Franziskaner - Winter 2022

6 franziskaner 4|2022 Wahrnehmung eines Grundrechts Wohnen grafik © archjoe freepik.com Zum Jahresanfang die Renovierung derWohnräume zu planen und im Frühjahr nicht nur einen Großputz, sondern eventuell gleich einen Umzug ins Auge zu fassen, war in früheren Jahren an der Tagesordnung. Davon zeugen auch heute noch die Saisonangebote der Discounter. Gegenwärtig steht das Thema »Wohnen« weniger für Aufbruch und Frühlingsgefühle, vielmehr stellt es sich für zunehmend mehr Menschen als außerordentlich belastender Problemfall dar. Tag für Tag erreichen uns Nachrichten, die eine Vorstellung davon entstehen lassen, was es bedeutet, kein Dach über dem Kopf zu haben oder ohne Strom und Heizung in halbzerstörtenHäusern undWohnungen bei Minusgraden auszuharren. Noch fürchterlicher als die Bilder aus der Ukraine sahen vor wenigen Jahren die Bilder aus dem syrischen Aleppo oder den Vorstädten von Damaskus aus. Man konnte sich kaum vorstellen, dass Menschen unter solchen Bedingungen hausen müssen. Von einer solchen Situation ist das, was wir hier in Deutschland erleben, zweifellos Lichtjahre entfernt, und dennoch: Nach neuesten Zahlen leben knapp 40.000 Menschen auf der Straße, insgesamt 263.000 Menschen haben kein Obdach. Das ist eine gewaltige Zahl. Zum Vergleich: Die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden hat nur 15.000 Einwohner:innen mehr. Diese Problemlage ist gewiss nicht nur dem Wohnungsmarkt geschuldet, aber er trägt seinen Teil dazu bei. Die Mieten sind in den letzten Jahren fortwährend überproportional gestiegen, und nach übereinstimmenden Angaben fehlten bereits im Herbst 2021 1,5 bis 2 Millionen Mietwohnungen in Deutschland, hauptsächlich in Groß- und Universitätsstädten. Lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen selbst für einfache Wohnungen in weniger begehrten Lagen sind eine Folge. In Uni-Städten werden auch dunkle Kellerzimmer zuQuadratmeterpreisen vermietet, die noch vor wenigen Jahren für teure Appartements aufgerufen wurden. Große Wohnungsbaugesellschaften enteignen? Wie ernst die Lage für Menschen in Großstädten ist, zeigt auch der erfolgreiche Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co enteignen« in Berlin im September 2021. Obwohl sich bis auf die Partei »Die Linke« alle Parteien gegen den Volksentscheid aussprachen, kam eine klare Mehrheit zustande – ein Votum für Enteignung von Privateigentum, was gerade in Deutschland bis vor Kurzem kaum jemand für möglich hielt. Die Ursachen für diese für sehr viele Menschen schwierige Situation liegen vor allem in einer verfehlten Wohnungsbaupolitik in den letzten Jahrzehnten. In der irrigen Annahme, es gäbe in Thomas Meinhardt Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenenWohnraum. Das Menschenrecht auf Wohnen ist Teil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard, wie es in Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verbrieft ist. Das Recht auf Wohnen beinhaltet mehr, als nur ein Dach über dem Kopf zu haben. Der Wohnraummuss laut dem UN-Sozialpakt angemessen sein. Ob er angemessen ist, bemisst sich an sieben Kriterien: gesetzlicher Schutz der Unterkunft (zum Beispiel durch einen Mietvertrag), Verfügbarkeit von Diensten (unter anderem Trinkwasser, Energie zum Kochen, Heizen und Beleuchten), Bezahlbarkeit des Wohnraums, Bewohnbarkeit der Räume (unter anderem Schutz vor Kälte, Hitze, Regen, Wind), diskriminierungsfreier Zugang zu Wohnraum, geeigneter Standort (zum Beispiel Nähe zu Gesundheitsdiensten, Schulen usw.) und kulturelle Angemessenheit (zum Beispiel bestimmte Baumaterialien oder Raumaufteilungen).

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