Franziskaner Mission 3 | 2020

Ungleichheiten Sorgen der Franziskaner in Bolivien Soziale Isolation, Quarantäne, Ausgangssperren und massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens haben uns vollkommen unvorbereitet getroffen. Wir sind ratlos und uns ist unsere Verletzlichkeit plötzlich sehr bewusst geworden. Die Corona-Pandemie hat die Anfällig- keit unserer Sozialsysteme aufgedeckt. Gesundheitsversorgung, Ernährung, Sicherheit, Beschäftigung – das bisherige Flickwerk in Bolivien kommt nun umso deutlicher zutage. Verzweiflung Die globale Pandemie hat die bereits enormen sozialen Ungleichheiten weiter verschärft. In Lateinamerika ist zu sehen, dass Ungleichheit im wahrsten Sinne des Wortes tötet. Denn die Ärmsten haben keinen ausreichenden Zugang zu dem sowieso in Bolivien unzureichen- den Gesundheitssystem. Zudem leiden sie besonders unter den wirtschaftlichen Folgen der Quarantäne. Die auferleg- ten Regeln nehmen den Menschen die Möglichkeit, Lebensmittel zu verkaufen, als Schuhputzer zu arbeiten oder einen Fahrservice anzubieten. Darüber hinaus haben Entschei- dungen zur Eindämmung des Virus auch andere negative Nebenwirkungen: Zum Beispiel gibt es durch die Schlie- ßung von Schulen keine kostenlosen Schulmahlzeiten für Kinder mehr, die häufig ihre einzige vernünftige Mahlzeit am Tag darstellt. Steigende Lebens- mittelpreise infolge der sinkenden Landeswährung und Hamsterkäufe ver- ursachen weitere Probleme. Durch die Corona-Krise wird Armut zu extremer Armut und extreme Armut zur hoff- nungslosen Verzweiflung. In den kommenden Monaten werden die Spannungen zunehmen. Wenn es keine sozialen Maßnahmen gibt, um den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden, sind Plünderungen, politische Instabilität und weitere Anzeichen einer sozialen Krise zu erwarten. Die öffentli- che Ordnung ist in Gefahr. Wir alle hier haben Sorge, dass bei den wichtigen Bemühungen zur Bekämpfung des Virus die Schwächsten geopfert werden. Direkte Hilfe Die Corona-Krise stellt auch uns Franzis- kaner vor eine große Aufgabe. Unsere erste und wichtigste Reaktion auf die aktuelle Notsituation bestand darin, Menschen in Not sofort eine direkte und gezielte Sozialhilfe zu garantieren. Zu- mindest sollen die Bedürftigen mit den wichtigsten Nahrungsmitteln versorgt werden. Dies kann jedoch nur der erste Schritt sein. Als Ausbildungsleiter ist es mir wichtig, die sogenannte Option für die Armen den jungen Brüdern zu vermitteln. Welche Lehren können wir aus dieser ganzen Situation ziehen? Der polnische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman (1925–2017) verweist in seinem 2009 erschienenen Buch »Gemeinschaften« auf die Entwicklung des Zusammenlebens in der Postmoder- ne. Heute sehen wir, dass wir mehr denn je voneinander abhängig sind und dass wir zum ersten Mal in der Geschichte eine Menschheit sind. Wir sind mitein- ander verbunden. Alles, was in einem Teil der Welt passiert, hat Auswirkungen auf den Rest des Planeten – obwohl wir erkennen, dass wir in vielen Fällen nicht wissen werden, wie diese Auswirkungen sind und wann sie auftreten. Corona ist eine Lektion, die uns hilft, uns wie eine große Menschheitsfa- milie zu fühlen. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir in einer vollständig vernetz- ten Welt leben. Nicht nur für Priester und Theo- logiestudenten ist in dieser Situation vor allem ein Gottesbild hilfreich: Gott ist die Liebe! Das Gottesbild wirft eine Reihe von Fragen auf. Welche Aktivität, Arbeit oder Lehre ist damit verbunden? Welche Folgen ergeben sich aus dem Verhalten von Menschen? Wenn ein Gläubiger sagt, dass Corona eine Strafe Gottes für die Sünden der Welt sei, dann hat er nicht den liebenden Gott, sondern den strafenden, richtenden Gott vor Augen. Unser Ziel ist eine Gemeinschaft verantwortungsbewusster Mitglieder, die solidarisch und liebevoll handeln, insbesondere gegenüber den Armen und Ausgegrenzten. Genau darauf richten wir die Ausbildung der jungen Franziskaner- brüder. Lesen Sie selbst auf der folgenden Doppelseite, welche Ängste, aber auch Hoffnungen die augenblickliche Situation in unseren Junioren auslöst … TEXT UND ZITATSAMMLUNG: Kasper Mariusz Kaprón ofm | FOTOS: Provincia Misionera San Antonio en Bolivia Vor der Suppenküche der Franziskaner: Die Schlange geht um den ganzen Block. 13

RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=