Franziskaner Herbst 2024 Weitere Themen: Tief verwurzelt Interview zum christlichen Antisemitismus +++ Franciscans International Hilfe für Geflüchtete +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de VERWUNDUNG Die Franziskanische Familie feiert »800 Jahre Stigmata des heiligen Franziskus«
»Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank WASSERSPEIER AM KÖLNER DOM © SUPERBASS / CC BY-SA 4.0 (VIA WIKIMEDIA COMMONS) 4 Nachrichten und Anregungen 6 Verwundung • Die Franziskanische Familie feiert »800 Jahre Stigmata des heiligen Franziskus« • Gott herausfordern • Vom Wunden-Verbinden • Verletzlich bin ich und aufgehoben • Gespür für das Verwundbare 20 Kirchenasyl Was bringt es den Betroffenen, und was gilt es zu beachten? 23 Geistlicher Wegbegleiter 27 Botschaft des Papstes 28 Christlicher Antisemitismus Jahrhundertelang tief verwurzelt 30 Franziskanische Geschichte »Der Herr gebe euch Frieden« 35 Bonaventura Zum 750. Todestag des Heiligen 38 Franziskanischer Freiwilligendienst FEE – ein guter Weg zur Verständigung 41 In memoriam | Nachrichten 42 Franciscans International (FI) Hilfe für Geflüchtete: Aufgeben ist keine Option 44 Kursprogramm 45 Bruder Rangel kocht 46 Kommentar 47 Impressum Germanicus auf Reisen Inhalt Franciscans International (FI) Abigail Martin (Mitte) ist Mitarbeiterin in einem franziskanischen Projekt in Großbritannien. Für ihre Arbeit mit Geflüchteten im Kloster St. Chad in Birmingham sind die Tätigkeit von FI bei den Vereinten Nationen und die konkrete Unterstützung außerordentlich wichtig. Seite 42 Christlicher Antisemitismus Wir sprachen mit dem Rabbiner Jehoschua Ahrens und dem Schweizer Jesuiten Christian Rutishauser über die Ursachen des historischen christlichen Antisemitismus und die Erwartungen insbesondere jüdischer Partner an die christlichen Kirchen. Seite 28
3 FRANZISKANER 3|2024 Wenn Gott unter die Haut geht … Mein Lieblingsfilm über das Leben des heiligen Franziskus wurde von der italienischen Regisseurin Liliana Cavani im Jahr 1988 gedreht; in der Hauptrolle der Schauspieler Mickey Rourke als Franz von Assisi. Franziskus wird in diesem Film so gar nicht als »Bruder Immerfroh« dargestellt, der verzückt durch Klatschmohnfelder tanzt. Vielmehr verkörpert Rourke den umbrischen Heiligen als einen leidenschaftlichen Menschen, der sein Glück zunächst im Ruhm und im Vergnügen sucht. Nach einer Berufungserfahrung in dem zerfallenen Kirchlein San Damiano und der Begegnung mit einem Aussätzigen entwickelt sich Franziskus dann zu einem ebenso leidenschaftlichen Gottsucher und hingebungsvollen Freund der Armen und Ausgegrenzten. Regisseurin Cavani lässt »ihren« Franziskus im Laufe der Handlung immer mehr mit seinen Mitbrüdern in Konflikt geraten, an seiner Berufung zweifeln, mit Gott ringen. Er will das Evangelium leben – radikal, geschwisterlich, mit leeren Händen und offenem Herzen. Doch seine junge Ordensgemeinschaft entwickelt sich offenbar in eine ganz andere Richtung. Schließlich zieht er sich mit seinem Gefährten, Bruder Leo, in die Einsamkeit des Berges La Verna zurück. Dort soll dann das Unbeschreibliche geschehen sein: Gott schenkt Franziskus zum zweiten Mal in seinem Leben die Erfahrung einer alles verwandelnden Berufung. Christus geht ihm gewissermaßen unter die Haut. Der Tradition nach empfängt Franziskus die Stigmata. »Deus mihi dixit (Gott hat zu mir gesprochen)!«, so beschreibt der »Mickey-Rourke-Franziskus« später seinem Gefährten Leo die tiefe Gotteserfahrung, die ihm geschenkt worden ist. »Gott hat zu mir gesprochen!« – Das werden wahrscheinlich die wenigsten von uns so klar über ihr Glaubensleben sagen können. Und doch gab es vielleicht auch in Ihrem Leben schon Momente, in denen Ihnen Ihr Glaube »unter die Haut« ging, Momente, in denen Christus durchschien … Es ist jetzt 800 Jahre her, dass Franziskus laut seinem Biographen Thomas von Celano am Berg La Verna die Wundmale Jesu empfing. Aus Anlass dieses 800-jährigen franziskanischen Jubiläums beleuchten wir in dieser Ausgabe aus verschiedenen Blickwinkeln das Thema »Stigmata«. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre und noch ein paar goldene Herbsttage! Br. Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister) © UNITED ARCHIVES – PICTURE-ALLIANCE.COM
4 FRANZISKANER 3|2024 Der Klara-von-Assisi-Weg in Elspe Im Herbst vor vier Jahren konnte die Katholischen Frauengemeinschaft (kfd) in Elspe den ersten Klara-Pilgerweg in Deutschland eröffnen. Dieser etwa acht Kilometer lange Rundweg in Lennestadt-Elspe im Sauerland wird als Ort der Ermutigung, Stärkung und Inspiration beschrieben. An fünf Stationen mit Stelen werden Themen zu Leben und Glauben der heiligen Klara behandelt und Impulse für das eigene Glaubensleben gegeben. Kontakt: Tel. 0 27 21 35 81, E-Mail: info@kfd-elspe.de Die Website der kfd Elspe hält umfangreiche Informationen bereit: ▶▶ www.kfd-elspe.de/klara-von-assisi-weg Der Weg kann alleine oder in der Gruppe gegangen werden. Geführte Wanderungen sind auf Anfrage bei der kfd Elspe möglich. Die Aufnahme unten entstand beim diesjährigen Grundlagenseminar der franziskanischen Familie zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung, das im Juli in Lennestadt stattfand. LANDSCHAFT OBEN © SCALEWORKER - STOCK.ADOBE.COM | REST © STEFAN FEDERBUSCH OFM Franziskanische Orte entdecken
5 FRANZISKANER 3|2024 Kursübersicht auf Seite 44 Eines unserer Angebote KOCHEN © M.STUDIO – STOCK.ADOBE. COM | ZUG © MAURICE BECHTHOLD – FRANZISKANER HELFEN Kochen und Spiritualität für Männer 26./27. 10. 2024 Ratatouille – dem Leben Geschmack geben Ins Ratatouille kommt, was Garten oder Kühlschrank an Gemüse hergeben. Wie die Zutaten am Ende zusammen schmecken, hängt davon ab, für welche Gewürze der Koch sich entscheidet. Aus welchen Zutaten besteht Ihr Leben gerade? Ist es »ganz nach Ihrem Geschmack«? In unserer Männergruppe gehen wir den Fragen unseres Lebens nach, die sonst zu kurz kommen … Anmeldung: Andreas Brands OFM, Haus Ohrbeck bei Osnabrück, Tel.: 0 54 01 33 60, ▶▶ www.haus-ohrbeck.de IL CANTICO Francesco von Assisi und die Geschichte des Sonnengesangs Oratorium für Chor, Soli und Orchester Am 5. Oktober 2024 findet um 20 Uhr die Uraufführung des Oratoriums IL CANTICO in der Liebfrauenkirche in Frankfurt am Main statt. Das Oratorium von Helmut Schlegel OFM (Text) und Peter Reulein (Musik) beginnt mit der Reise von Franziskus in den Orient, wo er den Sultan Muhammad al-Kamil kennenlernt, und endet mit dem Aufenthalt von Franziskus in San Damiano, wo er den Sonnengesang vor 800 Jahren komponiert und gedichtet hat. Ab Herbst 2024 kann das Oratorium auch an anderen Orten aufgeführt und dabei den jeweiligen räumlichen Verhältnissen sowie den gesanglichen und musikalischen Kapazitäten angepasst werden. helmut.schlegel@franziskaner.de Unsere lebendige Erde Franziskanische Zukunftswerkstatt am 24. 10. 2024 Der Sonnengesang des Franz von Assisi – eine Ressource für unsere Zeit? Anlässlich des 800-jährigen Jubiläums des Sonnengesangs des Franz von Assisi lädt »Franziskaner Helfen«, die Missionszentrale der Franziskaner, ins Bonner LVR-Landesmuseum ein. Die Gäste erwartet ein abwechslungsreicher Abend mit Lyrik, musikalischen Darbietungen und inspirierenden Einblicken zum Sonnengesang. Kostenlose Tickets und weitere Informationen: ▶▶ www. franziskaner-helfen.de Menschenrechte fahren in Bonn und Köln mit der Bahn. »Franziskaner Helfen« hat einen Bahnwaggon mit Auszügen aus der UN-Charta der Menschenrechte und dem Grundgesetz bedrucken lassen, um das Thema Menschenwürde im Alltag sichtbarer zu machen. ▶▶ www. franziskaner-helfen.de/unantastbar-menschenwuerde 75 Jahre Erklärung der Menschenrechte Dignitas infinita: »Die unendliche Würde des Menschen ist unantastbar«, so der Titel der jetzt erschienenen Ausgabe des Magazins »Tauwetter«. Das aktuelle Heft kann ohne Rechnungsstellung bestellt werden: tauwetter@franziskaner.de oder in digitaler Form auf www.franziskaner.de/tauwetter heruntergeladen werden. LANDSCHAFT OBEN © SCALEWORKER - STOCK.ADOBE.COM | REST © STEFAN FEDERBUSCH OFM
6 FRANZISKANER 3|2024 Stigmatisation bezeichnet das Auftreten von Wunden am Körper eines lebenden Menschen, die aus einer spezifischen, religiösen VERWUNDUNG Die Franziskanische Familie feiert »800 Jahre Stigmata des heiligen Franziskus« »In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war es die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche.« aus: Haruki Murakami, Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki, S. 266 Viele biografische Ereignisse aus dem Leben des heiligen Franziskus jähren sich in den Jahren 2023 bis 2026 zum 800. Mal. 800 Jahre sind ein Anlass, die prägenden Momente in unserem Magazin FRANZISKANER aufzugreifen, um uns neu von ihnen inspirieren zu lassen. Im Herbst 1224 soll Franziskus auf dem Berg La Verna die Wundmale Christi empfangen haben – an Händen, Füßen und in der Seite des Brustkorbs. 800 Jahre später merken wir, dass es uns nicht leichtfällt, uns dieser spirituellen Begebenheit zu nähern und sie zu deuten. Sein Biograph Thomas von Celano überliefert das spirituelle Ereignis, das sich in der Nacht auf den 17. September im Jahr 1224 auf dem Berg La Verna südlich von Florenz zugetragen habe. Nach einer langen Zeit der Krise, der Dunkelheit, der Depression, der Frage nach seiner Berufung, der Unsicherheit, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hat – in der dunklen Nacht seines Glaubens also –, bittet Franziskus um ein Zeichen Gottes, das seinen Weg bestätigen möge. Franziskus‘ Körper ist durch seine asketische Lebensweise schon geschunden. Er soll laut Celano und dem auf ihm basierenden Bonaventura die Wundmale Christi empfangen und sie als die gewünschte Bestätigung seines Minderbruderseins gedeutet haben. Liliana Cavani bringt diese Szene auf eindrucksvolle Weise in ihrem Film »Francesco« von 1988 zur Geltung. Franziskus betet Tag und Nacht in den unwirtlichen Bergen am Südwesthang des Monte Penna. Er befindet sich in einer tiefen Krise und ringt mit sich und mit Gott um seinen Weg. Nach einer rauen und nassen Septembernacht erwacht Franziskus am Morgen mit den sichtbaren Wundmalen Christi an seinen Händen und Füßen und an seiner Seite. Mir ist immer noch die Bestürzung, ja mehr noch die ungläubige Freude vor Augen, die auf Franziskus‘ Gesicht zu sehen war, als er beim Aufwachen am Morgen die Wundmale entdeckte. Beschämt ob dieses Erweises verbindet er seine Füße und Hände mit Stofffetzen, damit die Wundmale für die Brüder nicht sichtbar sind. Es muss für Franziskus ein beglückendes Ereignis gewesen sein, schmerzhaft zwar, jedoch eine Auszeichnung, die Wunden Christi tragen zu dürfen und mit ihm gemeinsam zu leiden. Darin spiegelt sich seine Christusfrömmigkeit wider, die uns heute in ihrer Ausdrucksform fremd erscheint, jedoch zutiefst die biblische Botschaft verkörpert: Gott wird Mensch, und dieser Mensch, Jesus Christus, leidet. An dieser Stelle werden die beiden großen heilsgeschichtlichen Momente Weihnachten und Ostern miteinander verbunden: Gott macht sich klein, und Gott leidet. In dieser Kurzfassung des Glaubens wird deutlich: Die Krippe und das Kreuz sind aus demselben Holz geschnitzt. Diese dem franziskanischen Ansatz entsprechende Frömmigkeit hat seit dem 13. Jahrhundert die Theologie geprägt. »Mit Christus leiden« wird für Franziskus zur Richtschnur für sein weiteres Leben. Widerhall findet diese Spiritualität im Zeichen des Ordens weltweit: über einem Kreuzbalken kreuzen sich der nackte Arm Christi und der mit dem Ärmel des Habits bekleidete Arm des Franziskus. An beiden Händen sind die Wundmale zu sehen. In der christlichen Wirkungsgeschichte haben mehrere Menschen die Wundmale empfangen. Sie zeugen von einem »heiligmäßigen« Leben und bezeugen eine innige Verbundenheit zum gekreuzigten Christus. Christus ähnlich werden Einen früheren Hinweis zur innigen Beziehung zu Christus finden wir in dem Gebet, das Franziskus in der mit seinen eigenen Händen wiederaufgebauten kleinen Kirche San Damiano unterhalb der Oberstadt Assisi vor dem Kreuzbild gebetet hat. Nachdem er vom Kreuz her die Stimme Jesu gehört hat, die ihn auffordert, sein Haus wiederherzustellen, betet Franziskus vor der bekannten Kreuzikone: Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, hier und in Andreas Brands OFM
7 FRANZISKANER 3|2024 Haltung als Wundmale Christi gedeutet werden. Das Verb »stigmatisieren« ist im Deutschen bereits im 16. Jahrhundert belegt. allen deinen Kirchen auf der ganzen Welt, und wir preisen dich, weil Du durch dein heiliges Kreuz die Welt erlöst hast. So lässt sich für Franziskus über das Ereignis des Empfangs der Wundmale sagen: Franziskus wird in das verwandelt, was er liebt. Der Ausgangspunkt der Wundmale, wie sie in die christliche Tradition Eingang gefunden haben, liegt in der Kreuzigung Jesu. In allen vier Evangelien wird die Passion Jesu von der Verhaftung bis zur Grablegung verkündet. Ihnen schließen sich die Berichte von der Auferstehung an. Ich kann mich erinnern, wie ich im Kino in der Verfilmung der »Passion Christi« in die blutigen Qualen und die menschenverachtende Hinrichtung hineingezogen wurde und das erste Mal verstanden habe, dass es nicht ein harmloser Text ist, der uns am Palmsonntag und Karfreitag in der Liturgie vorgelesen wird, sondern die Beschreibung eines grausamen Todes, der mit großen körperlichen Strapazen und fürchterlichen Schmerzen verbunden ist. Der Auferstandene aber trägt die Wundmale. Sie werden zum Erweis dessen, der am Kreuz gestorben ist. Jesus zeigt seine Wunden. Er versteckt sie nicht, hält sie seinen Jüngern unter die Nase. Und Thomas, der nicht dabei ist, macht das Sehen und Betasten der Wundmale zur Bedingung seines Glaubens. Jesus nimmt Thomas ernst. Er zeigt ihm seine Wunden. Er lädt ihn ein, diese Wunden zu berühren, damit er sie im wahrsten Sinne des Wortes be-greifen kann. © TAUAV STOCK.ADOBE.COM Fresko »Stigmatisation des heiligen Franziskus« in der Basilika San Francesco in Assisi. Die franziskanische Tradition datiert das hier von Giotto dargestellte Ereignis auf den Herbst 1224. Diese Lesart geht auf die ersten franziskanischen Biographen zurück. Nach dem Stand der aktuellen franziskanischen Forschung spricht allerdings vieles dafür, das die nach Franziskus' Tod entdeckten Wunden, erst kurz vorher entstanden sind. Gleichwohl erlebte Franziskus auf dem Berg La Verna während einer tiefen Krise zwei Jahre vor seinem Tod eine überwältigende Vision. Sie dokumentiert sich in einem Lied, das er noch auf dem Berg verfasste. Dieser Text lässt Rückschlüsse auf die tiefe spirituelle Erfahrung zu, die Franziskus im Herbst 1224 auf La Verna machte. Vor dem Hintergrund der heutigen Forschung wäre die nachhaltig prägende Vision allerdings getrennt von der Stigmatisation zu betrachten.
8 FRANZISKANER 3|2024 Etymologisch ist das Verb »stigmatisieren« über das Mittellateinische stigmatizare »mit den Wundmalen Christi zeichnen« auf das Unser Auferstehungsglaube ist ein Glaube gegen das Verschweigen und das Verdrängen der wunden Punkte unseres Lebens. Wir sind verletzlich Wunden zuzulassen, sie gar zu zeigen, ist ein schwieriges Unterfangen, oft besetzt mit Scham und Unwohlsein. Denn eine Wunde verunstaltet, zerstört die Schönheit der Haut, hinterlässt Narben. Narben nach einer OP zu zeigen, ist nicht schick. Wunden und Narben ziehen sofort den Blick auf sich. Manchmal kann es für einen Patienten wichtig sein, sie zu zeigen, manchmal möchte man nicht, dass ein anderer sie sieht. Wunden und ihre Narben zeigen die Verletzlichkeit des Körpers, des Lebens. Wir bleiben zeit unseres Lebens nicht unversehrt. Verwundungen hinterlassen ihre Spuren, bleiben sichtbar. Kleine und große Verwundungen bleiben nicht aus. Ungewollt gesellen sie sich zu unserem Körper dazu und werden sichtbar. Körperliche Wunden gibt es viele. Und sie schmerzen. Viele ereignen sich im Alltag. Wer erinnert sich nicht an einen Sportunfall auf der Schotterpiste, bei der die Haut des Beines oder Armes aufgerissen wurde? Schon das Verletzen des Fingers beim Raspeln von Möhren hat seine Wirkung. Die Grunderfahrung über unsere Lebensjahre heißt: Wir sind verletzlich. Wie gut in mancher Situation, dass es den Wundverband gibt. Und Menschen, die sich – fachmännisch oder fachfraulich – der Wunden annehmen. Wie gut es tut, wenn einer pustet, salbt, verbindet. Die großen Wunden, Verwundungen, wie im Krieg, zeigen das Ausmaß der Verwundung, die wir Menschen uns gegenseitig antun. Doch wie sieht es aus mit dem nicht Zeigbaren, den Verwundungen der Seele? Wir tragen sie in uns, sie haben Auswirkungen auf unser Leben, unser Wohlbefinden, unsere Stimmungslage, unsere Beziehungsfähigkeit. Auslöser dafür sind Umgangsformen anderer mit uns, die tiefgehende Kränkungen mit sich bringen, durch Demütigung und Verachtung begünstigt, durch Missbrauch ausgelöst. Wer nimmt die seelischen Wunden wahr? Wer kann sie heilen? Therapeutische Angebote gibt es, Plätze in der Therapie erfordern Geduld und Wartezeit. Wenn wir aber nicht dafür sorgen, dass Menschen ihre Wunden versorgen, tragen sie das Unverarbeitete ein Leben lang mit sich. Auch Gott lässt sich verwunden Unsere christliche Religion hat die Wunden als Ausgangspunkt des Glaubens. Die Anschlussfrage für uns lautet: Wie gehe ich in meinem Glauben mit Verletzungen um? Vorsicht ist geboten bei allen Deutungen von Ereignissen. Es kann keine Glorifizierung von Verwundungen geben, nur eine individuelle Interpretation im Nachhinein. Der eingangs zitierte Text aus dem Roman von Haruki Murakami öffnet zu einer allgemein menschlichen Erkenntnis: »In diesem Moment erkannte Tsukuru Tazaki es. Er begriff endlich in den Tiefen seiner Seele, dass es nicht nur die Harmonie war, die die Herzen der Menschen verband. Viel tiefer war es die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche.« Ich erinnere mich an das Franziskusspiel, das 1982 in meiner Heimatkirche aufgeführt wurde und das Leben des Franziskus durch Erzählung, Lieder und Spiel hat lebendig werden lassen. Darin gab es das Lied: »Die heiligen fünf Wunden, sie werden nicht verbunden, sie glühen und blühen in unserer Zeit. Die heiligen fünf Wunden, sie werden nicht verbunden, sie sprengen, sie sprengen die dunkle Zeit.« Wilhelm Willms beschreibt die fünf Wundmale und gibt ihnen Namen, die für die Wunden der Menschen bis heute gelten. Einsamkeit – in einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft. Verlassenheit. Heimatlosigkeit – bei fast 100 Millionen Flüchtlingen weltweit. Gottverlassenheit – die Frage des Menschen nach einem Gott, der sich nicht mehr einmischt in unsere Welt. Sinnlosigkeit – das große Schweigen bei der Frage nach dem, was meinem Leben Sinn verleiht. Dazu die schier unbeantwortbare Frage nach den sichtbaren und unsichtbaren Wunden unserer Zeit: • Verwundung der Erde durch Abholzung, Wasser- und Luftverschmutzung und ein nur am Profitdenken ausgerichteter Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen; • Leid durch Hunger, Naturkatastrophen und Krankheit; • Verletzung und Tod durch Kriegsgeschehen; • Hass und unversöhnliches Lagerdenken zum Beispiel durch die Kriege zwischen Russland und der Ukraine und zwischen Israel und der Hamas; • Isolation durch Corona; • Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch die Kirche und andere Institutionen; • Sprachverrohung, die Menschen mit Menschen nicht mehr kommunizieren lässt; • … Es ist notwendig, dass es Menschen gibt, die den Finger in die Wunde legen. Die aufdecken, was verschwiegen werden sollte. Die Missstände anprangern. Die die Wahrheit ans Licht holen. Die benennen, was schmerzt. Die Wundmale Jesu am Kreuz – sichtbar für alle Welt – nehmen die Wunden, die von Generation zu Generation an Menschen verübt werden, nicht weg, und sie verhindern sie nicht. Sie lassen uns erkennen, dass selbst Gott nicht die Wunden gescheut und ausgespart hat am Körper seines Sohnes. So sehr liebt Gott, dass er sich verwunden lässt. So sehr liebt Gott, dass er einer von uns ist, erkennbar an seinen Wunden.
9 FRANZISKANER 3|2024 Spätlateinische stigmāre »brandmarken« bzw. das Griechische stigmatízein »punktieren, brandmarken« zurückzuführen. Gott herausfordern Mit Franziskus, Leo und einem Falken auf La Verna Martina Kreidler-Kos Rau und zerklüftet liegt der Berg La Verna im Apennin, eine wilde Schönheit, ein bisschen furchteinflößend, ungeheuer faszinierend und vor allem einsam. Franziskus hat sich über den Sommer 1224 dort eine intensive Gebetszeit vorgenommen. Bis zum Erzengelfest Ende September will er bleiben. Er ist zwei Jahre vor seinem Tod eine Berühmtheit, ein Quasi-Heiliger. Wo er hinkommt, strömen die Menschen in Scharen zusammen. Alle wollen ihn hören und sehen und am liebsten auch anfassen, weil sie sich über den Kontakt mit ihm ein Stück Kontakt mit dem Himmel erhoffen. Franziskus kann nirgendwo mehr unerkannt hin, überall wird er belagert. Der Berg ist tatsächlich so etwas wie ein Rückzugsort für ihn. Er hat ihn schon vor Jahren von einem Bewunderer, einem Grafen, geschenkt bekommen. Im Laufe der Zeit ist diese Landschaft eine Art Schutzraum für ihn geworden, eine seiner liebsten Einsiedeleien für intensive Wochen des Gebetes. Nicht allein Franziskus ist nicht allein auf dem Berg, das wäre viel zu riskant. Er hat enge Vertraute dabei, allen voran Bruder Leo, einen der ersten Priester in seiner Bruderschaft. Auf vielen Darstellungen der Ereignisse von La Verna ist Leo gemeinsam mit Franziskus abgebildet. Meist sitzt er traurig ein bisschen abseits, aber dennoch gut sichtbar. Die beiden waren wirklich Freunde. Doch nicht nur geliebte Gefährten begleiten Franziskus. Er ist auch umgeben von einer Schöpfung, die, obwohl sie wild und urwüchsig ist, es gut mit ihm meint. So gibt es die Erzählung von einem Falken, der spontan das Gebetsleben der Brüder unterstützt: Weil sie in dieser Einsamkeit nachts oder in aller Herrgottsfrühe nicht so leicht zum Gebet gerufen werden können, übernimmt diese Aufgabe ein Greifvogel. Beide – der Freund und der Blick vom Berg La Verna © KERSTIN MEINHARDT
10 FRANZISKANER 3|2024 Der Begriff wird zunächst selten gebraucht. Ab dem 19. Jahrhundert wird stigmatisieren auch übertragen verwendet, es entsteht Vogel – sind wichtige Botschafter, wenn es darauf ankommt, dieser himmlischen, aber auch unheimlichen Geschichte der sogenannten Stigmatisation einen geerdeten Halt zu geben. So nah wie möglich Franziskus kennt das Leben in Einsiedeleien, da ist er kein Anfänger. Er hat eigens eine Regel für solche Auszeiten geschrieben. Doch in diesem Spätsommer 1224 ist alles anders. Es geschieht etwas völlig Unerwartetes und Großes. So groß, dass der Heilige für den Rest seines Lebens nicht darüber sprechen möchte. Was da passiert, kostet ihn nicht nur Kraft und den Rest seiner ohnehin schon angeschlagenen Gesundheit, es trennt ihn auch von den anderen Menschen – selbst von seinen vertrauten Gefährten. In einer Phase intensivsten Gebets nämlich verändert sich sein Körper. Es tauchen Hautveränderungen auf, die wie Nägel aussehen: in den Handflächen, an den Füßen und an einer Seite. Franziskus, der Christus zeit seines Lebens so nah sein wollte, wie er nur konnte, wird ihm plötzlich auch äußerlich ähnlich. Die Wunden Jesu von der Kreuzigung an Karfreitag in Jerusalem um das Jahr dreiunddreißig tauchen fast zwölfhundert Jahre später am Leib dieses kauzigen kleinen Minderbruders in Mittelitalien wieder auf. Das klingt im wahrsten Sinne des Wortes mysteriös, fragwürdig, spektakulär, unglaublich – nennen wir es, wie wir wollen. Das muss auch so sein, denn es ist eine Geschichte, die noch nie zuvor da gewesen ist. Sie ist erst einmal nirgendwo einzuordnen, weder für Franziskus selbst noch für seine Freundinnen und Freunde. Von der Kirche, die noch Jahrzehnte darüber streiten wird, ganz zu schweigen. Es ist das erste Mal, dass die Menschheit mit diesem Phänomen, dieser Idee, diesem Motiv der Wundmale Jesu am Körper eines Menschen konfrontiert wird. Das ist so neu, so anders, so fremd, dass die Sprache ihre liebe Mühe hat, das Geschehen auszudrücken. Was man zunächst findet, sind Bilder von einem geflügelten, gekreuzigten Seraph, einer Art Engel, von dem in den Quellenschriften die Rede ist. Diese Erzählung bleibt alles andere als leicht zu deuten – unabhängig davon, ob man sie für bare Münze nimmt oder im übertragenen Sinn versteht. Deshalb könnten die auf den ersten Blick so unscheinbaren Begleiter, Bruder Leo und Bruder Falke, wie Franziskus den Greifvogel liebevoll nennt, eine Brücke bilden, sich der Geschichte wenigstens zu nähern. Schmerzen und Schrecken Franziskus hat diese Hautveränderungen nicht nur gespürt, sie müssen fürchterlich wehgetan haben. Später wird erzählt, wenn jemand Franziskus‘ Seite berührt habe, sei er vor Schmerz zusammengezuckt. Jenseits dieses Schmerzes aber haben sie ihn erschreckt. Niemand wird sagen können, ob das ein frohes oder ein angstvolles Erschrecken gewesen ist. Sicher aber hat er die veränderten Körperstellen versteckt. Was da passiert war, war intim. Das gehörte nicht in eine neugierige Öffentlichkeit, sondern in den Innenraum einer sehr besonderen Liebe. Deshalb machen ihn diese Wunden einsilbig. Sie schwächen und sie sondern ihn ab. Damit strapazieren sie auch seine engsten Freunde. Leo muss gespürt haben, dass da etwas geschieht, zudem er keinen Zugang hat; dass er, der so vieles mit Franziskus erlebt hat, dieses Geschehen nicht mit ihm teilen kann. Die Quellenschriften berichten, dass Leo in diesen Wochen traurig wird, manches erinnert an Depression. Kein Abwenden Und genau darauf reagiert Franziskus. Er hat sich verwunden lassen von seiner Liebe zu Gott, er leidet daran und versucht trotzdem – oder gerade deshalb – seinen Freund zu trösten. Uns ist ein kleiner Brief überliefert, ein Segen, den Franz für Leo aufgeschrieben hat. Solch ein Brief war damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit, es war aufwändig, an Pergament zu kommen und an Schreibgeräte. Ein Schreiben war immer bedeutend, groß und für alle Ewigkeit gedacht. Es war auf jeden Fall für Leo ein klares Zeichen: Du bist und bleibst mir wichtig! Leo hat das kleine Schreiben von Franziskus, das auf der einen Seite einen Lobpreis Gottes und auf der anderen Seite jenen Segen und eine persönliche Widmung enthält, auch genauso verstanden. Er hat das Brieflein von da an noch fast sechzig Jahre lang in seiner Kutte getragen. Es ist erhalten geblieben, und man kann es heute in der Basilika San Francesco in Assisi bestaunen. Obwohl etwas schier Unglaubliches mit Franziskus geschieht: Er vergisst über die Nähe zu Christus nicht die Nähe zu Menschen, die ihm etwas bedeuten. Segen für Bruder Leo
11 FRANZISKANER 3|2024 die Lesart »jemanden oder eine Gruppe von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale ausgrenzen oder auch abwerten«. Dr. Martina Kreidler-Kos ist Leiterin des Seelsorgeamtes im Bistum Osnabrück, Lehrbeauftragte für Theologie der Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Münster und in der franziskanisch-klarianischen Forschung aktiv. Sie ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt mit ihrer Familie im Osnabrücker Land. Unter dem Stichwort »Kirchenkram« veröffentlicht Martina Kreidler-Kos zudem einmal im Monat neue Videos auf YouTube. Sorge für den Geschundenen Und dann ist da noch dieser Falke. Diese Geschichte erzählt nicht so sehr etwas über Franziskus, sondern über Gott. Über ihn denken wir in diesem Zusammenhang meist gar nicht so intensiv nach. Aber im Herbst 1224 ist nicht nur Franziskus ein anderer geworden, auch Gott im Himmel zeigt mindestens eine ganz neue Seite von sich. Auch er scheint ergriffen, berührt regelrecht von dieser Intensität, die ihm Franziskus da entgegenbringt. Seine Freude darüber zeigt er auf eine sehr diskrete, leise, fast zärtliche Art: Er hält seine Schöpfung an, für den geschundenen Franziskus zu sorgen. Dieser Falke nämlich, der Franz und seine Brüder auf La Verna in ihren Höhlen immer zuverlässig nachts zum Gebet geweckt hat, kommt auf einmal später. Der Biograf Thomas von Celano schreibt: »Als nun Franziskus unter seiner Krankheit schwerer als sonst zu leiden hatte, schonte ihn der Falke und kündigte ihm nicht die frühen Nachtwachen an. Wie wenn er von Gott selbst belehrt worden wäre, schlug er erst beim Morgengrauen und auch nur mit leichtem Schlag die Glocke seiner Stimme.« (2 C 168) Jetzt, wo Franziskus so verwundet ist, da hält es Gott für heilsam, wenn er etwas länger schlafen kann. Eine neue Intensität Was könnte das alles mit unserem Glaubensleben zu tun haben? Franziskus war ein ganz besonderer Christusfreund; er hatte eine regelrecht körperliche Sehnsucht nach dem Sohn Gottes. Er hat sein ganzes Leben auf die Nachfolge Christi fokussiert; man könnte fast sagen, er hat Gott herausgefordert zu dieser neuen Qualität von Nähe. Das tun wir alle sicher nicht. Wir sind Menschen des 21. Jahrhunderts, und unsere Fragen – auch unsere Glaubensfragen – sind völlig andere. Für die Wundmale als körperliche Verbindung zu Gott fehlen uns vielleicht die Sinne. Aber für Franziskus‘ Worte nicht. »Wer bist du, liebster Gott, und wer bin ich?« Dieses Gebet, eines der kürzesten und intensivsten, das uns von Franziskus überliefert ist, soll er auf La Verna immer wieder gesagt, gemurmelt, geflüstert haben. Diese gebetete Frage kommt geradewegs aus seinem eigenen Karfreitag – eben nicht im Frühling, sondern im Herbst 1224, rund um das Fest der Kreuzerhöhung am 14. September. »Wer bist du, liebster Gott, und wer bin ich?« In diesem kurzen Gebet steckt eine verrückte Ambivalenz. Franziskus fragt nach Gott, als würde er ihn gar nicht kennen: »Wer bist du?« Das fragen wir, wenn wir jemandem zum ersten Mal begegnen. Da sind wir neugierig, ganz offen, da kann noch alles Mögliche passieren. Wenn man fragt: »Wer bist du?«, dann ist man einander noch fremd. Aber dann dieser Zusatz, »liebster Gott«. So nah, so zärtlich, so vertraut. Franziskus ermutigt uns, so dürfen wir beten: mit Gott reden, als würden wir ihm zum ersten Mal begegnen, ihn überhaupt nicht kennen, und gleichzeitig, als wäre er die Liebe unseres Lebens. In dieser ganzen Spannbreite darf sich unser Fragen nach Gott abspielen. Und es darf noch eine Frage dazu gestellt werden. Die ist uns gegenwärtigen Menschen ungeheuer vertraut: »Wer bin ich?« Wer will ich sein? Das ist die ganze menschliche Existenz in einem Satz; nicht in selbst zentrierter Nabelschau, sondern – franziskanisch gesprochen – mit weitem, glaubendem Blick: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist meine Perspektive? Was ist unser aller offener Horizont? Franziskus‘ unglaubliche Nähe zu Gott wird sicher nicht unsere Nähe sein. Das muss sie auch nicht, für Gott ist die Intensität nicht entscheidend. Es ist nicht so, als stünde er uns gegenüber und einer wie Franziskus, der traute sich eben dichter heran als wir anderen alle. Nein, Gott ist längst bei uns, in uns, näher als nah, aber er überlässt uns die Frage, wie tief wir das spüren wollen. Er ist immer in Kontakt, aber wir entscheiden, wie intensiv wir uns da hineingeben. Franziskus war verrückt diesbezüglich, je intensiver, desto besser. Aber dass es so nahe geht, bis zu den Wundmalen Jesu am eigenen Leib, hat selbst ihn überrascht. »Wer bist du, liebster Gott, und wer bin ich?« Die Antwort, die Franziskus damals bekommen hat, bleibt ganz ihr Geheimnis. Sie ist Sache zwischen den beiden. Eine Antwort, die wir vielleicht hören könnten, wenn wir uns ganz in unsere eigene Geschichte hineingeben: »Ich bin der, der dich liebt und der sich wünscht, von dir geliebt zu werden.« PORTRÄT © ANDREAS KÜHLKEN
12 FRANZISKANER 3|2024 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Begriff stigmatisieren in der übertragenen Verwendung besonders häufig Vom Wunden-Verbinden Was heißt Heilung? Maria Goetzens MMS Heute findet Ivan den Weg in die Elisabeth-Straßenambulanz (ESA) der Caritas in Frankfurt am Main. Für gewöhnlich trifft ihn das Pflegepersonal bei der aufsuchenden Arbeit mit dem Ambulanzbus in der Fußgängerzone. Ivan ist gezeichnet vom Leben ohne Obdach – wie die meisten, die in diesen Ambulanzräumen medizinische Hilfe suchen. Schweigend hält er der Krankenschwester seine geschwollene und eitrig verschmierte Hand hin. Die Botschaft ist unmissverständlich: »Schau mal! Hilf mir!« Die hingehaltene Hand bedarf keiner besonderen Sprachmitteilung. Die Wunde liegt buchstäblich »auf der Hand«. Schon nach kurzer Wartezeit kann Ivan einen der Behandlungsräume betreten und erfährt professionelle Hilfe, obwohl er keinen gültigen Krankenversicherungsschutz besitzt. Auch hat er seinen Ausweis verloren und besitzt aktuell nichts als die Kleider an seinem Leib. Hier kann er »ankommen«, mit dem, was ihn ausmacht. Den Weg in die Notfallambulanz eines Krankenhauses sucht er nicht. Er hat Angst, fortgeschickt oder nach Bezahlung gefragt zu werden. Jetzt wird bei ihm nicht nur die stark entzündete Hand versorgt. Ich werde als Ärztin hinzugerufen, und schon nach kurzem Wortwechsel kann sich Ivan auf eine weitere körperliche Untersuchung einlassen. Anschließend hilft ihm der Krankenpfleger beim Kleiderwechsel und unterstützt ihn bei den notwendigen Hygienemaßnahmen. Ivan ist – wie so oft – mäßig alkoholisiert. Bereitwillig lässt er alle erforderlichen Maßnahmen über sich ergehen und nimmt die gereichten Tabletten ein. Nach knapp 45 Minuten verlässt er die Ambulanzräume wieder und setzt sein Straßenleben fort. Ivan hat aufgrund seiner Herkunft keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Seine zunehmend schwere Suchterkrankung mit ihren Folgen verhindert, dass er einer Arbeit nachgehen und so für seine Sozialleistungen selbst aufkommen kann. Ohne ein festes Einkommen durch einen gesicherten Job wird er sich niemals eine Unterkunft finanzieren können. So bleibt ihm nur ein Leben in prekärer Lage. Zurück in sein Heimatland will und kann Ivan nicht mehr. Sein Elternhaus ist verkauft, und seine Verwandten leben außerhalb des Landes. Ivans Körper und Geist sind geschwächt, sodass er eine lange Reise kaum unbeschadet überstehen dürfte. Dennoch hört er manchmal, wenn er betrunken am Straßenrand liegt und Passanten sich dadurch »gestört« fühlen, den Zuruf: »Fahr doch nach Hause!« Die meisten gehen jedoch achtlos an ihm vorüber. Kaum einer weiß etwas von seiner Lebensgeschichte, der Trennung von seiner Frau vor vielen Jahren, dem anschließenden Jobverlust und dem langsamen »Weg nach unten«. Ivan ist einer von denen, die auf Frankfurts Straßen verelenden.
13 FRANZISKANER 3|2024 im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Randgruppen gebraucht. Zudem steigt die Verwendungsfrequenz sehr stark an. Dr. Maria Goetzens trat 1983 in die Ordensgemeinschaft der Missionsärztlichen Schwestern ein. Seit über 25 Jahren arbeitet sie als Ärztin in der Elisabeth-Straßenambulanz (ESA) des Caritasverbandes Frankfurt am Main, deren Hauptaufgabe es ist, kranke und obdachlose Menschen in Wohnungsnot zu versorgen Der Brennpunkt der Liebe Ich frage mich: Was heißt hier Heilung? Gibt es die für Ivan überhaupt noch? Ist seine Alkoholsucht nicht wie ein Suizid auf Raten in schier aussichtsloser Lebenslage? Ivans Situation ist kein Einzelschicksal. Er teilt dieses mit vielen kranken, obdachlosen Menschen in der Stadt und all jenen, die nicht die notwendigen Hilfen erfahren – aufgrund struktureller und finanzieller Hürden und Gesetze. Auch mit dieser Realität wird das Team der ESA täglich konfrontiert. Welche Antwort finde ich auf die Nöte von Ivan, die ein Echo in meinem Herzen hinterlassen? »Wenn du wirklich liebst – bist du erfinderisch, versuchst du zu entdecken, bist du interessiert, bist du geduldig und langmütig«, sagte Dr. Anna Dengel, Tiroler Ärztin und Ordensgründerin. Doch angesichts solcher Begegnungen wie mit Ivan reibe ich mich an diesen Worten. Ivan ist ein Mensch am Rande der Gesellschaft. Doch mit seiner Lebensgeschichte und seinen Nöten holt er mich hinein in den »Brennpunkt der Liebe«. Auf seinen fehlenden Zugang zur medizinischen Regelversorgung, seine prekäre Lebenssituation gibt es keine einfachen Antworten und Lösungen! Sein Recht auf Gesundheit, Heimat, Nahrung scheint eingeschränkt, er lebt am Rand dessen, was konform ist, am Rand von Gesellschaft und Kirche. »Die Kirche ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen, an die Ränder zu gehen, nicht nur geografisch, auch an die Ränder der menschlichen Existenz: an die Ränder des Mysteriums der Sünde, des Schmerzes, der Ungerechtigkeit, der Ignoranz und religiösen Indifferenz, des Denkens und allen Elends.« (Papst Franziskus) Wunde Punkte Menschen wie Ivan konfrontieren mich mit den eigenen »Rändern«. An ihnen, diesen Brennpunkten des Lebens, darf ich erkennen, was gesellschaftlich gesehen oft »draußen bleibt« an unbequemer Frage, Konfrontation mit unheilbarem Leid oder Tod. In diesen Begegnungen werde ich auch immer mit den Realitäten meiner menschlichen Existenz konfrontiert: Leben ist verletzbar, ist endlich, reißt Wunden an Leib, Geist und Seele! Wenn ich mich entscheide, wie Ivan, berührbar zu bleiben und das Leben der kranken Wohnungslosen selbst zu berühren, sei es nur beim Verbinden einer Wunde, riskiere ich auch die Berührung meiner »wunden Punkte«: Ich werde konfrontiert mit Lebensfragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Manchmal werde ich schmerzlich konfrontiert mit der eigenen Grenze und Ohnmacht, die die Frage nach Gott neu stellen lässt. »Die verletzlichsten unter unseren Brüdern und Schwestern erweisen sich als unsere wahren Meister, als die, die uns den Weg ins Mysterium Gottes weisen.« (Martha Zechmeister) Begegnungen wie die mit Ivan können meinen Blick verändern, hin zu dem, was wesentlich im Leben ist und »wirklich« zählt. Plötzlich offenbart sich mir die ungebrochene Würde eines Menschen in aller Verelendung, oder seine/ihre Kraft wird spürbar, geschenktes Vertrauen, die Gabe, Verletzbarkeit zu zeigen, berührbar und offen zu sein für »Wundheilung«. Es ist der Blick der Liebe, die Perspektive Gottes, die mich einlädt, Widersprüche nebeneinander auszuhalten und nicht gleich auflösen zu müssen. Und auch wenn ich den bohrenden Schmerz angesichts all der Ungerechtigkeit und des Unheilen empfinde, merke ich in dieser Haltung, wie jenseits der Grenze von Ohnmacht und Elend auch die Kostbarkeit von Leben sichtbar wird. Letztlich bin ich dann die Beschenkte und Empfangende in der Begegnung mit einem Menschen wie Ivan! »Wenn du liebst, willst du wirklich dienen und nicht nur arbeiten …« Im Kontext der Elisabeth-Straßenambulanz heißt das für mich, von den Armen und Verwundeten in unserer Gesellschaft zu lernen, was wirklich dem Leben dient. Gemeinsam mit anderen gilt es, die Zusammenhänge von Armut und Gesundheit besser zu verstehen, Missstände und unheile Strukturen aufzudecken und auf Veränderungen hinzuwirken, die Heilung und Gerechtigkeit für alle ermöglichen – auch für jene am Rande wie Ivan. »Deus Caritas est.« PORTRÄT © SOPHIE SCHÜLER | BEHANDLUNGSBILD © CATHIA HECKER
14 FRANZISKANER 3|2024 Das vom Verb abgeleitete Substantiv Stigmatisierung ist jüngeren Datums, es begegnet den Forschenden erst seit der Wende Verletzlich bin ich Pierre Stutz Im Anfang ist der Ursegen, nicht die Ursünde »Merci la vie« heißen jene drei Worte, die ich mir jeden Morgen neu zuspreche. Jeden Morgen danke ich der göttlichen Schöpferkraft für das Geschenk meines Lebens. Ich bin tief verwurzelt in der jüdisch-christlichen Bibel. Auf der ersten Seite der Bibel, im Buch Genesis, werde ich all-täglich erinnert an das große JA, das sich jeden Tag in uns erneuert, vor all dem Tun. Die Ewige schuf uns Menschen als ihr Abbild, als weiblich und männlich. Diese Verheißung schenkt mir einen weiten Raum, um auch wohlwollend mit meinen Grenzen und meinen Verletzungen umzugehen. Die biblische Hoffnungsbotschaft ist nicht fixiert auf das Defizitäre, auf die Blockierungen, auf die Härte des Lebens, sondern sie bestärkt uns im Vertrauen, dass wir auch an unseren durch-kreuzten Hoffnungen wachsen und reifen können. Interreligiös können wir diese Zusage entdecken, immer schon umhüllt zu sein vom Segen Gottes. Zu einer Spiritualität der Verwundbarkeit gehört das Eintauchen in den zärtlichen Segen Gottes, der größer ist als unser Herz. Diesen Bewusstseinswandel habe ich in einem zweijährigen Burn-out in der mystischen Tradition erfahren. Unsere Welt braucht beherzte Frauen und Männer, die kraftvoll-verwundet sein dürfen. Deshalb liebe ich die Umschreibung von Mystik von Friedrich Nietzsche (1844–1900): »Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich vereinen, entsteht Mystik.« Ich sehne mich nach einer Welt, die anders, zärtlicher und gerechter werden kann. Die immer stärker wird, ohne sich zu trennen von Momenten der Verzweiflung und Verlorenheit. Diese Überwindung eines dualistischen Denkens und Fühlens ist mir in meiner Lebenskrise mit 38 Jahren zugefallen. In den verzweifelten Stunden meines Lebens habe ich seitenweise in mein Tagebuch geschrieben: »Ich gehe zugrunde, ich halte es nicht mehr aus mit mir.« Dann fielen mir die Predigten des Dominikanermönchs Johannes Tauler (1300–1361) zu, eines Weggefährten von Meister Eckhart. Darin entdeckte ich die drei Worte in einer lebensbejahenden Deutung. Es kam mir vor, als ob Johannes Tauler mir persönlich sagte: »Ja, mach es doch endlich. Geh deiner panischen Angst vor Liebesentzug auf den Grund, geh deinem Helfersyndrom auf den Grund, geh deiner Überaktivität auf den Grund!« Tauler entfaltet eine Spiritualität des Karsamstags, eine Ermutigung hinabzusteigen in das Unbekannte. Das beharrliche Aushalten einer Krise ist besonders schwierig, wenn das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht in Sichtweite ist. Wahrnehmen, was ist ... mehr zu sein Ein spiritueller Mensch nimmt wahr, was ist, ohne es zu bewerten, um im Auf und Ab des Lebens eine göttliche Spur freizulegen. Im Gleichnis vom Unkraut und Weizen (Matthäusevangelium 13,24–30) zeigt uns Jesus auf, was uns wirklich wachsen und reifen lässt im Leben. »Lasst beides wachsen«, heißen jene befreienden Worte, die uns ermutigen, mit Wohlwollen das Schöne und das Dunkle unseres Lebens anzuschauen, weil es kein klinisch reines Wachstum gibt. Diese Grundhaltung dürfen wir dann ergänzen mit der zentralen Erinnerung, immer viel mehr zu sein, als was wir im Moment wahrnehmen. In einer verzweifelten Stunde meines Lebens haben sich folgende Worte in mein Tagebuch geschrieben: Was immer an Verwundungen sich in meinem Leben angehäuft hat Mag noch so Schreckliches passiert sein Ich will mein Leben nicht auf diese Verletzung reduzieren Ich bin mehr als all das und zu einem befreiten Leben gerufen – dank DIR * Jeden Tag habe ich die Möglichkeit, meine Opferrolle zu verlassen, indem ich nicht fixiert bleibe auf all das, was ich mir anders gewünscht hätte im Leben, sondern entdecke, was trotz vieler Begrenzungen an Wachstumsmöglichkeiten da ist. Nicht in Grenzen denken und fühlen, sondern in Möglichkeiten, das ist meine spirituelle Grundhaltung, in der ich täglich Ausschau halte nach guten Nachrichten und sie weitererzähle. Ich halte regelmäßig den Tag hindurch inne mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich atme tief ein und aus, und ich verbinde mich mit Jung und Alt, die jetzt in diesem Moment auf der ganzen Welt sich für Frieden in Gerechtigkeit einsetzen. * Tagebucheintrag vom 20. 7. 1999 in meinem Buch »Verwundet bin ich und aufgehoben. Für eine Spiritualität der Unvollkommenheit«, Kösel München 2003 – Penguin-Taschenbuch 2017, Seite 33.
15 zum 19. Jahrhundert. Heute wird es vornehmlich in der übertragenen, auf die Gesellschaft bezogenen Lesart verwendet. Pierre Stutz, Schweizer Theologe, spiritueller Autor vieler erfolgreicher Bücher, Ausbildung im Sozialtherapeutischen Rollenspiel, lebt in Osnabrück. ▶▶ www.pierrestutz.ch und aufgehoben End-lich sein dürfen Auferstandene sind wir, wenn wir unsere Wundmale nicht mehr verstecken, sondern sie als Kraftquelle entdecken. Die Begegnung des Apostels Thomas mit dem Auferstandenen (Johannesevangelium 20,19–28) zeigt mir archetypisch auf, dass wir gleichzeitig verwundet und aufgehoben sein können. Das ist eine der zentralsten seelsorgerlichen Botschaften des Evangeliums! Deshalb schreibe ich das Wort »end-lich« gerne mit einem Bindestrich, weil dadurch sein doppelter Sinn sichtbar wird: 1. Mein Urwunsch, einfach sein zu dürfen, anzukommen bei mir selbst, nicht im Hamsterrad der Schnelligkeit stecken zu bleiben, sondern achtsam-mitfühlend leben zu können. 2. Meine Sehnsucht, auch in meiner Endlichkeit angekommen und geliebt zu sein – im Leben und Sterben vertrauensvoll in das Göttliche hineingeboren zu werden. Spiritualität der Unvollkommenheit »Der Kern des menschlichen Daseins birgt ein Paradoxon in sich. Erst wenn der Mensch dies begreift, wird seine Seele Glück erfahren«, schreibt der US-amerikanische Mönch Thomas Merton (1915–1968). Je mehr er Christ geworden ist, desto mehr hat er das Verbindende mit dem Buddhismus gesucht. Je mehr er in die Stille eingetaucht ist, desto politischer wurde er. Mit dem buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh hat er sich für die Versöhnung der USA und Vietnam eingesetzt, was ihm auch harte Kritik vieler Zeitgenossen eingebracht hat. Dank seiner Biografie werde ich ermutigt, mich für Werte einzusetzen, dessen Früchte ich vielleicht nicht selbst ernten kann. Es bedeutet, mich von all den überfordernden »Glücksprogrammen« zu verabschieden. Glücklich werde ich, wenn ich jeden Tag auch unglücklich sein darf! Wer sich wie mein Lebensfreund aus Nazareth dem Leben liebend in die Arme wirft, der wird immer dankbar staunen können und zugleich schmerzvoll in den Grenzsituationen des Lebens die Hoffnung neu buchstabieren. Dass wir Gott brauchen, ist sonnenklar, doch Gott braucht auch uns, jede und jeden von uns. Sein Segen fließt durch uns, und wir werden nicht nur zum Segen füreinander, wenn alles rundläuft, sondern auch, wenn wir unsere Verletzlichkeit nicht mehr überspielen. In meiner Autobiografie »Wie ich der wurde, den ich mag« beschreibe ich auf der letzten Seite diese Hoffnung: Es ist nie zu spät Ja zu sagen zu durch-kreuzten Plänen Krisen als Wachstumschancen zu sehen Sich zu versöhnen mit seinem Weg JETZT Ist das ganze Leben vor mir. FRANZISKANER 3|2024 FLÜGEL © SAKA – STOCK.ADOBE.COM | PORTRÄT © JANNICK MAYNTZ
16 FRANZISKANER 3|2024 »Stigmatisation« als weitere Substantivierung des Verbs »stigmatisieren« ist bereits im 16. Jahrhundert verwendet worden. Andreas Brands: Laurentius, du bist bildender Künstler, als Bildhauer und Maler weit über die Grenzen der Region tätig und bekannt. Du versuchst, Menschen mit deiner Kunst zu konfrontieren und gewohnte Sichtweisen infrage zu stellen. Ich möchte mit dir über das Thema »Wunde« in deinen Kunstwerken sprechen. Es nimmt einen bedeutsamen Platz in deinen Werken ein. Doch vorab erst einmal die grundsätzliche Frage an dich: Welches Bild hast du vom Menschen? Laurentius Englisch: Der Mensch ist ein verletzlicher. Die größte Wunde im Leben des Menschen ist seine Erkenntnis der Kontingenz, der Endlichkeit, der Sterblichkeit. An dieser unverrückbaren Tatsache hat er zu knabbern – sein Leben lang. Auch wenn er versucht, die Gewissheit des Limits auszublenden. Hinzu kommen die Erfahrungen des Lebens in der eigenen kleinen und der großen Welt: Unser Leben ist unsicher. Jede und jeder hofft, durch viele Absicherungen dieser Unsicherheit zu begegnen. Doch was für das eigene persönliche Leben noch in gewisser Weise funktioniert, wird in den großen Weltzusammenhängen nicht mehr möglich. Du denkst an die großen Unsicherheiten, die durch Kriege, Aufrüstung, Klimawandel, Flüchtlingsströme in unsere Wohnzimmer kommen? Das sind Realitäten, mit denen wir konfrontiert sind. Und sie greifen nach unserem Leben. Die unsichere Welt stößt uns vom Sockel der Gewissheiten und des »Sich-eingerichtet-Habens« in eine große Verunsicherung. Alle diese Fragen landen gerade auf unseren Tischen, du hast sie ja schon aufgezählt. Der Mensch sucht Sicherheit und braucht Sicherheit, um zu handeln, und wenn sie nicht zur Verfügung steht oder wackelt, steht der Mensch kopf. Leben ohne Sicherheiten ist eine der größten Wunden, die der Mensch zu tragen hat. Was, denkst du, ist die größte Verunsicherung? Letztendlich ist es die Frage nach sich selbst. Wer bin ich? Was bin ich? Dazu das Grundempfinden: Ich bin hineingetaucht in den Tod und kann dem nicht ausweichen. Ob der Mensch dann glaubt, auch in die Auferstehung hineingenommen zu sein, das kann man ihm nicht aufdrücken. Das bleibt eine Glaubensfrage, die jeder Mensch für sich beantworten muss. Wenn du auf die heutige Welt schaust, was kommt dir in den Sinn? Dass wir uns selbst am meisten verwunden. Mit all dem Unversöhnten in uns, mit all den Unbarmherzigkeiten, die wir einander zufügen, mit all den Gräueln, die wir weltweit erleben. Wie ich schon sagte: Die Wunde des Menschen ist seine Verletzbarkeit. Beuys, bei dem ich studiert habe, hat das fordernd – oder einladend – so gesagt: Zeige deine Wunde! Du kannst sie nicht verstecken. Nur wenn du sie sichtbar machst, kann Heilung stattfinden. Was wir aus der Medizin wissen, gelingt uns aber im alltäglichen Leben oft nicht. Dann sind wir Meister des Versteckens. Oder nimm das Flüchtlingsthema: Jeder Mensch ist legitim. Wir alle sind nur Gast auf unserer Erde mit unserem mühevollen Leben, das einige Jahrzehnte dauert. Milliarden werden für Aufrüstung ausgegeben, um angeblich unsere Werte zu schützen. – Nach 2000 Jahren Christentum sollte nicht mehr Unterwerfung, sondern Barmherzigkeit das Leben leiten. Aber wir fürchten uns vor allem Fremden und grenzen deshalb Andersdenkende aus. Du hast dich mit der Geschichte von Franziskus, seinen Lebensbeschreibungen und der Legendenbildung auseinandergesetzt. Wie siehst du das Thema Wunde bei Franziskus verortet? Franziskus' Leben ist umrankt von Legenden und Mythen. Wir können sie nehmen und lesen, müssen uns aber immer wieder vor Augen halten, dass sie in der Gegenwart neu verstanden sein wollen, um für unser Leben Gültigkeit zu haben. Hier ist das Bild vom verwundeten Menschen, vom AussätziGespür für Im Gespräch: Laurentius Englisch OFM, Jahrgang 1939, lebt im Franziskanerkloster Vossenack (Eifel). Er ist katholischer Priester, Kunsterzieher und bildender Künstler (Grafik, Relief und Skulptur). Von 1970 bis 1975 studierte er an der Kunstakademie in Düsseldorf, u. a. als Meisterschüler bei Joseph Beuys und Beate Schiff.
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