Franziskaner Mission 2 | 2020

Ich kann mich gerade noch unter ein Vordach retten vor dem eiskalten Regen hier auf 4.300 Metern Höhe, in der bolivianischen Millionenstadt El Alto. Es ist Regenzeit; Wasser trommelt auf Wellblechdächer unverputzter Bauten aus Beton und roten Ziegelsteinen; braune Sturzbäche rauschen die Erdstraße hinunter. Großstädten bis heute als Musterbeispie- le für Ineffizienz und Korruption. Strom statt Trinkwasser Um die Metropolenregion Cochabam- ba mit ihren 1,6 Millionen Einwohnern ordentlich mit Wasser zu versorgen, sei 30 Jahre lang der Misiguni-Staudamm gebaut worden, erzählt mir Wasser- experte Oscar Campanini. Der Damm aber diene fast ausschließlich der Stromproduktion. Nur die Hälfte der Cochabambi- nos erhalte überhaupt Leitungswasser, erfahre ich – bessergestellte Stadtviertel zwei Stunden pro Tag, andere zwei Stun- den pro Woche. Wohlhabende Haushalte verfügen über Tanks auf dem Dach, die sie füllen, wenn Wasser kommt. Die meisten Haushalte aber müs- sen Wasser von oft zweifelhafter Qualität aus Tankwagen kaufen. Dieses Wasser kostet im Schnitt zehnmal so viel wie Leitungswasser. Die Ärmsten zahlen also die bei weitem höchsten Wasserpreise. Im Schatten des öffentlichen Wasserwesens von Cochabamba haben sich, vor diesem Hintergrund, lokale Sys- teme der Selbsthilfe entwickelt. Solche Systeme versorgen inzwischen 30 Pro- zent der Bevölkerung und funktionieren oft erstaunlich effizient. Ein eher schlichtes Beispiel erlebe ich in Barrios Unidos, einem armen Wohnviertel im Süden Cochabambas, das vom öffentlichen Wasserwerk nicht versorgt wird. Mit Abdíos Torres, dem Leiter des örtlichen Wasserkomitees, besteige ich einen Hügel und erblicke auf sechs mal sechs Metern Grundfläche einen größtenteils unterirdischen Beton- tank, gesichert mit Stacheldraht. »Dies ist der Tank unseres Wasser- komitees«, erklärt Torres mit feierlichem TEXT UND FOTOS: Thomas Kruchem Und Elizabeth Aguilar, die in El Alto lebt, erzählt ausgerechnet jetzt von der Jahreswende 2016/17, als es in El Alto und La Paz, dem größten Ballungsraum Boliviens, zu einer bedrohlichen Wasser- krise kam. »Wir waren völlig verzweifelt, als es kein Wasser mehr gab – in unseren Häusern, in der Schule, im Kranken- haus.« Die Regierung habe schließlich Tankwagen geschickt. »Aber wir hatten keine Eimer, um das Wasser zu transpor- tieren.« In La Paz und El Alto leben fast zwei Millionen Menschen. Und jährlich kommen 50.000 Zuwanderer dazu: vor allem Bauern, die auf dem kargen Land des Altiplano keine Zukunft mehr sehen. 70 Prozent der Bolivianerinnen und Bolivianer leben inzwischen in den Städten. Das liegt nicht zuletzt am Klima- wandel. Der bringt der Region kürzere, heftigere Regenzeiten und längere Trockenperioden. Die Temperaturen steigen, die Andengletscher schmelzen; in den Flüssen, die sie speisen, schwankt der Wasserspiegel dramatisch. Und so schwebt das Damoklesschwert wieder- kehrenden Wassermangels über La Paz und El Alto, desgleichen über der etwas tiefer gelegenen Großstadt Cochabamba. Selbsthilfe-Tradition Doch es gibt auch Licht am Horizont: Die von der jüngsten Wasserkrise wachgerüttelten Behörden stellen sich allmählich der lange ignorierten Wasserfrage. Deutlich entschlossener aber handeln viele der zumeist indige- nen Bewohnerinnen und Bewohner der Hochlandstädte. Die haben sich längst auf ihre Tradition besonnen, gemeinsa- me Probleme auch gemeinsam zu lösen. Sie stellen auf eigene Faust kommunale Wasserversorgungen auf die Beine und passen sich so dem Klimawandel an. In Cochabamba, 400 Kilometer südöstlich von La Paz, treffe ich Oscar Campanini, einen jungen Wasserexper- ten, der für einen think tanks namens »CEDIB« arbeitet. Campanini beschul- digt sämtliche Regierungen der letzten Jahrzehnte, die Wasserversorgung der städtischen Bevölkerung völlig vernach- lässigt zu haben. Sie hätten es vor allem versäumt, neue Staubecken zu bauen, die Gletscher- und Regenwasser für den rasant wachsenden Bedarf in La Paz und El Alto speichern, klagt Campanini. In den Städten selbst gehe fast die Hälfte des Trinkwassers in uralten Leitungsnet- zen verloren; Industrie- und Haushalts- abwasser würden meist ungeklärt in die Flüsse geleitet. Aus denen wiederum bewässerten Bauern Gemüse und Obst, die auf den Märkten der Städte landen. In den 1990er Jahren privati- sierte Bolivien – unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank – die Wasserversorgung gro- ßer Städte. Drastische Preiserhöhungen waren die Folge. Und in Cochabamba kam es zum heute legendären »guerra de agua«, zum Wasserkrieg. Eine halbe Million Menschen demonstrierte gegen die Privatisierung des Wassers, das für sie ein Geschenk der Natur und ein Menschenrecht verkörperte. Es kam zu Generalstreiks, zu Straßenblockaden; Coca-Bauern unter dem damaligen Kongressabgeordneten Evo Morales schlossen sich dem Protest an. Schließlich wurde die Privatisie- rung des Wasserwesens in Cochabamba zurückgenommen, einige Jahre später auch in La Paz und El Alto. Trotzdem gelten die Wasserbehörden und öffent- lichen Wasserunternehmen in Boliviens Selbsthilfe unter Stadtbewohnern Wasserversorgung in Bolivien 20

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