gestoppt. Heute schon liegt dieMietwohnkostenbelastung im städtischen Bereich bei 30% des verfügbaren Einkommens. 20% der Mieter:innen in den Städten müssen für die Warmmiete über 40 % ihres verfügbaren Einkommens aufwenden, bei 12 % von ihnen ist es sogar die Hälfte. Auch wenn finale Zahlen für das vergangene Jahr noch nicht vorliegen, lässt sich schon jetzt behaupten, dass die von der Bundesregierung angestrebte und absolut notwendige Anzahl neuer Wohnungen im Jahr 2022 verfehlt wurde, und die Erwartungen sehen auch für 2023 nicht besser aus. Das ist besonders tragisch, weil imvergangenen Jahr unerwartet allein eine Million geflüchtete Menschen aus der Ukraine zusätzlich einDach über demKopf brauchEine Studie aus dem Jahr 2022 im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gibt erstmals repräsenative Zahlen für die Anzahl an Obdachlosen in Deutschland an. Demnach leben zur Zeit 37.400 Menschen auf der Straße. © jon tyson – unsplash.com

8 franziskaner 4|2022 © global travic images – picture-alliance.com ten und daneben zunehmend Flüchtlinge aus anderen Krisen- und Konfliktgebieten in Deutschland Zuflucht suchen. Klimaneutralität ist eine Überlebensnotwendigkeit Und bei alledem ist die zentrale und überlebenswichtige Aufgabe unserer Zeit, die sofortige, massive Reduzierung des CO2-Verbrauchs im gesamten Bausektor, noch gar nicht berücksichtigt. Der Bausektor ist für 35 % des gesamten Energieverbrauchs und rund einDrittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Wenn Deutschland spätestens bis 2045 klimaneutral sein will, dann muss der riesige Sanierungsstau bei den Bestandsgebäuden sofort im großen Stil angegangen und parallel Photovoltaik überall auf die Dächer gebracht werden. Außerdem müssten möglichst viele nicht mehr benötigte Bürogebäude – bei denen dies zu verantwortbaren Kosten realisierbar ist – zu Wohngebäuden umgebaut und Gebäude, deren Statik dies erlaubt, aufgestockt werden. Dies gilt insbesondere, da der Neubau von Gebäuden alleine durch die Zementherstellung und den Transport besonders viel CO2 verbraucht und zu zusätzlich versiegelten Flächen führt. Von daher ist – so die Aussage von Fachleuten – aus Klimaschutzgründen die Sanierung des Wohnungsbestandes in der Regel dem Neubau vorzuziehen. Die neue Bundesregierung – das bescheinigen ihr die meisten Akteure im Bau- und Wohnungssektor, aber auch Umweltverbände – hat sich nicht nur richtige Ziele gesetzt, sondern auch in den erstenMonaten zahlreiche Förderprogramme und gesetzliche Regelungen auf den Weg gebracht, um die sozialen und ökologischen Herausforderungen anzugehen und diese nicht gegeneinander auszuspielen. Doch es bestehen erhebliche Zweifel, ob die bisherigen Initiativen undMittel auch nur annähernd ausreichen, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Denn es sind nicht nur noch viel mehr finanzielle Mittel nötig, es fehlt auch an den Baustoffen sowie anderen Materialien und vor allem an den Fachkräften. Zudem wächst langsam die Erkenntnis, dass so viel grüner Strom aus erneuerbarer Energie gar nicht produziert werden kann, um unser bisheriges unbeschränktes Wachstumsmodell CO2-neutral weiterführen zu können. Reduzierung des Platz- und Ressourcenbedarfs In vielen Köpfen hat sich die Erkenntnismittlerweile durchgesetzt, dass wir als menschliche Zivilisation nur dann überleben werden, wenn wir zur grundlegenden Veränderung bereit sind. Für uns im globalen Norden – auf den mit Abstand der größte CO2-Verbrauch pro Kopf anfällt – lautet die Herausforderung, ein gutes Leben für alle auf andere Weise zu realisieren, als durch immer mehr Konsum und quantitatives Wirtschaftswachstum. Auf den Wohnungssektor bezogen heißt dies: Wir müssen den bisher immer weiter angewachsenen Quadratmeterbedarf pro Person deutlich reduzieren. Im Jahr 2021 betrug die durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland 47,7 Quadratmeter. Ledige, Geschiedene, Verwitwete leben in Einpersonenhaushalten, die im Schnitt fast 70 Quadratmeter verbrauchen. Es scheint, wir bleiben lieber unter uns, auch wenn die Kinder ausgezogen sind oder der Partner nicht mehr da ist. Es ist an der Zeit, unsere Vorstellung vom guten Wohnen wieder mit etwas geringeren Wohnraumbedarfen zu verbinden. Das muss nicht unbedingt ein Nachteil sein, denn welchen persönlichen Gewinn erzeugen große, repräsentative Wohnzimmer wirklich? Und bedeutet der Besitz eines großen Hauses, in demmittlerweile etliche Zimmer unbewohnt sind, wirklich gutes Leben? Wenn es gelingt, kluge, platzsparende Wohnlösungen zu entwikkeln, nachhaltigere und wiederverwertbare Baustoffe auch großflächig einzusetzen, lokale Wohnpartnerschaften zwischen Generationen zu vermitteln, attraktive Mehrgenerationenhäuser anzubieten und einiges mehr, dann kann der Impuls zum Miteinander-Teilen, zur gemeinsamen Nutzung von Räumen und Gerätschaften durchaus zur Zunahme von Lebensglück in einer lebensfreundlichen Umgebung führen. Ein solches Umsteuern wird nicht einfach, aber es würde sich lohnen, es zu versuchen. Unzählige Bewerber:innen hoffen auf ihre Chance, die Dreizimmer-Wohnung im Viertel Glockenbach in München mieten zu dürfen

9 Die Einwohnung Gottes unter den Menschen »Und dasWort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.« (Johannes 1,14) Diesen Ausschnitt aus dem Prolog des Johannesevangeliums hörenwir in der Messe amerstenWeihnachtstag. Durch eine kleine Übersetzungsvariante eines einzigen Wortes in diesem Vers kann sich den Hörenden und Lesenden eine neue Perspektive und eine Verbindung zur Theologie des Alten Testaments erschließen: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet …« Denn das hebräische Wort für »wohnen« kann auch mit »zelten« übersetzt werden. Aus dem hebräischen Verb für »wohnen« beziehungsweise »zelten« entstand der Begriff der »Schechina« Gottes, der im Judentum eine zentrale Rolle spielt und »Einwohnung«, »Zelt aufschlagen« oder »Anwesenheit« Gottes unter denMenschen bedeutet. Zudem wird mit dieser Übersetzung eine Brücke zum Neuen Testament geschlagen, denn die ersten 14 Verse des Johannesevangeliums lassen sich als eine sinngemäße Wiedergabe (Relecture und Paraphrase) der ersten beiden Bücher des Alten Testaments – Genesis und Exodus – lesen: von der Schöpfung der Welt (Genesis 1–2) bis zurOffenbarung und demBau des Zeltheiligtums am Sinai (Exodus 20–40). Diese Verbindung wird vor allem durch die Wörter »Zelt«, »Wort« und »Herrlichkeit« zum Ausdruck gebracht. Es ist nicht unüblich, dass die Autoren des Neuen Testaments für ihre Schriften Lesarten oder Interpretationen des Alten Testaments voraussetzen. Dies geschieht auch beimBeginn des Johannesevangeliums. Der oben zitierte Vers spricht eindeutig vonderMenschwerdung des Logos, des Wortes. Mit den Begriffen »Zelt«, »Wort« und »Herrlichkeit« werden drei bedeutende alttestamentliche Ausdrücke aufgenommen. Das Zeltendes »Wortes« nimmt denBau des Zeltheiligtums, mit dem Gott mitten unter seinem Volk wohnen will, aus Exodus 20–40 auf. Dadurch wird auch auf Mose Bezug genommen. Mit ihm endet der Johannesprolog, nachdem er mit Anspielungen auf Genesis 1 begonnen hat. Der Evangelist Johannes wählt diesen Bogen von der Erschaffung der Welt bis hin zum Zeltheiligtum nicht zufällig, sondern weil das Alte Testament ihm diesen Bogen vorgibt. Denn die Schöpfung zielt von Beginn an auf den Schabbat und das Zeltheiligtum – und damit auf die Schechina Gottes. Die Schöpfung ist erst durch die Einwohnung Gottes unter seinem Volk vollendet, denn bei der Fertigstellung des Zeltheiligtums im Buch Exodus werden Formulierungen aus der ersten Schöpfungserzählung (Genesis 1,1–2,3) wieder aufgenommen. Ziel der Entstehung und der Entwicklung derWelt ist die Einwohnung Gottes unter seinemVolk sowie mit dem Schabbat und demZeltheiligtum der Kult, die Liturgie. Die Schöpfung ist also auf das Volk Israel hin angelegt, denn unter diesem Volk wollte Gott wohnen. Ja, sie ist angelegt auf das Aufschlagen des Zeltes Gottes unter denMenschen. Im Johannesprolog wird diese im Alten Testament grundgelegte Erkenntnis aufgenommen. Uns wird damit vor Augen geführt, dass Jesus für uns Christ:innen die gelebte Erfüllung der Einwohnung Gottes in der Welt ist, denn Er selbst ist durch seine Geburt die leibhaftige Einwohnung Gottes geworden. Wir feiern also anWeihnachten nicht nur, dass Gott Mensch geworden ist, sondern dass er unter uns Menschen wohnen will. Johannes Roth OFM Menschen auf der Flucht Die Zahl der Menschen, die weltweit aus ihrer Heimat gewaltsam vertrieben wurden, war noch nie so hoch wie heute. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR ging Mitte 2022 von weltweit rund 103 Millionen Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen aus. Verglichen mit dem Stand von Ende 2021 bedeutet diese Zahl, dass 13,6 Millionen Menschen mehr auf der Flucht sind als im Vorjahr. – Dies entspricht einem Anstieg von 15 Prozent. Hauptgrund für diesen rasanten Anstieg ist die russische Invasion in der Ukraine, die Millionen Menschen zur Flucht zwang. Demnach waren Mitte 2022 etwa 5,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ins Ausland geflüchtet, und 6,3 Millionen waren Binnenvertriebene. Viele von ihnen suchen derzeit Schutz und Wohnung bei uns in Deutschland. Auch Brüder und Schwestern der franziskanischen Familie haben Geflüchtete aufgenommen, so zum Beispiel die Oberzeller Franziskanerinnen oder die Schwestern in Sießen. Die Franziskaner in Vossenack haben zusammen mit der Franziskusstiftung in den ehemaligen Räumen des Internates insgesamt 58 Asylsuchende und Flüchtlinge untergebracht, darunter viele Menschen aus der Ukraine. »… und hat unter uns gewohnt«

10 franziskaner 4|2022 OFM = Ohne Feste M Die Franziskaner und das Wohnen »Ein Kloster? Ich habe in unseremOrden noch nie ein Kloster gesehen!« So antwortet einer der ersten Franziskaner, die in Erfurt zunächst improvisiert vor den Stadtmauern lebten. Pfarrer Heinrich und einige Bürger wollten den Brüdern nach sechs Jahren ein Kloster bauen. Der Chronist hört den Bruder raten: »›Ich weiß nicht, was ein Kloster ist; baut uns einfach ein Haus am Wasser, damit wir zum Füßewaschen dorthin hinabsteigen können.‹ Und so wurde es getan.« (Franziskus Quellen/FQ 995–996) Die Ankunft der Brüder in Thüringen fällt in die Lebenszeit der Landgräfin Elisabeth. Vielerorts leben die Brüder in den ersten Jahren bei einer Hospitalkirche und verorten sich vor den Stadtmauern unter den Randständigen. Erfurts Klerus und Bürgerschaft wollen ihnen im Jahr 1231 zu einer eigenen Infrastruktur verhelfen. Tatsächlich entsteht bald ein städtischer Konvent mit eigener Kirche, Kreuzgang, Refektorium (Speisesaal), Dormitorium (Schlafsaal), Zellen für die Prediger und einer Bibliothek. Das schnelleWachstumder Gemeinschaft erfordert nach wenigen Jahrzehnten die Vergrößerung des Klosters. Wer die imposante Kirche heute besucht, von der seit dem ZweitenWeltkrieg nur noch Chor und Außenmauern stehen, erkennt das architektonische Vorbild: Zwei Steinwürfe entfernt befindet sich auf der anderen Flussseite der Dominikanerkonvent, in dem der große Mystiker Meister Eckhart wirkte. Die gotische Predigerkirche ist das schönste Gotteshaus in Erfurts Altstadt. Was hier geschah, ereignete sich ab 1230 in ganz Europa: Das rasche Sesshaftwerden und die Verklösterlichung der Franziskaner war eine Antwort auf den Ruf der aufblühenden Städte, und der boomende Orden ließ sich dabei vom Vorbild der Dominikaner leiten. Um 1300 spannte sich ein dichtes Netz von Klöstern vom Atlantik bis auf den Balkan und von Schottland bis Sizilien. Die Stadtkonvente beherbergten Dutzende von Brüdern und dehnten ihren Aktionsradius so aus, dass sich in vielen Gebieten eine flächendeckendeWanderpastoral etablierte. Damit unterschieden sich die Franziskaner vom Predigerorden, der weit weniger Brüder zählte und sich auf die wichtigen Zentren konzentrierte. Gemeinsam hoben sich die Bettelorden von den Mönchsabteien ab, die mit ihrer »stabilitas loci« (dauerhafteOrtsgebundenheit) oft weltabgeschieden inmonastischen Alternativwelten lebten. Gründete Franziskus eine Bruderschaft, die »durch die Welt wanderte«, den Lebensunterhalt mit Handarbeit verdiente und sich zu kontemplativen Intensivzeiten für Wochen in stille Eremitagen zurückzog, so wurden seine Brüder ab 1231 schnell zu einem städtischen Zwillingsorden der Prediger: Wie die Dominikaner ließen sie sich fortan als Bettelorden für ihre pastoralen, sozialen und kulturellen Dienstleistungen von der Gesellschaft mit dem Lebensnotwendigen versorgen, das sie sich regelmäßig vonHaus zu Haus erbaten. Dieser frühe und rasanteWandel blieb nicht unwidersprochen. Gegen 1250 eskalierte an der Universität Paris der Armutsstreit zwischen den neuen Bettelorden und denMagistern, die dem Weltklerus angehörten und sich zu Sprechern der Bischöfe machten. Vereint suchten diese die neuen städtischen Orden aus der Seelsorge, Lehre, Inquisition und Diplomatie zu verdrängen, in denen sie zu Stützen einer urbanen kirchlichen Kultur und des päpstlichen Universalismus geworden waren. Innerhalb des Franziskanerordens distanzierten sich »Zelanti« (Eiferer) von den städtischen Konventen und sammelten sich in den alten Eremitagen der umbrischen Bergwälder. Ein Ein Zuhause auf Zeit Der Weg zurück vom Leben auf der Straße in eine Existenz mit Arbeitsstelle und eigener Wohnung ist oft schwer. Im Priesterseminar Borromaeum in Münster sind in Zusammenarbeit mit der Bischof-Hermann-Stiftung seit 2019 vier Zimmer eingerichtet worden, die Obdachlosen mit einem festen Arbeitsplatz ein Zuhause auf Zeit bieten. Es ist wichtig, nach der Arbeit Ruhe zu finden, was in anderen Einrichtungen mit Mehrbettzimmern schwer möglich ist. So entschied sich das Borromaeum, vier Obdachlosen die Zimmer für eineinhalb Jahre zur Verfügung zu stellen. Sie teilen sich eine Küche, ein Bad und ein Wohnzimmer. In diesem Zeitraumwird versucht, für sie eine eigene Wohnung zu finden, sodass ein Platz für andere Wohnungslose frei wird. »… und hat unter uns gewohnt« grafik © archjoe freepik.com

11 franziskaner 4|2022 atratze Niklaus Kuster OFMcap gelehrter Franziskaner verfasste zur Zeit der Erfurter Klostergründung dasWerk »Der Bund des heiligen Franzmit FrauArmut«. In einer meisterhaften Szene fragt die Gefährtin Jesu die ersten Brüder, wo denn ihr Kloster sei. Sie fahren mit ihr auf eine Anhöhe und zeigen ihr die Welt, so weit ihr Auge reicht. Mit dem weiten Panorama vor Augen sagte Franziskus der edlen Frau: »Schau, so weit dein Auge reicht: Die ganze Welt ist unser Kloster – unser Lebensraum, in dem wir wohnen, arbeiten, essen, beten und Erfahrungenmit Menschen teilen!« (Vgl. FQ 682–683). In jener Zeit schritt in Assisi der Bau des Sacro Convento und der prachtvollen Wallfahrtskirche San Francesco voran. Wer sich heute nicht vom Pfälzer Minoriten Thomas Freidel durch das UNESCO-Weltkulturerbe führen lässt, kann aus demMund eines heimischen Stadtführers auch Kommentare wie diesen hören: »Meine Damen und Herren, unter diesem Prachtbau liegen der Leib und der Geist des Poverello begraben!« Doch ist dem so? Die franziskanischen Reformbewegungen der Spiritualen, Observanten und Kapuziner mochten dieses Urteil im Lauf der Jahrhunderte teilen: Sie distanzierten sich vom Leben in den großen Stadtklöstern und setzten wieder auf Armut, Wanderpastoral, kleine Gemeinschaften und die alten Eremitagen. Mit demWachstum ihrer Gemeinschaften fanden jedoch auch sie zum klösterlichen Leben zurück und sind wieder in ansehnlichen Stadtkonventen anzutreffen. Tatsächlich zeichnet sich bereits in den frühen Regeltexten der Bruderschaft ein Ja zu festen Niederlassungen ab. Die Ordensregel von 1221 hält noch fest: »Wir haben von der ganzen Welt nichts anderes nötig als Nahrung und Kleidung (...) Und die Brüder sollen sich freuen, wenn sie mit unbedeutenden und verachteten Leuten umgehen, mit Armen und Schwachen und Kranken und Aussätzigen und Bettlern am Wege (...) Auch unser Herr Jesus Christus ist arm gewesen und ein Fremdling und hat von Almosen gelebt, er selbst, die selige Jungfrau und die Jünger.« (FQ 77) Von dieser Maxime der Frühzeit ließen sich auch die ersten Brüder in Erfurt noch leiten, die vor den Mauern bei einem Hospital lebten. Schon der Poverello selbst öffnet sich jedoch für einWanderleben mit eigenen Zentren. Zwar hält die definitive Ordensregel 1223 fest: »Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache (...) und wie Pilger und Gäste in dieser Welt (...) dem Herrn in Armut dienen (...), weil Christus sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat.« (FQ 98) Doch wird Franziskus im Testament schreiben: »Hüten sollen sich die Brüder, Kirchen, ärmlicheWohnungen und alles, was für sie gebaut wird, überhaupt anzunehmen, wenn sie nicht sind, wie es der heiligen Armut entspricht, die wir in der Regel versprochen haben; und sie sollen dort immer herbergen wie Pilger und Gäste.« (FQ61) Beide Texte sprechenmit einem biblischen Motiv (1 Petrusbrief 2,11) die Grundhaltung an, welche die Brüder in ihremWanderleben wie imWohnen beherzigen sollen. Sie sind zu Gast in dieser Welt, und ihr Dasein bleibt das von Pilgern: zielgerichtet, dynamisch, teilend. Pilgernde richten sich nirgends fest ein. Sie erholen sich in Herbergen und teilen dort Räume und Erfahrungen mit Weggefährt:innen aller Art. Sind Klöster offene Häuser, und bleiben Brüder innerlich wie äußerlich auf demWeg, bleiben sie Franziskus’ Mahnung treu. Das biblischeMotiv imPetrusbrief spricht in jede Lebensform: Glaubende sind – wie es der frühchristliche Brief an Diognet ausdrückt – »in jedem Land zu Hause und auch in der Heimat Gäste, unterwegs in das wahre Vaterland«. Entscheidend ist diese innere Grundhaltung, sei es imWohnen oder im Unterwegssein. Ruine der Barfüßerkirche in Erfurt, die beim Bombenangriff 1944 zerstört wurde © michael nitzschke – picture-alliance.com

12 franziskaner 4|2022 Wie wollen wir künftig wohnen? Im Jahr 2021 lebten fast 78 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands in Städten. Wer über das Wohnen spricht, hat daher in der Regel ein städtisches Wohnumfeld vor Augen. Wahrscheinlich wird es in der Regel die autogerechte Stadt sein, wie sie sich in der Nachkriegszeit entwickelte. Außerdem wird es in der Regel eine Stadt sein, die dem Konzept der Trennung in Bereiche zum Wohnen, Arbeiten, Erholen und Fortbewegen folgt, wie es dem städtebaulichen Paradigma des letzten Jahrhunderts entspricht. Doch dieses Bild ist lediglich Ausdruck unserer konkreten Erfahrung. Wie Städte angelegt sind undwie sie sich entwickeln, ist keineswegs »gottgegeben«, Ausdruck einer höheren Rationalität oder gar zwangsläufig. Die Art, wie wohnen und leben vonstattengeht, ist immer auch Ausdruck der Prioritäten, Machtverhältnisse und Glaubenssätze der jeweiligen Epoche. Das wird deutlich, wenn der autogerechten Stadt eine Stadt ohne Straßen gegenübergestellt wird. Für uns unvorstellbar, aber archäologische Grabungen belegen ganz unterschiedliche antikeWohnformen, darunter eben auch Städte, die keine Straßen kannten. Wie der Transport vonWaren, Abfällen etc. in einer Stadt, in der die Häuser aneinandergebaut waren, möglich war und ob es immer problemlos war, dass sich die Menschen ihre Wege durch die Wohnstätten der Nachbarn bahnenmussten, wissenwir nicht. Ebenso wenig ist bekannt, ob sich die dort Lebenden wohlfühlten. Wahrscheinlich kannten sie nichts anderes und stellten es daher nicht infrage. Ebenso wie bei uns bis vor Kurzem der Vorrang des Autos bei der Planung unserer Städte unhinterfragt war. Heute entwickelt sich langsam ein Bewusstsein dafür, dass Menschen auch Gestaltende ihres Wohnumfeldes sein könnten. Für viele erschöpft sich ihre kreative Energie zwar auch heute noch eher in der Dekoration des eigenen Wohnraums, aber es ist eine Reihe an Aufbrüchen zu verzeichnen. Die Stadt ist die Wohnform der Zukunft 2050, so prognostizieren die Vereinten Nationen, werden fast 70 Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Räumen leben. In den westlichen Ländern ist der Drang in die Städte deutlich weniger stark als im Weltmaßstab. Das kann angesichts des bei uns bereits erreichten Grades der Urbanisierung nicht wirklich verwundern. Es gibt darüber hinaus sogar Spekula- Kerstin Meinhardt Leben auf der Straße 37.400 Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Allerdings werden viele verdeckt Wohnungslose nicht erfasst, darunter vor allem Frauen. In den Großstädten ist der Anteil der »Brüder und Schwestern auf der Straße« deutlich höher als im Landesdurchschnitt. In Berlin bietet die Suppenküche im Franziskanerkloster Pankow seit der Nachwendezeit wohnungslosen und armen Mitmenschen ein Mittagessen. Täglich kommen bis zu 400 Gäste. Neben der Versorgung mit einer Mahlzeit ist die Suppenküche aber vor allemein Treffpunkt und ein Stück Heimat. Darüber hinaus ermöglicht die Hygienestation die Aufrechterhaltung einer menschenwürdigen Grundhygiene, und die Kleiderkammer hält etwas Sauberes und Warmes zum Anziehen bereit. Die zum Team der Mitarbeitenden gehörende Sozialarbeiterin Petra Rothe vermittelt zwischen Menschen und Behörden. Sie unterstützt die Hilfesuchenden beispielsweise bei der Wohnungssuche und auch wenn Wohnungskündigung oder -räumung droht. 33 www.suppe.franziskaner.net Dhaka in Bangladesch war im Juli 2022 mit 30.093 Menschen pro Quadratkilometer die Stadt mit der höchsten Bevölkerungsdichte weltweit »… und hat unter uns gewohnt« grafik © archjoe freepik.com | © md rafayat haque khan/eyeem – stock.adobe.com

13 franziskaner 4|2022 tionen, dass Homeoffice, Ausbau der Digitalisierung und der knappe und überteuerteWohnraum in den Städten sogar eine gegenläufige Entwicklung in Gang setzen könnten. Außerdem gibt es Städte, die nur wenig Lebensqualität und Entwicklungsmöglichkeiten bieten oder in denen zum Beispiel die Schließung von Industriebetrieben zumWegzug führte, so im Osten Deutschlands. Gegenwärtig gehen die Prognosen für Deutschland davon aus, dass angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung – für 2060 wird trotz Zuwanderung mit einem Rückgang von fast zehn Millionen gerechnet – nur bestimmte Metropolregionen weiterhin wachsen werden. Zu den Wachstumszentren zählen das Rhein-Main-Gebiet, Berlin, München, Köln und Hamburg. Dass das Wohnen die soziale Frage der Zukunft ist, zeigt sich hier deutlich. In diesen Zuzugsregionen können sich das Leben imZentrumnur noch die wirklich Gutverdienenden leisten. Die weniger Vermögenden werden an die Ränder der Städte und ins weitere Umland verdrängt. Während in den Städten eine umweltfreundliche Mobilität ohne eigenen Pkw möglich ist, sind gerade die finanziell Benachteiligten im wortwörtlichen Sinne »außen vor« und von hohen Mobilitätskosten betroffen. Dass wohnen in der Verknüpfung mit der Frage der Mobilität eine besondere soziale Sprengkraft haben kann, zeigt sich nicht erst seit dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise. Die infrastrukturelle, ökologische und ökonomische Entwicklung der großen Städte wird zur Zukunftsaufgabe – auch um die fortschreitende Klimaerhitzung zu bremsen. Mit der zunehmenden Verstädterung gelangt die Infrastruktur überall an ihre Kapazitätsgrenzen. Bei uns ist das an jedem Werktag in den Metropolregionen zu beobachten. In eine Stadt wie München aus den Wohnbezirken am Rande zum Arbeiten hineinzukommen, ist sowohl mit dem Auto wie mit dem öffentlichen Personennahverkehr nervenaufreibend und mit unverhältnismäßig langen Fahrtzeiten verbunden. In nahezu allen deutschen Städten ist das Verkehrsaufkommen bei der morgendlichen und abendlichen Rushhour ein gewaltiges Problem. E-Mobilität verringert zwar Lärm und Abgasemissionen, löst aber nicht das Kapazitätsproblem. Lösungskonzepte sehen Mobilitätsforscher:innen im Bereich eines flexiblen Wechsels zwischen den verschiedenen Verkehrsmitteln und in der Haltung: »Benutzen statt besitzen«. Ein wesentlicher Treiber für solcheMobilitätsstrategien ist die zunehmende Digitalisierung, die es ermöglicht, bei Bedarf per App ein Auto oder Fahrrad zu leihen oder das Fortbewegungsmittel zu wählen, das gerade zweckdienlich und verfügbar ist. Neben der Frage der Mobilität sind bereits heute viele Aufgaben von den Städten zu lösen, die immer noch als Zukunftsaufgaben bezeichnet werden. Schon jetzt ist beispielsweise an zu vielen Tagen im Jahr die thermische Belastung in den Innenstädten gesundheitsgefährdend hoch. Eine ganz andere Problematik, vor der die Stadtentwicklung steht, ist die zunehmende Verödung der Innenstädte. Erst verschwanden die individuellen, inhabergeführtenGeschäfte und das Handwerk, mittlerweile sorgen auch die ihnen folgenden Restaurants und Kneipen nicht mehr für das erhoffte Leben in der Stadt. Vom »Begegnungsraum« ist vieles Lichtjahre entfernt, was sich in deutschen Innenstädten tut. Fast 70 Prozent aller Städte klagen über Leerstände in besten Lagen, die schnell »ansteckend« wirken. Selbst die großen Ketten ziehen sich aus den Innenstädten zurück. Unsere Städte nehmen die Form eines Donuts an: außen ein fetter Rand, in der Mitte ein Loch. © slavun – stock.adobe.com

14 franziskaner 4|2022 »One fits all« gilt nicht für die Stadtentwicklung Diewichtigste Erkenntnis auf demGebiet der Stadtentwicklung ist wohl, dass es keinModell gibt, das für alle passt. Es geht um individuelle Entwicklungen – jeweils mit möglichst viel Bürgerbeteiligung – sowohl in Kleinstädten wie auch in den einzelnen Quartieren der Großstädte. Gleichwohl werden in den Prozessen mit Bürgerbeteiligung immer wieder ähnliche Bedingungen benannt, wie zukünftige Städte aussehen müssten, umdendort lebendenMenschenund ihrenBedürfnissengerecht zu werden. Die Stadt der Zukunft zeichnet sich demnach aus durch eine guteDurchmischung der Bevölkerung, umweltschonendeMobilität, Nutzung erneuerbarer Energien sowie klimafreundliche und bodenschonende Bauweisen. Besonders häufig wird derWunsch nach gutemLärmschutz, sauberer und schadstofffreier Luft, nach effizienten und preiswerten Netzen öffentlicher Verkehrsmittel sowie nach sicheren Fuß- und Radwegenetzen genannt. Auch die Idee des Teilens statt Besitzens und mehr Grün- und Wasserflächen, viel Platz für ein gutes Miteinander, Bewegung oder kreatives Spielen und natürlich kurzeWege in der Stadt spielen dabei stets eine wichtige Rolle. Wie die Lösungen aussehen werden, wird vor Ort so unterschiedlich sein wie die dort lebenden Menschen. Für die kurzenWege würde zumBeispiel die Rückkehr des Handwerks und Gewerbes aus den Außenbezirken in die Städte sorgen. Menschen machen Städte lebendig, nicht Läden Die ersten erfolgreichen Versuche, wieder Leben in die Stadt zu bringen, sind zumBeispiel in der 90.000-Einwohner-Stadt Lünen im Ruhrgebiet zu bestaunen. Dort wurde Schluß gemacht mit immer mehr und immer größerem Shopping. Das frühere Hertie-Kaufhaus, das zur ungenutzten Ruine verkommen war, wurde unter der Regie der Stadt von einer Wohnungsbaugenossenschaft übernommen und völlig entkernt. Entstanden ist ein modernes Gebäude mit Gewerbeflächen imErdgeschoss, Arztpraxen und 24 barrierefreieWohnungen in denObergeschossen. EinigeWohnungen haben sogar einen Garten, denn die oberen Geschosse wurden teilweise herausgeschnitten. Auf demDach der mittlerweile in die Innenstadt zurückgekehrtenMetzgerei wachsen nun Büsche und Bäume. Das alles hat sich überaus positiv auf die nun ebenfalls belebtere Umgebung der Lüner Innenstadt ausgewirkt. Ein schönes Beispiel, doch wie es sich übertragen lässt, bleibt abzuwarten. Gebäude umzuwidmen ist zwar technisch kein Problem, ökonomisch hingegen schon. Die Mieten, die die großenHandelshäuser zahlten, sind allzuweit vonWohnungsmieten entfernt. Selbst in Städten mittlerer Größe werden in Toplagenmonatlich bis zu 100Euro proQuadratmeter verlangt. Neben mutigen Ideen in Sachen Nutzungsmix und mehr Wohnungen in der Stadt braucht es daher sicher auch politische Prioritätensetzungen. Daneben steht auf der Agenda der Stadtplanung vor allemdas Entwicklen von Konzepten, die Antworten auf die schon heute spürbaren Folgen der klimatischen Veränderungen geben. Beton und Asphalt verwandeln sich im Sommer zu Hitzespeichern, und die zunehmend heftigeren Regenfälle bringen die Abwassersysteme an ihre Grenzen. Die Fachleute im Bereich der Stadtentwicklung hoffen mit smarten Lösungen die Probleme zu meistern. Fassadenbegrünung, Entsiegelung, Schwammstadt sind da nur einige der Schlagwörter. Technische Lösungen, die durch die zunehmende Digitalisierung geschaffenwerden, sollen auch einenumweltfreundlichen Mobilitätsmix ermöglichen, den sich alle leisten können. Städte waren schon immer ein Ort, an dem sich Neues entwickelte. Das gilt nicht nur für technische Errungenschaften; Städte waren immer auch Orte des Experimentierens mit neuen sozialen Formen des Zusammenlebens. Hinter dem immer wieder in Befragungen genannten »Mehr Raum zum Leben« stehen daher auch eine Vielzahl an Ideen, wie ein gutes Miteinander aussehen kann, und unterschiedliche Vorstellungen gemeinschaftlicherWohnprojekte. ImIdeenpool sind Mehrgenerationenhäuser oder auch Siedlungen ohne Auto, dafür mit gemeinschaftlicher Gemüseproduktion und vieles mehr. Das Experimentierfeld ist groß, das Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft und Begegnungsräumen ebenso. Wie sich die Zielvorstellungen »Weniger Verkehr, weniger Autos und weniger Belastungen für Gesundheit und Klima« und »Mehr Grün, mehr Kompaktheit und mehr Raum zum Leben« in den jeweiligen Städten und Quartieren realisieren lassen werden und wie das eine immer älter werdende Gesellschaft verändernwird, bleibt spannend. Gut, dass in den letzten Jahren das Bewusstsein gewachsen ist, dass die Betroffenen ihr Umfeld und die Stadt für morgen selbst gestalten können! Das kernsanierte ehemalige Hertie-Kaufhaus in Lünen bietet seit 2019 neben Gewerbeflächen 24 barrierefreie Wohnung © hans blossey – picture-alliance.com

15 franziskaner 4|2022 Interview mit Dr. MelanieWeber-Moritz, Bundesdirektorin des Deutschen Mieterbundes, und Sören Bartol, Staatssekretär im Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen EineZukunftsaufgabe Die Preise für viele Baustoffe sind in den letzten Jahren stark gestiegen, so auch der Preis für Bewehrungsstahl, der imMai 2021 ca. 45 Prozent teurer war als imMai 2020 Wohnraum für alle – bezahlbar und klimaneutral Interview und Bearbeitung: Thomas Meinhardt FrauWeber-Moritz, was ist der neuen Bundesregierung aus Ihrer Sicht beim Thema ausreichender und bezahlbarer Wohnraum bisher gut gelungen? ImKoalitionsvertrag wurden die richtigen Ziele benannt. Das Vorhaben, 400.000 neueWohnungen pro Jahr zu bauen, davon 100.000 geförderte Wohnungen, ist ein sehr wichtiges Ziel, für das auch der Mieterbund lange gekämpft hat. Denn wir brauchen diese Anzahl neuer Wohnungen, umden Bedarf vor allem in den Städten decken zu können. Mehr gewünscht hätte ich mir beimMietrecht. Hier brauchen wir eine stärkere Regulierung der Mieten, denn die Mieten steigen immer noch stark an und werden für viele Menschen kaum noch – oder gar nicht mehr – bezahlbar. Herr Bartol, wo liegen aus Ihrer Sicht in den nächsten Jahren die größten Herausforderungen beimThemaWohnen? Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben wir in Deutschland bis jetzt über eine Million Geflüchtete aufgenommen. Die Angriffe gegen die ukrainische Energie- und Stromversorgung zum beginnenden Winter und die Zunahme vonGeflüchteten aus anderenWeltregionenwerden voraussichtlichdazu führen, dassweitereMenschen inDeutschland aufgenommen werden müssen. 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr dürften von daher eher amunteren Rand des Mindestbedarfs liegen. Wir haben ein Riesenproblem in den urbanen Räumen und den Studierendenstädten, wo die Mietpreise oft explodiert sindund viel zuwenigWohnraumzur Verfügung steht. 400.000 neueWohnungen pro Jahr dürften von daher eher amunteren Rand des Mindestbedarfs liegen. In bestimmten ländlichen Regionen gibt es hingegen größere Leerstände. Neue Wohnungen werden also insbesondere in den urbanen Räumen benötigt. Wir tun alles dafür, um die 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr zu erreichen, obwohl die Rahmenbedingungen zurzeit schwierig sind: Dazu zählen die steigenden Zinsen, die die Bautätigkeit erheblich verteuern, die explodierenden Strom- und Heizkosten, die Inflation, die schon durch die Covid-19-­ Pandemie immer wieder gestörten Lieferketten, … Zudem müssen wir viel Baulandmobilisieren und haben das Problem, das wir eigentlich nicht mehr Flächen versiegeln und in Anspruchnehmen dürfen, umdie absolut notwendigenKlimaziele erreichen zu können. Es muss unser Anspruch als Koalition sein, diesen Widerspruch aufzulösen, um die sozialen und ökologischen Ziele nicht gegeneinander auszuspielen. FrauWeber-Moritz, ist aus Ihrer Sicht das Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr überhaupt realistisch zu erreichen? Und ist das überhaupt ein sinnvolles Ziel, wenn doch die Mieten für einen Großteil dieser Neubauwohnungen für die meisten Menschen gar nicht bezahlbar sind? Aus unserer Sicht müssen diese notwendigen Neubauwohnungen bezahlbar sein. Natürlich sehen wir auch die Probleme, die Herr Bartol benannt hat. Wir befinden uns in einer Zeit, in der die Kosten für das Bauen stark steigen. Und natürlich werden diese Kostensteigerungen besonders von den © countrypixel – picture-alliance.com

16 franziskaner 4|2022 gewerblichen Vermietern dann auch entsprechend umgelegt. Wenn wir insgesamt die massiven Kostensteigerungen bei den Mieten begrenzen wollen, dann sollte der gemeinnützige Wohnungsbau sehr viel stärker gefördert werden, um denen zu helfen, die die geringsten Einkommen haben. Sie haben auf dem freien Wohnungsmarkt die geringsten Chancen, eine Wohnung zu finden. Wir müssen dies tun, weil es einfach eine Lebensnotwendigkeit für alle Menschen ist, eine Wohnung zu haben. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau schon deutlich aufgestockt hat. Dennoch wird dies wohl nicht reichen, da jährlich 40.000 Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen. Es ist schon sehr ärgerlich, dass Wohnungen, die ja mit staatlichen Zuschüssen lange gefördert wurden, nach 10, 15 oder 20 Jahren aus der Sozialbindung herausfallen und dann nicht mehr für diejenigen bereitgestellt werden, die sie dringend benötigen. Frau Weber-Moritz, ist die Forderung des Deutschen Mieterbundes nach einem sechsjährigen Mietenstopp der Versuch, diese von Ihnen beschriebene Entwicklung irgendwie in den Griff zu bekommen? Der Mietendeckel in Berlin wurde ja vom Verfassungsgericht gestoppt und musste wieder rückgängig gemacht werden, allerdings mit der Begründung, dass das Bundesland hierfür nicht zuständig sei. Der Bund könnte natürlich einen Mietendeckel beschließen. Wir wollen mit dieser Kampagne auf die Grundidee des Mietendeckels aufmerksam machen, denn das wäre eine Möglichkeit, für eine gewisse Zeit die derzeitige und die künftige Kostensteigerung abzufedern. Unser Vorschlag geht dabei auf die unterschiedliche Situation der Mietenentwicklung ein, denn unsere Forderung nach einem sechsjährigenMietenstopp gilt nur für die angespanntenWohnungsmärkte und nicht für das ganze Land. Wir müssen hier dringend was tun, denn der Wohnungsneubau alleine wird die Probleme nicht lösen können. Herr Bartol, welche Möglichkeiten sehen Sie, diese starken Steigerungen bei den Mieten in denGriff zu bekommen? Hier steckt ja auch eineMenge sozialer Sprengstoff drin. Im September 2021 demonstrieren ca. 20.000 Menschen unter demMotto »Wohnen für alle! Gemeinsam gegen hohe Mieten und Verdrängung« gegen den Mietenwahnsinn und für einen Mietenstopp Dr. Melanie Weber-Moritz ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin und hat zu Fragen des Klimaschutzes promoviert. Seit 2019 ist sie Bundesdirektorin des Deutschen Mieterbundes. Von 2015 bis 2019 war sie Geschäftsführerin der Deutschen Stiftung Verbraucherschutz. © ben kriemann – picture-alliance.com

17 franziskaner 4|2022 Zwei der drei Koalitionsparteien können sich beimMietrecht sehr viel weitergehende Maßnahmen vorstellen, aber in der Koalition gilt der Koalitionsvertrag. Wir haben erreicht, dass beispielsweise die Mietpreisbremse bis 2029 verlängert wird. Die großen Fehler wurden hier in der Vergangenheit gemacht. Es wurden leider von Kommunen unter Beteiligung unterschiedlicher Parteien große kommunale Wohnungsbestände privatisiert und zumeist an großeWohnungsbaukonzerne verkauft, für die es natürlich um die Realisierung von Gewinnen geht. Sie aber nun zu enteignen, wie es im Berliner Volksentscheid gefordert wird, halte ich nicht für zielführend. Die öffentliche Hand müsste nämlich die Konzerne mit viel Geld entschädigen, und es würde dafür kein neuer Wohnraum zur Verfügung stehen. Da halte ich es für sehr viel sinnvoller, das Geld in den Neubau von Wohnungen zu investieren, wodurch sich der Wohnungsbestand insgesamt erhöht. Unbestreitbar ist der gigantische Problemdruck in vielen Städten. Das trifft selbst Familien mit höheremEinkommen. Es gibt beispielsweise inBerlinoft gar keinepassendenWohnungenmehr, selbst wennman das Geld dafür hat. Und diejenigen, dieweniger Geld zur Verfügunghaben,werden in ihrer eigenenStadt inweit entfernteRandbezirke verdrängt.Dadurch werden sozial gemischte Viertel immer seltener. Dagegen müssen wir dringend etwas tun, um den Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht zu gefährden. Aus meiner Sicht brauchen wir also auf jeden Fall deutlichmehr Neubau, müssen aber gleichzeitig dieMieterschutzregelungen immer wieder überprüfen und nachsteuern. Für mich ist allerdings auch klar, dass diese Problemlagen nicht allein von der öffentlichenHand gelöst werden können. Wir brauchen auch den frei finanziertenWohnungsmarkt. Wir brauchen diejenigen anständigen Vermieter:innen – und davon gibt es Hunderttausende in diesemLand –, die nicht nur auf die allerhöchste Rendite schauen. Das sind oft Menschen, die ein bisschen Geld investiert haben, um nach dem Berufsleben ihre Rente etwas aufzubessern. Diese kleinen Vermieter:innen darf man jetzt nicht in eine Ecke mit großen renditegesteuerten Investmentfirmen, Miethaien etc. stellen. Diese große Gruppe müssen wir stärken, beispielsweise durch bessere Abschreibungsmöglichkeiten, damit wir imnächsten Jahr aus diesemTal der Tränen beimWohnungsbau herauskommen. Mit der Anhebung der linearen Abschreibung für Mietwohnungsneubau von 2 auf 3 Prozent sowie einer neuen Sonderabschreibung für klimagerechten Mietwohnungsneubau setzen wir hier zum 1. Januar 2023 wichtige Impulse. Unser Ministerium setzt auch nicht nur auf Neubau, sondern unterstützt auch die Sanierung von Wohnungen, die derzeit gar nicht nutzbar sind, oder die Aufstockung von Gebäuden oder den Ausbau von Dachgeschossen. Dadurch entstehen keine Sozialwohnungen, aber mehr Wohnraum, und das hilft auch bei der Entlastung des Wohnungsmarktes. Grundsätzlich brauchen wir starke kommunale Wohnungsbauunternehmen. Am besten in jeder Kommune eines. Wenn die Kommunen zu klein sind, sollten sie sich mit Nachbarkommunen zusammenschließen. Solche Unternehmungen in öffentlicher Hand müssen wir gezielt und nachhaltig fördern, um die Zahl der Wohnungen in diesem Bereich Stück für Stück zu erhöhen. Das ist auch ein Weg, um Nebenkostensteigerungen besser in den Griff zu bekommen, denn diese sind ja faktisch an vielen Orten schon zu einer zweitenMiete geworden, sodass dieWarmmieten für viele – zum Beispiel für Studierende und Auszubildende – oft kaum noch zu bezahlen sind und junge Leute gezwungen sind, wieder zu den Eltern zu ziehen. FrauWeber-Moritz, Neubauten bedeuten immer einen großen Ressourcenverbrauch und haben eine weitere Versiegelung des Bodens zur Folge. Gleichzeitig hat sich die Koalition umfangreiche und absolut notwendige Ziele für die Klimaneutralität des Wohnungssektors vorgenommen und damit ein großes Programm zur energetischen Sören Bartol ist Politikwissenschaftler und seit 2002 direkt gewählter Abgeordneter für Marburg-Biedenkopf und bereits seit vielen Jahren für die Themen Bau, Wohnen und Stadtentwicklung zuständig. Seit Dezember 2021 ist er Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen. grafik © archjoe freepik.com | © jesco denzel

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=