Franziskaner - Frühling 2023

12 FRANZISKANER 1|2023 Der Not gehorchen Mich fasziniert an der Regel eines ihrer zentralen Worte: »die Regel geistlich leben«. Ein Schlüssel zum Zugang dieser Weisung finde ich in dem Rat, den Franziskus seinen Brüdern gibt, wenn sie in irgendeine Not kommen. Auf Notsituationen angemessen zu reagieren, ist für ihn eine Form, die »Regel geistlich zu leben«. Den Notwendigkeiten, also dem, was die Not wendet, entsprechend Resonanz zu geben, ist für ihn wichtiger als Buchstabengehorsam gegenüber der Regel. Bei aller Strenge in der Armutsfrage gilt für Franziskus: Die Brüder dürfen nach Maßgabe der Orte und Zeiten und in einer endgültigen Regel nicht verdrängen ließ. Neben ihm waren die Protagonisten dieser Regel einige gebildete Brüder, darunter Juristen, vonseiten der römischen Kurie Kardinal Hugolino, ein alter Bekannter des Franziskus, und nicht zuletzt die 1223 auf dem Pfingstkapitel in Assisi versammelten Provinziale. Gerade aus den Kreisen der Letzteren kam die Forderung nach einer ordentlichen Regel, die dann am 29. November 1223 vom Papst bestätigt wurde. Dass Franziskus sich bei der Endabfassung einmischte, wird im Text selbst deutlich. Die vielen Sätze mit Verben in der ersten Person Singular, in der Ichform, verweisen auf Texteinfügungen durch Franziskus selbst. Auch die auffallend ermahnende Ausdrucksweise, verbunden mit konkreten Weisungen, entspricht seinem gängigen Sprachstil und eher nicht dem kurialen Wortschatz. Auch wenn nur wenige Bibelzitate eingefügt sind, so bleibt doch eine theologisch-spirituelle Ausrichtung des Textes erkennbar, die dem Geist des Heiligen entspricht. Wenn auch die Anpassung der ursprünglichen Lebensform an einen formalen Regeltext für einen sich etablierenden Orden deutlich wird, so bleiben doch die wichtigsten originalen Charaktere des ursprünglichen Lebens – »den Fußspuren des Herrn Jesus folgend« – erhalten: die entschiedene Treue zum Evangelium, der auch der Gehorsam der Kirche gegenüber unterworfen ist; die Vermeidung einer starken Hierarchisierung durch die grundlegende Haltung der Geschwisterlichkeit; die Bedeutung der Gemeinschaft in Balance mit der Würde des Einzelnen; der prophetische Charakter der Verkündigung des Gottesreiches; die Überwindung von Herrschafts- und Machtstrukturen durch den Dienstcharakter; der Sendungsauftrag einer missionarischen Berufung. Allerdings ging die von Franziskus gewollte friedliche und dienende Lebensweise der Brüder unter Andersgläubigen verlustig. Das war der päpstlichen Kurie angesichts der gewollten Kreuzzüge wohl doch zu viel des Guten. Wenn auch das Wesentliche der ursprünglichen Lebensform und Berufung gerettet wurde, so war die Regelbestätigung von 1223 doch ein einschneidender Wendepunkt für die »franziskanische Bewegung«. Diese Regel hat für die Gemeinschaften des sogenannten Ersten Ordens der Minderbrüder bis heute Gültigkeit. Natürlich haben sich die Zeitumstände rasant geändert. Aber die grundlegenden Elemente der franziskanischen Berufung, die trotz aller Widrigkeiten in der Regel zum Tragen kommen, inspirieren und bestimmen nach wie vor sogenannte Konstitutionen, mit denen der Geist des Evangeliums, wie Franziskus und seine Brüder ihn erfasst haben, in unserer Zeit lebbar wird. Johannes-Baptist Freyer OFM lehrte als Professor für Theologiegeschichte und Franziskanische Theologie an der Päpstlichen Universität Antonianum in Rom. Von 2005 bis 2011 war er Rektor der Universität. Heute ist er als Referent bei »Franziskaner Helfen«, der Missionszentrale der Franziskaner, in Bonn tätig. kalten Gegenden entsprechende Kleidung und entsprechendes Schuhwerk tragen. Trotz strengen Geldverbots dürfen sie alles tun, um kranken Brüdern zu helfen. Trotz Reitverbot dürfen sie das Pferd benutzen, wenn beispielsweise eine Krankheit es erfordert. Wer moralisch schwer versagt und sich gegen die Gebote Gottes oder der Kirche versündigt hat und sich in Gewissensnot befindet, soll vom Minister mit Erbarmen aufgenommen werden und Verzeihung zugesprochen bekommen. Dazu gehört auch die Not, dass Brüder manchmal nicht wissen, wie sie Evangelium und Regel überhaupt in ihren konkreten Situationen leben können.

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