Franziskaner - Frühling 2023

8 FRANZISKANER 1|2023 Psychologie ist uns bekannt, dass wir Menschen Freiheit suchen und der Bindung bedürfen. Unser Leben beginnt mit der Ent-Bindung, wir werden ent-bunden und lernen, in Freiheit und neuen Bindungen unterwegs zu sein. Ein Leben in Freiheit und Bindung scheint ohne Regeln nicht zu funktionieren. Ohne Regeln wird das Leben kompliziert Regeln basieren darauf, dass sie von allen eingehalten werden – in der Regel. Nur so zeigen sie ihre Wirkung. Wenn es nur Ausnahmen gäbe – und es gibt sie mehr als genug, selbst gewählte oder von außen zugebilligte –, würde es äußerst kompliziert, ein gutes Miteinander zu ermöglichen. Erst wenn Regeln allgemeingültig sind, von allen Menschen, die die gleiche Sache tun, akzeptiert und anerkannt werden, kann es gelingen, die damit angestrebten Ziele auch zu erreichen. In autoritären Systemen gibt es zu viele Regeln. Sie kontrollieren das Leben und gestehen dem oder der Einzelnen nicht zu, eigenständig und selbst reguliert mit Situationen umzugehen. Sie haben hier in erster Linie den Machterhalt zum Ziel und nicht ein gutes Leben für alle. Wir Menschen haben ein Gespür für Regeln: ob sie sinnvoll sind, ob sie bevormunden, ob sie dem Leben dienen. Und wenn es Regeln gibt, die mit dem Menschenverstand nicht nachzuvollziehen sind, reagieren wir gereizt und unvernünftig. Sind Regeln in Fleisch und Blut übergegangen und somit akzeptiert, finden sie Zustimmung. Regeln haben Bedeutung für das Leben in Beziehungen. Das gilt in gleicher Weise für die Ehebeziehung wie für ein Gemeinschaftsleben. Immer dort, wo mehrere Menschen sich einem Ziel verschreiben, braucht es Regelungen, um dem gemeinsamen Projekt Stabilität zu geben. Benedikt von Nursia verfasst als erster Mönch seine Regel für das Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft und beschreibt darin die Grundvollzüge, die für jeden Mönch gelten sollen, insbesondere jedoch für den Abt (Oberen). Die Benediktsregel gilt als Ausweis religiösen Lebens und wurde von vielen Gemeinschaften übernommen und eventuell den jeweils besonderen Lebensumständen angepasst. Regeln für das Unterwegssein in der Welt Franziskus hat mit seinem Lebensentwurf, der nicht den Rückzug hinter Klostermauern, sondern das Unterwegssein in der Welt beinhaltete – »Euer Kloster ist die Welt« –, eine andere, alternative Ausrichtung für ein Leben in Gemeinschaft geschaffen. Von daher war die Regel des heiligen Benedikt nicht brauchbar für eine Gruppe von Brüdern, die sich auf den Spuren Jesu in der Welt unterwegs wussten und das Evangelium als alleinige Richtschnur ansahen. Doch je mehr Brüder sich der franziskanischen Bewegung anschlossen, desto stärker wurde der Ruf nach einer Regel für die Gemeinschaft. Franziskus sträubt sich anfangs gegen einen geschriebenen Text und verweist die Brüder auf die Heilige Schrift. Dort, so ist er überzeugt, steht alles darüber, wie ihr Leben gelebt werden soll. Doch die Rufe nach einer verfassten Regel werden lauter. Die Brüder suchen nach etwas Verbindlichem, an dem sie sich orientieren können. Franziskus schreibt eine erste Regel, die von Papst Honorius nicht anerkannt wird: viel zu sperrig, viel zu viele Zitate aus den Evangelien, viel zu wenig konkret. Diese sogenannte Nicht-bullierte- (= nicht bestätigte) Regel beschreibt eher eine Haltung, die nötig ist, um den Fußspuren Jesu folgen zu können, und gibt weniger konkrete Verhaltensregeln. Sie ist eine Art Orientierungsrahmen. Der Einzelne und die Bruderschaft insgesamt müssen immer wieder neu prüfen, welcher in einer bestimmten Situation der richtige Weg, der Weg Jesu ist – eine große, andauernde Herausforderung, ein ständiger Suchprozess, der vor Irrtümern sicher nicht gefeit ist. Das war für viele zu viel und vielleicht auch für eine so große Bruderschaft kaum lebbar und für die römische Kirche erst recht nicht akzeptabel. Also sollte eine neue Fassung her. 1223 ist es dann so weit: Papst Honorius III. erkennt die zweite Regel, die sogenannte »regula bullata«, an. Hinweis zum Weiterlesen: Die Texte der Nicht-bullierten-Regel und der Bullierten Regel in deutscher Sprache finden sich online unter: >> www.franziskaner.net/bullierte-regel/ Buchempfehlung: Franziskus-Quellen, Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse. Gebundene Ausgabe. 1800 Seiten. Verlag Butzon & Bercker, 2009, Preis: 98 Euro Dieses Werk bietet erstmalig eine Sammlung aller bedeutenden Quellen zur Geschichte der franziskanischen Bewegung des Hochmittelalters in deutschsprachiger Übersetzung und mit ausführlicher Kommentierung.

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