Franziskaner - Frühling 2023

15 FRANZISKANER 1|2023 die Regeltexte die für das Zusammenspiel grundlegenden Vereinbarungen fest. Diese sind nicht von einer Gründergestalt vorgegeben, wie sie etwa Benedikt von Nursia väterlich-meisterlich Anfängern und »Söhnen« auferlegt. Die Lebensformen des franziskanischen Ersten und Zweiten Ordens sind durch brüderliche und schwesterliche Kapitelsversammlungen über Jahre gereift, beraten und in eine stimmige Endgestalt gebracht worden. Dass die Brüderregel »je nach Ort und Zeit und Klima« (BR 4,2) zu interpretieren ist, wahrt die Freiheit der Brüder im gemeinsamen Umgang mit dem Grundlagendokument. Mit der Fantasie der Liebe In der Brüderregel, die vor 800 Jahren vom Papst bestätigt wurde, fehlen viele spirituelle Passagen, die Franz zwei Jahre zuvor mit Gefährten in den Regeltext eingefügt hatte. Sie ließen das Dokument allzu persönlich gefärbt erscheinen, sodass das Pfingstkapitel der Brüder 1221 und päpstliche Juristen den Text zur Verdichtung in die Hände des Gründers zurücklegten. In der Endredaktion fielen neben Gebeten und einem Aufruf an die ganze Menschheit zur gemeinsamen Gottesliebe auch viele Bibelzitate weg. Doch hält der Regeltext in den eröffnenden Worten wie im Schlusssatz unmissverständlich fest, worin die tragende, wegweisende und inspirierende Orientierung liegt: »Leben und Regel der Minderbrüder ist dieses: unseres Herrn Jesus Christus heiliges Evangelium zu beobachten ...« (BR 1,1) – »auf dass wir ... das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus beobachten, was wir fest versprochen haben« (BR 12,4). Klara tut es Regel und Leben »Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses …« So beginnt unsere Ordensregel. Regel und Leben – die Regel steht nicht alleine da. Es gibt sie nur zusammen mit dem Leben. Und eigentlich ist das Leben wichtiger als die Regel. 2009, beim 800-jährigen Jubiläum der (verloren gegangenen) Urregel des heiligen Franziskus haben wir uns schon einmal ausführlich mit unserer Ordensregel beschäftigt. Damals war es für mich eine tröstliche Erkenntnis, dass die Regel gar nicht so wichtig ist. Wichtiger ist das Leben. Der Gedanke, der mir am stärksten hängen geblieben ist, hat damit zu tun: Unsere Ordensregel ist keine Vorschrift, sie ist eine Nachschrift. Franziskus hat nicht als Schreibtischtäter eine Regel geschrieben, die den Brüdern vorschreibt, wie sie leben sollen. Franziskus hat gelebt, und dann hat er in der Regel nachgeschrieben, was er mit seinen Brüdern gelebt hat. Und wenn Regel und Leben nicht zusammenpassten, dann wurden die Regel und später die Konstitutionen und Statuten neu geschrieben, damit es wieder stimmte. … Weil es um das Leben geht. Martin Lütticke OFM, Dortmund Franz gleich und fügt zudem ins Herzstück ihrer konzentrisch komponierten Regel die Lebensform der Frühzeit ein: Die Schwestern leben als freie Töchter des himmlischen Vaters und innige Freudinnen des Heiligen Geistes das Evangelium als Weggefährtinnen Jesu, liebend-­ sorgsam unterstützt von den Brüdern (KlReg 6,3–4). Franziskus ermutigt in derselben Freiheit seinen Gefährten Leo, der sich nähere Weisungen erhoffte: »Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Christus zu gefallen und seinen Fußspuren und seiner Armut zu folgen, so tut es mit dem Segen Gottes und brüderlich verbunden mit mir« (Leo). Dazu sind keine detaillierten Regeln erforderlich, sondern die Freiheit und die Fantasie der Liebe, persönlich-individuell wie gemeinsam-geschwisterlich. Fresko von Andrea de' Bartoli in der Katharinenkapelle der Basilika San Francesco in Assisi

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