Franziskaner - Frühling 2023

9 FRANZISKANER 1|2023 Lebt das Evangelium! Meines Erachtens kann man die Regel des heiligen Franziskus und der ersten Brüder in drei Worten zusammenfassen: Lebt das Evangelium! Auf die Regel haben ich und alle meine Mitbrüder die feierliche Profess abgelegt. Deshalb ist die Regel das verbindende Fundament unserer Gemeinschaft und schafft Zusammenhalt. Wie Franziskus dann das Leben nach dem Evangelium auslegt, ist auf der einen Seite berührend; es zeigt seine Sanftmut, wenn er schreibt, dass die Brüder in Not zu den Ministern Zuflucht nehmen und diese sie gütig und mit Herzlichkeit aufnehmen sollen (BR 10,5). Auf der anderen Seite sind manche Stellen von einem hohen Ideal geprägt, wenn er »streng gebietet«, dass die Brüder sich nichts aneignen sollen, weder Haus noch Ort noch irgendeine Sache (BR 6,1). Da sieht unsere Wirklichkeit ganz anders aus. Ich wohne derzeit in Berlin in einem großen Haus und habe ein sehr schönes Zimmer. So musste ich lernen zu akzeptieren, dass ich das Ideal des Franziskus nicht leben kann. Seine Regel und Auslegung mag ich trotzdem. Sie sind mir ein »Stachel im Fleisch«, der mich und die Gemeinschaft immer wieder anspornt, neu in die Tiefe des Evangeliums einzutauchen, um dieses mit ansteckender Begeisterung zu leben. Johannes Küpper OFM, Berlin In zwölf Kapiteln mit wenigen Bibelzitaten und in einer damals üblichen juristischen Sprache verfasst, entspricht sie eher einer klaren Ordensregel. Die Brüder haben nun ein Werk in den Händen, dem nichts mehr hinzugefügt werden soll. Der Orden der Minderbrüder hat eine Lebensform gefunden, der dem eher bunten und mitunter ungeordneten Miteinander Einhalt gebietet und Klarheit schafft, nach innen und nach außen. Das gibt den Brüdern Sicherheit, nimmt jedoch auch Spontaneität und Freiheit. Die Regel schafft Verbindendes, nimmt aber Visionen. Die Regel ordnet, engt jedoch den Freiraum des Bisherigen ein. Den Brüdern, die die Regel einfordern, schenkt sie wohl Verlässlichkeit und Stabilität. Der Regel sei nichts mehr hinzuzufügen, schrieb Franziskus. Dabei wird er einige Zeit später selbst erfahren, dass es erforderlich sein kann, Regeln auch ändern zu können (und zu müssen), wenn sie dem Leben entgegenstehen. Die Ordensstatuten, die Ausführungsbestimmungen zur Regel, haben dies im Laufe der 800 Jahre auch erfahren, meistens durch die Anforderungen einer sich verändernden Welt. Und heute? Das Freiheitsempfinden wächst – die Einsicht in Regeln und die Rücksichtnahme auf andere schwindet. Was passiert, wenn Regeln außer Kraft gesetzt werden und Willkür um sich greift? Eine Frage, die nicht nur Menschen in der Vergangenheit beschäftigt hat, sondern auch heute von großer Sorge begleitet wird, wenn sich Strömungen Bahn brechen, die das Regelwerk des verantworteten Miteinander-Lebens, im Kleinen wie im Großen, national und international, außer Kraft setzen. Regeln sind notwendig; mit ihnen garantieren wir eine Ordnung für ein gemeinsames Leben. Sie müssen immer wieder auf ihre Legitimität hin überprüft werden, auf ihr maßvolles Reglement und ihre Anwendbarkeit. Regeln, von Menschen für Menschen gemacht, dürfen nie das letzte Wort haben. Sie bedürfen der Veränderung, so wie sich auch das Leben verändert. Ohne ihren Kern aufzugeben, bedarf es der behutsamen Korrektur, um lebensfähig zu bleiben. Die einzige Verbindlichkeit, die es zu erhalten gilt, ist diese: Es muss dem Leben dienen. Dies gilt es immer wieder sicherzustellen. Eine Franziskusfigur in Berlin trägt die Regel

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