Franziskaner Mission 1 | 2020

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ging als die »Reichskristallnacht« in die Geschichte ein. Es war die Zeit, als das Kreuz Haken bekam, und dieses Kreuz brachte die Hölle: Eingeschla- gene Fenster, zerfetzte Gardinen, Möbel wurden auf die Straße geworfen. SS-Leute trieben Juden barfuß durch Glassplitter. Die Synagoge in Dortmund-Hörde wurde in Brand gesteckt, die in Dortmund-Dorstfeld demoliert, die Große Syna- goge in der Stadt, wo heute das Stadttheater steht, wurde schon vorher halb abgerissen. Behinderte verschwanden über Nacht. Die Presse feierte das Ganze als »spontane Erhebung«. 1.039 Dortmun- der Juden starben in den folgenden Jahren in den Konzentrationslagern. Immer wieder kann man hören: »Was habe ich mit dem Holocaust zu tun? Ich war doch noch ein Kind.« Oder: »Ich lebte doch noch gar nicht. Irgendwann muss man unter dieses Kapitel doch mal einen Schlussstrich ziehen.« Aber genau das dürfen wir nicht. Für den Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel ist Erinnerung die Voraussetzung für Versöhnung. Man muss davon reden, weil es immer wieder neue »Sündenböcke« gibt: Mal sind es die Türken, die Schwarzen, die Schwulen, dann sind es die »Bullen«, die Hartz IV-Empfänger. Und nicht nur die! Ich denke an Journalisten, die eingeschüch- tert werden sollen. Ich denke an eine offizielle Anfrage der Rechten, vor längerer Zeit an den Rat unserer Stadt gerichtet, wie viele Juden in Dort- mund wohnten und wo. Spüren Sie die Provoka- tion? Ich denke an Bürgermeister, die aus Angst um ihre Familie ihr Amt aufgeben. An Politiker, die Morddrohungen bekommen, die auf Todeslisten stehen, wie in diesen Tagen Claudia Roth oder Cem Özdemir, der eine E-Mail erhielt, in der steht: »Zur Zeit sind wir am Planen, wie und wann wir Sie hinrichten. Vielleicht bei der nächsten öffentlichen Kundgebung.« Ich denke an den Hass aus tausend Kehlen, an Runenschriftzüge der Nazis, die erneut auf Bomberjacken und Plakaten erscheinen. Ich denke daran, dass »Du Jude!« auf Schulhöfen wieder ein Schimpfwort geworden ist. Von irgend- woher müssen die Kinder das ja haben. Noch deutlicher: Wenn ein Politiker aus der Führungsriege der AfD den Holocaust einen »Vogelschiss der Geschichte« nennt oder ein ande- rer das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden ein »Denkmal der Schande«, dann fragt man sich: Heißt das »Nie wieder!« damals 1945, als Deutsch- land in Schutt und Asche lag? Mit Scham und Reue gesprochen: Heißt dieses »Nie wieder!« noch nie wieder? All die vielen, die jüngst wieder, aus wel- chem Grund auch immer, die AfD gewählt haben, die man deswegen auch nicht alle automatisch als Rechtsradikale bezeichnen kann – das ist mir wich- tig zu sagen –, die müssten aber dennoch wissen, dass sie mit ihrer Stimme auch Politikern Macht geben, die in unserem Land nichts als Angst, Hass und Hetze verbreiten. Jom Kippur, das Fest der Versöhnung, das höchste Fest der Juden. 51 Menschen sind in der Synagoge von Halle. Hätte die Holztür nicht gehalten, es hätte ein unbeschreibliches Massaker gegeben! Es ist nicht übertrieben, von einer neuen Qualität rechtsradikaler Gewalt zu sprechen, von einer neuen Form des Terrorismus, begangen von vermeintlich »einsamen Wölfen«. In Wahrheit aber bilden diese Wölfe ein wachsendes, weltweit vernetztes Rudel. Einer dieser Wölfe macht sich selbstständig und erschießt den Kasseler Regie- rungspräsidenten Dr. Walter Lübcke auf dem Balkon seines Hauses. Das Alarmierende ist: So etwas hat einen Nährboden, bereitet sich unter der Decke vor nach dem Motto: »Nun übertreibt mal nicht! Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.« Es reicht ein Blick auf die Mitte unserer Gesellschaft: Im Fernsehen konnte man erfahren, 40 Prozent der Deutschen seien der Meinung, man rede zu viel über den Holocaust. TEXT: Werenfried Wessel ofm | FOTO: bondvit /stock.adobe.com Der 9. November ist für unser Volk ein markantes Datum. Vor dem Hintergrund immer neuer, erschreckender Anfeindungen gegenüber jüdischen Mitbürgerinnen und -bürgern und inspiriert durch zwei Beiträge (Der Spiegel, Nr. 42 / 12.10.2019, S.19 und Annette Behnken, ARD, Wort zum Sonntag, 21.9.2019) habe ich in zwei Dortmunder Kirchen, in St. Franziskus und Antonius sowie in St. Bonifatius, im November 2019 folgende Predigt gehalten. Bei der Veröffentlichung in dieser Ausgabe der »Franziskaner Mission« zum Thema Populismus wurde ganz bewusst der Predigtduktus beibehalten. Nie wieder? Zwischen Judenhass und Judenhetze 28

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